Es muß eine seltsame Nacht gewesen sein. Der
zweiundzwanzigjährige Rittmeister Stephan Széchenyi bezeichnete sie in
einem Brief an die Eltern als eine der schlimmsten seines Lebens,
wiewohl sie doch glücklich ausging. Datiert ist das Schreiben, aus dem
wir das nächtliche Abenteuer des jungen Offiziers kennen, aus Troyes am
10. Februar 1814. Die Heere der Verbündeten drängten zu der Zeit die
geschwächten, aber zu Gegenschlägen immer noch fähigen Armeen Napoleons
in Richtung Paris zurück, und mit der österreichischen Streitmacht des
Fürsten Carl Schwarzenberg erreichte in den Wintermonaten auch dessen
Ordonnanzoffizier Széchenyi die Champagne.
Der Rittmeister blickte trotz seiner Jugend bereits auf fünf beim
Militär verbrachte Jahre zurück. Er hatte nicht nur Pulver gerochen,
sondern gegen die Franzosen auch Nahkämpfe bestanden und dabei Wunden
empfangen. Ebenso lag schon manch ein mit Bravour erfüllter
Kurierauftrag hinter ihm; vor allem von seiner Mission am Vorabend der Völkerschlacht
von Leipzig soll noch die Rede sein. Die Geschichte der Nacht vom
9. auf den 10. Februar 1814, wie sie Széchenyi erlebt und geschildert
hat, ist nicht von militärischem Belang. Bedeutung hat vielmehr das
Persönliche: Charakterzüge und Denkmuster, wie sie in diesem frühen
Brief Széchenyis mit seltener Deutlichkeit zum Ausdruck kommen. In
gedrängter Form manifestiert sich hier bereits das Rätselhafte des
späteren Staatsmanns, all das Geheimnisvolle, das Ungarns
Geschichtsschreibung seit Generationen als eine Herausforderung
empfindet.
Stephans Brief nach Hause, dies zum ersten, ist deutsch geschrieben. Der
Sohn ungarischer Aristokraten mit dem so schwierigen magyarischen Namen
- die Aussprache nach deutscher Rechtschreibung wäre etwa "Setschenji" -
führte die Korrespondenz mit den Eltern in deutscher Sprache (manchmal
reicherte er die Texte mit französischen Sätzen an); in seinem Tagebuch
hielt er es ebenso. Deutsch blieb die Sprache der Tagebücher selbst nach
dem großen Entschluß Mitte der zwanziger Jahre, sich der Laufbahn eines
ungarischen Politikers zu verschreiben.
Sodann aber: Das von Széchenyi geschriebene Deutsch eignet sich dazu,
Puristen das Fürchten zu lehren. Gewiß, der Graf beherrschte das
Deutsche auf muttersprachlichem Niveau; er drückte sich auf deutsch am
leichtesten aus; über feste Wendungen und bildhafte Vergleiche verfügte
er vor allem in dieser Sprache. Was er schrieb und wohl auch sprach, war
indessen ein Wienerisch, das einer seiner Biographen zu Recht als
verwaschen bezeichnete. Wer will, kann bei der Lektüre seiner Texte
amüsiert auch die mit französischen Vokabeln und dialektalen Formen
durchsetzte Sprache entdecken, die Hofmannsthal, sprachhistorisch
getreu, im "Rosenkavalier"
den Standspersonen der Zeit Maria
Theresias in den Mund gelegt hat. Zumindest in seinen privaten
Aufzeichnungen, in welche keine wohltuend korrigierende Hand eines
Sekretärs eingriff, machte es Széchenyi nichts aus, "er rathete uns" zu
schreiben, und mit den grammatikalischen Fällen, so dem Unterschied
zwischen "ihn" und "ihm", stand er ganz und gar auf Kriegsfuß. Den Namen
seines geliebten Heimatlandes schrieb er abwechselnd "Ungarn", "Ungern",
"Hungarn" und sogar "Hungern". Széchenyi, in fünf Sprachen zu Hause - er
sprach, las und schrieb neben dem Deutschen Ungarisch, Französisch,
Englisch und Italienisch-–, blieb in jeder Grammatik unsicher, sich aber
dieses Mangels auch bewußt. Merkmale eines weitgreifenden, europäischen
Geistes, der freilich seinen Ausbildungsweg wegen des hereinbrechenden
Kriegs und der früh eingeschlagenen Militärlaufbahn auf höherer Stufe
nicht hatte fortsetzen können.
