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Dann, als man gegen Mittag in der Station eintraf, wurden Vorbereitungen zum Mittagessen getroffen, und die Mannschaft des Transports konnte inzwischen in das öffentliche Geheimnis Einblick nehmen, wie die Behörden nach Abzug der Russen mit der Ortsbevölkerung verfahren, die der Sprache und Religion nach mit den russischen Soldaten verwandt war.
Auf dem Perron, von ungarischen Gendarmen umgeben, stand eine Gruppe verhafteter ungarischer Russen. Es waren einige Popen, Lehrer und Bauern aus der ganzen Umgebung. Alle hatten die Hände mit Stricken auf dem Rücken gefesselt und waren paarweise zusammengebunden. Größtenteils hatten sie zerschlagene Nasen und Beulen auf dem Kopf, denn sie waren gleich nach der Verhaftung von den Gendarmen verprügelt worden.
Ein Stückchen weiter trieb ein magyarischer Gendarm mit einem Popen ein liebliches Spiel. Er band ihm einen Strick, den er in der Hand hielt, um den linken Fuß und zwang ihn mit dem Kolben, Csárdás zu tanzen, wobei er an dem Strick zerrte, so daß der Pope auf die Nase fiel und, da er die Hände nach rückwärts gebunden hatte, nicht aufstehen konnte; er machte verzweifelte Versuche, sich auf den Rücken umzudrehen, um sich so vom Boden erheben zu können. Der Gendarm lachte darüber, so aufrichtig, daß ihm Tränen aus den Augen flossen, und als der Pope sich erhob, riß er am Strick und der Pope lag wieder auf der Nase.
Endlich machte der Gendarmerieoffizier der Szene ein Ende; er ließ die Verhafteten vor Eintreffen des Zuges in den leeren Schuppen hinter dem Bahnhof führen und sie dort prügeln und schlagen, damit es niemand sehe.
Von dieser Episode redete man im Stabswaggon, und alles in allem kann gesagt werden, daß die Mehrzahl sie verurteilte.
Fähnrich Kraus meinte, wenn es schon Hochverräter gäbe, so solle man sie auf der Stelle und ohne jede Quälerei hängen; hingegen stimmte Leutnant Dub mit dem ganzen Auftritt vollständig überein; er führte den Vorfall sofort auf das Attentat in Sarajewo zurück und erklärte ihn in der Weise, als ob die magyarischen Gendarmen in der Station Humena den Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gemahlin rächen wollten. Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, sagte er, daß in einer Zeitschrift (Schimatscheks Vierblatt), deren Abonnent er war, schon vor dem Kriege in der Julinummer von dem Attentat geschrieben worden sei, daß dieses beispiellose Verbrechen in den Herzen der Menschen lange Zeit hindurch eine unheilbare Wunde hinterlassen werde, die um so schmerzlicher sei, weil durch das Verbrechen nicht nur das Leben des Repräsentanten der Exekutivgewalt des Staates, sondern auch das Leben seiner geliebten Lebensgefährtin vernichtet worden sei, und daß die Vernichtung dieser zweier Leben ein glückliches, mustergültiges Familienleben zerstört und die von allen geliebten Kinder zu Waisen gemacht habe.
Oberleutnant Lukasch brummte nur vor sich hin, daß die Gendarmen hier in Humena wahrscheinlich Abonnenten von Schimatscheks Vierblatt mit seinem ergreifenden Artikel seien. Ihm war überhaupt auf einmal alles zuwider, und er fühlte nur das Bedürfnis, sich zu betrinken, um seinen Weltschmerz zu vertreiben. Er verließ also den Waggon und suchte Schwejk.
