Leben und Tod waren auf dem Markt allgegenwärtig. Um die kleine Kirche
San Angelo in Pescheria, wenige Straßen nördlich der Tiberinsel, wurden
kreisrunde Bastmatten die ganze Nacht hindurch mit Fackeln beleuchtet,
so daß die darauf ausgelegten Fische und Krebse
den Eindruck erweckten, als würden sie noch immer nach Luft schnappen
und im Todeskampf zappeln. Nerina lehnte sich gegen eine Säule und
musterte die Menschen, die sich mitten in dieser ungewöhnlich warmen
Februarnacht die besten Stücke aus dem Tiberfang suchten. Ihr zur Linken
lehnte ein Mann gegen eines der hölzernen Fässer, in denen noch lebende
Tiere schwammen und gierig Luftblasen schluckten. Unverhohlen sah er sie
an, doch als er gewahr wurde, daß sie ihn beobachtete, drehte er sich
langsam weg, als wolle er dem günstigen Angebot eines der Fischer
folgen. Nerina hätte ihn nicht beachtet, wenn ihr Gefühl sie nicht
gewarnt hätte. Hatte sie den Mann heute nicht schon einmal vor Micheles
Atelier bemerkt. Da sein Gesicht im Fackelschein aber nur unzureichend
auszumachen war, konnte sie sich auch irren. An das zerzauste dunkle
Haar mit der kreisrunden Glatze am Hinterkopf glaubte sie sich jedoch zu
erinnern. Sie schüttelte den Kopf über ihre verqueren Gedanken.
Trotzdem beschloß Nerina, vorsichtig zu sein. Sie schlängelte sich
wieder durch die Auslagen, vorbei an den Fischersfrauen, die lautstark
ihre Waren priesen. Sie mochte diesen Geruch nach Feuchtigkeit und
Leben, nach dem langsam fließenden Wasser des Tibers. Sie mochte das
Treiben, das mitten in der Nacht auf dem Markt herrschte, als würde dort
das Herz der Stadt schlagen, fortwährend, in einem gleichmäßigen,
starken Takt, und Menschenleiber durch die Straßen und Gassen pumpen.
Hier kaufte man den frischesten Fisch Roms, hier holte man sich, was zu
Mittag oder zu Abend gegessen wurde. Hier traf sich, wen die Stadt
übrigließ, Huren
und Bettler, Freier und Fremde, Nachtschwärmer und Frühaufsteher. Um das
offene Feuer der Bratereien sammelte sich das Volk der Nacht, das sich
tagsüber vor der Hitze in die dunklen Winkel der Stadt zurückzog, um
hier mit einem Schluck Wein die letzte Mahlzeit des Tages oder das erste
Frühstück zu sich zu nehmen.
Nerina ließ ihren Blick über das Gewühl schweifen. Quer über den Platz
hin und in Richtung Corso und Porto di Ripetta schwankte eine Sänfte,
die vermutlich einen Adligen beherbergte, der sich zu so früher Stunde
nach Hause tragen ließ. Sie erkannte das herzogliche Wappen der Gonzagas
auf den schwarz glänzenden Türverschlägen. Die Vorhänge waren zugezogen,
aber ein hagerer Begleiter in einer dunklen Livree mit langen schwarzen
Haaren, der neben der Sänfte einherging und immer wieder in einen kurzen
Trab fallen mußte, um Schritt zu halten, sprach in einem fort auf den
Unbekannten in dem schwarzen Kasten ein. Nerina vermutete, daß es die
Aufgabe des Mannes war, den Adligen, vielleicht auch den Kardinal,
der sich hinter den Vorhängen verbarg, zu unterhalten. Sie mußte
schmunzeln. Der fortwährend ins Leere gestikulierende und vor sich hin
brabbelnde Kerl wirkte gar zu lächerlich.
Fast hätte Nerina aufgeschrien, als sie plötzlich angesprochen wurde.
Der Mann stand so, daß sie sein Gesicht gegen das Fackellicht nicht
richtig erkennen konnte. Umrahmt wurde es ohnehin von einem starken
Bart.
"Fisch, Signorina Nerina? Frisch aus dem Tiber. Mit Kopf!"
Erleichtert atmete Nerina auf, als sie die Stimme des Fischers Bernardo
erkannte.
"Si, Bernardo! Für zwei Personen. Nicht zu groß, damit der Kopf nicht
beten muß!"
Bernardo lachte. Sie spielten auf den Marmortisch in der Nähe an, auf
dem alle gekauften Fische gemessen werden mußten. Ragte der Fisch über
die Marmorplatte hinaus, war der Kopf als Steuer an den Marktaufseher
abzugeben. Jeder wußte, daß er in die Suppentöpfe des Vatikans wanderte
und dem Heiligen Vater serviert wurde.
Sie deutete auf einen der Fische, dessen silbriger Rücken im Schein der
Fackeln rötlich glänzte. Mit einem geschickten Hieb seines Hakens holte
der Fischer ihn aus dem Wasser, legte ihn auf seine Theke und versetzte
ihm einen Schlag auf den Kopf, bis er aufhörte zu zappeln.
(Aus "Das Vermächtnis des Caravaggio" Peter Dempf.)
Er lebt wie eine Kerze, die
von zwei Seiten brennt. Michelangelo
Merisi, genannt Caravaggio, akzeptiert keine Grenzen, er ist in
allem maßlos: Seine Genusssucht zerstört seine Gesundheit, seine
aufbrausende Gewalttätigkeit bringt ihn immer wieder in den Kerker,
seine Bilder machten ihn beim einfachen Volk zum populärsten Maler des
frühen siebzehnten Jahrhunderts - und zum gehassten Ketzer für den
Vatikan. Nur einige wenige Freunde sind ihm in seinen letzten
Lebensjahren geblieben, darunter die junge Malerin Nerina, die
Hintergründe für ihn malt und ihn immer wieder vor dem Zugriff seiner
päpstlichen Häscher rettet. Als die beiden in hektischer Flucht von Rom über Neapel
nach Malta
reisen, wird für Nerina immer klarer, dass es in der Vergangenheit des
Malers ein Ereignis gab, das ihm die Todfeindschaft eines Mannes
eintrug, der sich nicht abschütteln lässt. Um seinen möglichen Mörder
vor der Nachwelt anzuklagen, bannt Caravaggio dessen Konterfei auf sein
Gemälde "Das Haupt des Johannes" und übergibt das Bild Nerina. Nun ist
auch deren Leben in Gefahr.
Peter Dempf hat aus den letzten Lebensjahren Caravaggios einen
Kunstkrimi geformt, der mit Detailgenauigkeit den untergründigen
Bedingungen für die Entstehung seiner ungeheuerlichen Kunstwerke
nachspürt. Lebensprall, voller Farben und Gerüche, Intrigen, Lastern und
faszinierenden Figuren entsteht die Epoche Caravaggios vor den Augen des
Lesers.
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