Von der Diät
Wer gesund sein will, muss
nach natürlicherweise warmen Speisen natürlicherweise kalte geniessen,
nach kalten warme, nach trockenen feuchte, nach feuchten trockene -
gekochte oder ungekochte ... damit sie sich gut miteinander vermischen
... Wenn man verschiedenartiges Fleisch und übermässig warme und
auserlesene Speisen durcheinander zu sich nimmt, erregt ihr Saft das
Mark so stürmisch, dass es wollüstig wird.
Darum soll man nur einfach gewürztes und mässig gekochtes Fleisch
geniessen, nicht zu warmes, auserlesen mit allen möglichen Zuthaten
bereitetes und scharf gewürztes ... So vernichtet auch starker,
köstlicher Wein die Kraft der Blase des Menschen, so dass sie seinem
Mark nicht den gehörigen Lebenssaft zu schaffen vermag ... Wer den
trinken will, muss ihn zuvor mit Wasser
mischen ..., auch den sogenannten Ungarwein
... Ueberhaupt soll man jede Speise und jeden
Trank anständig und in Maassen zu sich nehmen ... Ist man gesund,
muss man sich in angegebener Weise beim Essen und Trinken in Acht
nehmen, um gesund zu bleiben; ist man leidend, möge man sich durch
Fleischgenuss mässig und vorsichtig stärken, aber auch dann nur
verdünnten Wein trinken.
- Wenn einer zu fettes Fleisch oder andere zu fette Speisen ...
geniesst, ist ihm dies mehr schädlich als nützlich ... Ist Jemand dürr
an Gliedern und Körper, so möge er fettes Fleisch ... essen ... Bier
macht dick und verleiht vermöge der Kraft des Getreidesaftes dem Antlitz
eine schöne Farbe. Wasser schwächt und verursacht einem Schwächlichen
Eiter an der Lunge ... Trinkt aber ein gesunder Mensch bisweilen Wasser,
so wird ihm dies nichts schaden ...
Wenn ein Mensch sich
selbst zum Erbrechen zwingt oder irgend ein Gewürz nimmt, wodurch
er das Erbrechen hervorruft, das ist ihm nicht gesund und heilsam ...
Erbrechen, welches von selbst kommt, ist besser, als das durch irgend
ein Mittel hervorgerufene.
(von
Hildegard
von Bingen; "Die
Schrift der Aebtissin Hildegard
über Ursachen und Behandlung der Krankheiten"
übersetzt von Dr. phil. Paul Kaiser.
Therapeutische Monatsheft, 16. Jahrgang, Juni 1902, Berlin.)