»Hören Sie, Schwejk«, sagte er ihm, »wissen Sie nicht von einer Flasche Kognak? Mir ist nicht ganz gut.«

»Das macht alles die Luftveränderung, melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant. Kann sein, daß Ihnen, bis wir am Kriegsschauplatz sein wern, noch schlechter sein wird. Je mehr man sich von seiner ursprünglichen militärischen Basis entfernt, desto übler is einem. Ein gewisser Josef Kalenda, Gärtner in Straschnitz, hat sich auch mal von zu Haus entfernt, er is aus Straschnitz in die Weinberge gegangen und hat sich im Gasthaus ›Zur Haltestelle‹ aufgehalten, aber da war ihm noch nichts, aber wie er in die Weinberge in die Kronengasse zum Wasserturm gekommen is, is er in der Kronengasse hinter der heiligen Ludmillakirche von einem Wirtshaus ins andere gegangen, und da war er schon wie erschlagen. Er hat sich aber nicht davon abschrecken lassen, weil er am Abend vorher in Straschnitz im Wirtshaus ›Zur Remise‹ mit einem Kondukteur von der Elektrischen gewettet hat, daß er zu Fuß in drei Wochen eine Reise um die Welt machen wird. Er hat also angefangen, sich noch weiter und weiter von seiner Heimat zu entfernen, bis er ins ›Schwarze Bräuhaus‹ am Karlsplatz gekommen is, und von dort is er auf die Kleinseite zum heiligen Thomas ins Bräuhaus gegangen und von dort über die Restauration ›Zum Montag‹ und noch weiter übers Wirtshaus ›Zum König von Brabant‹ in die ›Schöne Aussicht‹ und von dort ins Strahower Kloster ins Bräuhaus. Aber dort is ihm die Luftveränderung schon nicht mehr bekommen. Er is bis aufn Lorettoplatz gekommen, und dort hat er auf einmal so eine Sehnsucht nach der Heimat bekommen, daß er sich auf die Erde hingehaut hat und angefangen hat, sich am Trottoir zu wälzen und geschrien hat: ›Leutl, ich geh nimmer weiter. Ich pfeif euch‹ – mit Vergeben, Herr Oberlajtnant – ›auf die Reise um die Welt.‹ Wenn Sie aber wünschen, Herr Oberlajtnant, wer ich Ihnen den Kognak auftreiben, ich furcht nur, daß mir der Zug früher wegfährt.«
Oberleutnant Lukasch versicherte ihm, daß man nicht früher abfahren werde als in zwei Stunden, gleich hinter dem Bahnhof verkaufe man im geheimen ganze Flaschen Kognak, Hauptmann Sagner habe bereits Matuschitz hingeschickt, und der habe ihm für 15 Kronen eine Flasche ganz guten Kognak gebracht. Hier habe er 15 Kronen, und jetzt soll er schon gehen und nur niemandem sagen, daß der Kognak für Oberleutnant Lukasch bestimmt sei oder daß der Oberleutnant ihn schicke, denn es sei eigentlich verboten.
»Seien Sie versichert, Herr Oberlajtnant«, sagte Schwejk, »daß alles in Ordnung gehn wird, weil ich hab sehr gern verbotene Sachen; ich hab mich immer in was Verbotenem befunden, ohne daß ich was davon gewußt hab. Einmal in der Karolinentaler Kaserne hat man uns verboten ...«
»Kehrt euch – marschieren – marsch!« unterbrach ihn Oberleutnant Lukasch.
Schwejk ging also hinter den Bahnhof, wobei er sich unterwegs sämtliche Bedingungen seiner Expedition wiederholte: daß es ein guter Kognak sein sollte, weshalb er ihn zuerst kosten müsse, daß es verboten sei, weshalb er vorsichtig sein müsse.
Gerade als er hinter dem Perron einbog, stieß er wieder mit Leutnant Dub zusammen: »Was treibst du dich hier herum?« fragte er Schwejk. »Kennst du mich?«
»Melde gehorsamst«, antwortete Schwejk salutierend, »daß ich Sie nicht von Ihrer schlechten Seite kennenzulernen wünsche.«
Leutnant Dub erstarrte vor Schrecken, aber Schwejk stand ruhig vor ihm, die Hand fortwährend am Mützenschild, und fuhr fort: »Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, daß ich Sie nur von der guten Seite kennenlernen will, damit Sie mich nicht zum Weinen bringen, wie Sie mir letztes Mal gesagt haben.«
Leutnant Dubs Kopf drehte sich ob dieser Frechheit, und er raffte sich nur zu dem entrüsteten Ausruf auf: »Schieb ab, du Schuft, wir sprechen noch miteinander.«
Schwejk ging hinter den Perron, und Leutnant Dub, der sich gefaßt hatte, folgte ihm. Hinterm Bahnhof, gleich an der Straße, stand eine Reihe mit dem Boden nach oben gekehrter Rückenkörbe, auf denen sich Strohschüsseln befanden; auf diesen Strohschüsseln wieder befanden sich verschiedene Näschereien, die so unschuldig aussahen, als wären diese guten Dinge für die Schuljugend irgendwo auf einem Ausflug bestimmt. Da gab es Zuckerstangen, Bonbons, Röllchen aus Oblaten, einen Haufen saurer Bonbons, hie und da auch auf einer Strohschüssel ein paar Scheiben schwarzen Brots mit Wurst, die ganz bestimmt von Pferden stammte. Im Innern aber enthielten die Rückenkörbe verschiedene Sorten von Alkohol: Flaschen mit Kognak, Rum, Wacholderbranntwein und andere Liköre und Schnäpse.
Gleich hinter dem Straßengraben stand eine Bude, in der eigentlich alle diese Geschäfte mit verbotenen Getränken abgewickelt wurden.
Zuerst verhandelten die Soldaten bei den Rückenkörben, dann zog ein Jude mit Schläfenlöckchen unter dem Rückenkorb eine unschuldig aussehende Flasche hervor und brachte sie unter dem Kaftan in die hölzerne Bude, wo sie der Soldat irgendwie unauffällig in den Hosen oder unter der Bluse versteckte.
Hierher steuerte also Schwejk, während Leutnant Dub mit seinem Detektivtalent ihn vom Bahnhof aus beobachtete.