Deutsche Sprache, deutsche Bildung. Der nächtliche Ritt in der Umgebung
von Troyes - denn darum handelte es sich, um den beinahe tödlich
ausgehenden Versuch, als Kurier einen Auftrag zu erfüllen - schien in
einem unwegsamen Sumpfgebiet sein vorzeitiges Ende zu finden: Széchenyi
und sein Pferd steckten im Morast fest. Nach dem Zeugnis seines Briefes
kamen dem Rittmeister in dieser verzweifelten Lage Jugendlektüren in den
Sinn: Robinson auf seiner Insel, den er in der Kindheit komisch gefunden
hatte, dessen Einsamkeit er aber jetzt voller Mitleid mit dem eigenen
Los verglich, und dann Schillers "Taucher". Er zitiert die Ballade,
zitiert sie aus dem Kopf und ungenau - "In der schrecklichen Einöde von
der menschlichen Hülfe so weit" -; einer der ersten Gedanken und sein
nächster Bezugspunkt sind aber jedenfalls Elemente aus dem Gedicht des
Klassikers, der um diese Zeit in deutschsprachigen Ländern bereits
Gemeingut der Gebildeten ist. Schiller und Goethe
blieben denn auch für Széchenyi in all den folgenden Jahrzehnten
gegenwärtig. Er, der gern an schicksalhafte Mächte und Fügungen glaubte,
erkannte im Drama "Die Braut von Messina" vorab Ähnlichkeiten mit seinem
Leben, und immer wieder beschwor er "Die
Kraniche des Ibykus", wenn er sich, was oft geschah, schon auf
Erden von rächenden Geistern eingeholt wähnte.
Und nun der Verlauf des Abenteuers in der Winternacht, wie es Széchenyi
den Eltern am nächsten Tag - bereits aus der Geborgenheit einer
geheizten Stube und mit der soldatischen Keckheit seiner zweiundzwanzig
Jahre - beschrieben hat. Der Rittmeister, der in den Wochen zuvor unter
anderem damit betraut worden war, die Verbindung zwischen Schwarzenberg
und dem preußischen Oberbefehlshaber Blücher aufrechtzuerhalten, und der
zahlreiche lange und erschöpfende Ritte im süddeutschen und elsässischen
Raum hinter sich hatte, fühlte sich am Abend des 9. Februar krank. Er
legte sich in seinem Quartier nieder, nur von dem einzigen Wunsch
erfüllt, schlafen zu dürfen. "Ein unsanfter Corporal weckte mich." Er
überbrachte Széchenyi den Befehl, zu den Vorposten zu reiten und dem
Feldmarschall rasch Nachricht über die Stellung des Feindes zu bringen.
Der Gedanke ging da Széchenyi durch den Kopf, daß ihm die Quittierung
des Dienstes "diese Promenade" hätte ersparen können. Er sollte die
gleiche Überlegung noch unzählige Male anstellen, die Armee jedoch erst
zwölf Jahre später wirklich verlassen. Jetzt galt es zu gehorchen, "und
mit Schaudern sah ich in die dunkle Nacht, und unlenkbar, unaufhaltsam
wie das Schicksal gingen im Traume meine Begebenheiten mir vor - es war
mir so, als ob die Sonne meines Lebens sich zum Untergange geschwinder
neigen wollte [...]."
Traum, Schicksal, Untergang - die Wörter und die Stimmungen, die sie
kennzeichnen, kehren in den Bekenntnissen, welche die Tagebücher des
reifen Széchenyi festhalten, zu allen Zeiten wieder; sie sind
Grundmotive seines Lebensgefühls. In der harten Realität jener Nacht
lagen die Dinge indessen so, daß der junge Offizier, jäh aus dem ersten
Schlaf geholt und ohne Instruktionen auf die Reise geschickt, keinerlei
Ortskenntnisse besaß und nicht wußte, welche Richtung er einschlagen
sollte. So schwang er sich auf das Pferd und überließ sich, wie er
schreibt, dem Zufall. Der Ritt ging durch ein vom Krieg verwüstetes und
menschenleeres Dorf, wo sich niemand fand, der Auskunft hätte geben
können. Széchenyi durchquerte Wälder und Wiesen und landete schließlich
in dem unwegsamen Sumpfgebiet. Die Verzweiflung, die ihn hier überkam,
hatte nicht das eigene Geschick zur Ursache. Sie nährte sich vielmehr -
seine Schilderung tönt glaubwürdig - aus der Erkenntnis, daß er nicht
imstande war, seine Pflicht zu erfüllen. Die Vorstellung plagte ihn,
welche fatalen Folgen sein Versagen für die Kriegführung haben werde.
Von Furien verfolgt, wie er halb dramatisierend und halb ironisch
schreibt, rief er die Vorsehung an und erwartete sein "seliges Ende".
Die Fähigkeit, sich selbst gegenüber ironische Distanz zu wahren,
verblaßte mit vorrückendem Alter, wiewohl sein Humor, von einer
ehrfürchtigen Nachwelt zumeist verkannt oder übersehen, ihm nie abhanden
kam und selbst in den dunkelsten Zeiten gelegentlich aufblitzte. Auch
die schützende Vorsehung beschwor er im weiteren Leben oft auf ähnliche
Art wie im Sumpf bei Troyes. Die Furien freilich vermehrten sich in den
späten Jahren bedenklich und suchten ihn immer häufiger heim.
Die selbstquälerischen Gedanken des im Sumpf steckengebliebenen
Ordonnanzoffiziers über verhängnisvolle "Verspätungen und
Verabsäumungen", die sein unerfüllter Auftrag zeitigen werde,
signalisieren einen weiteren Grundzug, der die Natur des reifen
Széchenyi beherrschen sollte: Der Graf, ein Mann des Willens und in noch
größerem Maß der Beharrlichkeit, war gewohnt, Hindernisse unter allen
Umständen zu meistern und das Vorgenommene am Ende doch zu erreichen.
Der Erfolg galt als sein Element. Niederlagen trafen ihn, er verwand sie
schlecht. Das Scheitern, mochte es auch um öffentliche Dinge gehen,
empfand er in nervöser Überempfindlichkeit stets als einen gegen ihn
selber gerichteten, persönlichen Schlag, der geradezu seine
Existenzberechtigung in Frage stellte.
So auch beim frühen Erlebnis im Februar 1814: "Mir wurde immer heißer,
die Ideen, die mannigfaltigsten, jagten sich in meinem Gehirn. Die
letzte war die beste, 'ich wollte mich erschießen'." Es ist der junge
Széchenyi selbst, der in seinem Brief an Vater und Mutter die Worte über
die Selbstmordabsicht mit Anführungszeichen hervorhebt und dazu noch
unterstreicht. Was in der Geschichte der Nacht folgte, erscheint nur
noch in der scherzhaften Brechung, aus der sicheren Perspektive des
nächsten Tages: "Es fiel mir ein, ich habe ja Pistolen - ich griff mutig
nach der einen", doch gab er dann - "und da, seligster Augenblick,
wähnte ich mich auf einem Kriegsschiff" - bloß einen Notschuß ab. Der
Knall hatte zum einen zur Folge, daß das erschrockene Pferd ausschlug
und sein Reiter nach dem Willen des - hier zum ersten Mal und bloß
ironisch erwähnten - Allmächtigen "mit dem Gesicht in die Teichsuppe"
fiel. Zum anderen aber bewirkte der Schuß das Erscheinen von drei
magyarischen Husaren: "durch deren Hülfe, denen ich alsogleich eine
ungarische Anrede hielt, ward mein Roman zu Ende."
Begrüßung und Dank auf ungarisch gehören mit zum Schluß dieses "Romans",
auch sie markieren Bedeutendes: Das Kind Stephan Széchenyi hatte zu
Hause früh Ungarisch gelernt, und er war ungarisch erzogen worden.
Gewandtheit in der Sprache, die er als angehender Politiker später neu
studieren sollte, erlangte er aber nicht, diente er doch vom siebzehnten
Lebensjahr an unter der kaiserlichen Fahne. Die ungarische Anrede an die
engeren Landsleute, an die mit gezücktem Säbel herbeisprengenden
Joseph-Husaren, ist indessen ein Beleg dafür, daß sich Széchenyi in den
Jahren des österreichischen Kriegsdienstes seines Ungartums bewußt
blieb. Er mochte es als eine Besonderheit, als ein Merkmal andersartigen
Herkommens auffassen; eine feste innere Bindung an das ihm noch
unbekannte Ungarn empfand er zu der Zeit noch nicht. Der gut zehn Jahre
später getroffene Entscheid, sich Ungarn zuzuwenden und fortan für
dieses Land zu leben, hat trotzdem seine in die Kindheit zurückreichende
Vorgeschichte.
Wie Stephans Eltern den Bericht vom Selbstmordgedanken des Sohnes
aufnahmen, wissen wir nicht. Der gemütliche Ton, in dem ihr Stephan den
Rückblick auf das ihm Widerfahrene beendete, mochte den Schrecken
mildern: "Der Feind war ganz abgezogen, ich sammelte alle Rapporte, und
beim Erwachen des Fürsten war ich auch schon wieder da. Seine
Zufriedenheit lohnte mich - und was noch mehr? Mein gänzlich
Wohlbefinden. Gestern war ich krank, hielt Todesangst aus, und nun kann
ich kaum erwarten, einen 14-jährigen Hahn, den meine Hausfrau eben für
mich umbringt, rein aufzuessen." Ende gut, alles gut. Der nachgeborene
Leser von Széchenyis Tagebüchern weiß indessen, daß Gedanken an den Selbstmord
in den Aufzeichnungen des Grafen in allen Epochen seines Lebens mit
manischer Hartnäckigkeit wiederkehren. Der Ausruf "Pistole!" ist
geradezu eine stehende Kurzformel, die in Stunden der Verzweiflung
seinen Selbstmordwunsch ausdrückt. Und es war denn auch die Pistole, mit
der er 1860 seinem Leben durch eigene Hand ein Ende setzte.
Der Graf, auch dies verrät der 1814 verfaßte Brief bereits, war eine
Kämpfernatur; über Härte und Strapazierfähigkeit verfügte er in einem
Grad, der alle Vorstellungen vom verweichlichten Aristokraten Lügen
straft. In der Tat, Széchenyi scheute zeit seines Lebens keine
körperlichen Mühen, doch galt er - und auch dies erwies sich wiederholt
- nicht als ein Mann, der Krisen mit kühlem Kopf zu bestehen verstand.
Ist dieser Charakterzug, die seelische Labilität der suizidgefährdeten
Persönlichkeit, in dem frühen Brief bereits angedeutet, so wiegt ein
weiteres, hier ebenso schon auftauchendes Motiv zwar minder schwer, es
begleitete und belastete aber Széchenyi als Grundempfinden ein Leben
lang auf gleiche Weise: die Krankheit. Tatsächliche und vermeintliche
Leiden plagten den Grafen ohne Unterlaß, und er selber amtete in seinem
Tagebuch als ein getreuer, manchmal auch mit peinlichen Einzelheiten
aufwartender Chronist der eigenen Gesundheit. Als ein eingebildeter
Kranker läßt sich der Graf allerdings nicht abtun. Die Ärzte, die ihn zu
Lebzeiten pflegten, und Mediziner nachfolgender Generationen, die im
historischen Rückblick seine Krankheitsgeschichten zu deuten suchten,
zeigten sich über den Hauptbefund einig: Széchenyis Körper war
tatsächlich vielfach angegriffen. Indessen: Der Graf, der nicht müde
wurde, sich über seine Gebrechlichkeit zu beklagen, erregte in seiner
Heimat als Sportsmann Aufsehen. Er ritt und schwamm, war ein Liebhaber
des Ballspiels, er ruderte, fuhr Schlittschuh, bestieg Berge und
unternahm weite Fußmärsche - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
noch ein seltenes und seltsames Tun. Sodann sind bei Széchenyi
physisches Leiden und Stimmung nicht voneinander zu trennen. Er selbst
war sich darüber im klaren: "Es ist eine Seelenkrankheit", so etwa
stellte er sich inmitten einer langwierigen Leidensgeschichte selber die
Diagnose. Daß er darniederlag und durch Erfolg oder gute Nachricht
gleich wieder genas, wie in Troyes geschehen, kam immer wieder vor. Das
Gegenteil ebenso: daß Mißerfolg, ob politisch oder persönlich, seinen
Organismus heftig in Mitleidenschaft zog.
Daß Graf Stephan Széchenyi einer jener komplizierten Menschen war, die
sich laut dem Verdikt des Briten Thomas Edward Lawrence zum Objekt einer
einfachen Biographie schlecht eignen, mag schon aus dem frühen, in
Troyes datierten Brief hervorgehen. Die Wirklichkeit seines Lebens war
noch um einiges schwieriger, vielschichtiger.
(Aus "Graf Stephan Széchenyi. Der Mann, der Ungarn schuf" von Andreas Oplatka.)
Aristokrat, Aufklärer und
Romantiker, Weltreisender und Großgrundbesitzer, Offizier in der
habsburgischen Armee, Gründer der ungarischen Akademie der
Wissenschaften, Förderer der ersten Eisenbahnen und Initiator der Brücke
zwischen Buda und Pest - Stephan Széchenyi (1791 bis 1860) war ein Mann
des 19.
Jahrhunderts und dachte doch weit über seine Zeit hinaus. Dank
seinem Unternehmungsgeist und seiner Tatkraft entstand ein neues,
modernes Ungarn.
Exzellent geschrieben, bietet Andreas Oplatkas Biografie das Bild einer
überragenden Persönlichkeit und zugleich das Panorama einer ganze
Epoche. (Zsolnay)
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