Schwejk suchte Bonbons aus, die er bezahlte und in die Tasche steckte, wobei der Herr mit den Schläfenlöckchen ihm zuflüsterte: »Schnaps hab ich auch, gnädiger Herr Soldat.«
Die Unterhandlung war rasch abgeschlossen. Schwejk ging in die Bude und zahlte erst, als der Herr mit den Schläfenlöckchen die Flasche geöffnet und Schwejk den Schnaps gekostet hatte. Er war mit dem Kognak zufrieden, und nachdem er die Flasche unter die Bluse gesteckt hatte, kehrte er auf den Bahnhof zurück.
»Wo warst du denn, du Schuft«, vertrat ihm Leutnant Dub den Weg zum Perron.
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, daß ich mir Bonbons kaufen gegangen bin.« Schwejk griff in die Tasche und zog eine Handvoll schmutziger, verstaubter Bonbons heraus. »Wenn sich Herr Lajtnant nicht ekeln möcht. – Ich hab sie schon gekostet, sie sind nicht schlecht. Sie ham so einen angenehmen, merkwürdigen Geschmack wie von Powidel, Herr Lajtnant.«
Unter der Bluse zeichneten sich rundlich die Umrisse der Flasche ab.
Leutnant Dub klopfte Schwejk auf die Bluse: »Was trägst du hier, du Schuft. Zieh das heraus!«
Schwejk zog die Flasche mit dem gelblichen Inhalt und der vollkommen deutlichen Etikette »Kognak« heraus.
»Melde gehorsamst, Herr Lajtnant«, antwortete Schwejk unerschrocken, »daß ich mir in eine leere Kognakflasche ein bißl Wasser zum Trinken pumpen war. Ich hab noch von dem Gulasch, was wir gestern gehabt ham, einen schrecklichen Durst. Nur daß das Wasser dort bei der Pumpe, wie Sie sehn, Herr Lajtnant, bißl gelb is, es wird wahrscheinlich eisenhaltiges Wasser sein. So ein Wasser is sehr gesund und zuträglich
»Wenn du so einen Durst hast, Schwejk«, sagte Leutnant Dub mit einem teuflischen Lächeln und in der Absicht, die Szene, in der Schwejk vollkommen unterliegen mußte, so lang wie möglich auszudehnen, »so trink, aber tüchtig. Trink das Ganze auf einmal aus!«
Leutnant Dub kombinierte schon im voraus, wie Schwejk ein paar Schluck machen und nicht mehr weiterkönnen werde, und wie er, Leutnant Dub, ihn glorreich besiegen und sagen werde: »Reich mir auch die Flasche, damit ich ein bißchen trink, ich hab auch Durst.« Wie sich dieser Lump, der Schwejk, in diesem für ihn so fürchterlichen Augenblick benehmen und einen Rapport folgen werde usw. usw.
Schwejk entkorkte die Flasche, führte sie an den Mund und Schluck auf Schluck verschwand in seiner Kehle. Leutnant Dub versteinerte. Schwejk trank vor seinen Augen die ganze Flasche leer, ohne mit der Wimper zu zucken, warf die leere Flasche über die Straße in den Teich, spuckte aus und sagte, als hätte er ein Gläschen Mineralwasser ausgetrunken: »Melde gehorsamst, Herr Lajtnant, daß das Wasser wirklich einen Eisengeschmack gehabt hat. In Kamyk an der Moldau hat ein Wirt für seine Sommergäste eisenhaltiges Wasser auf die Weise gemacht, daß er in den Brunnen alte Hufeisen geworfen hat.«
Ich werde dir geben, alte Hufeisen! Komm und zeig mir den Brunnen, aus dem du das Wasser geholt hast!«
»Es is nur ein Stückel von hier, Herr Lajtnant, gleich hier hinter der Holzbude.«
»Geh voran, du Fallott, damit ich seh, ob du Schritt hältst!«
»Das ist wirklich merkwürdig«, dachte Leutnant Dub, »dem elenden Kerl merkt man gar nichts an.«
Schwejk ging also, ergeben in den Willen Gottes, voran; aber etwas sagte ihm ununterbrochen, daß ein Brunnen da sein müsse, und es überraschte ihn auch nicht im mindesten, daß einer da war. Es war sogar eine Pumpe da, und als sie bei ihr anlangten und Schwejk pumpte, floß ein gelblich gefärbtes Wasser hervor, so daß Schwejk feierlich erklären konnte: »Hier is das eisenhaltige Wasser, Herr Lajtnant.«
Der erschrockene Mann mit den Schläfenlöckchen näherte sich ihnen, und Schwejk sagte ihm auf deutsch, er möge ein Gläschen bringen, der Herr Lajtnant wolle trinken.
Leutnant Dub war von dem ganzen so blöd, daß er ein ganzes Glas Wasser austrank, worauf sich in seinem Mund der Geschmack von Pferdeurin und Mistjauche verbreitete; total verblödet von seinem Erlebnis gab er dem Juden mit dem Schläfenlöckchen für das Glas Wasser ein Fünfkronenstück und sagte, indem er sich zu Schwejk umdrehte:
»Was gaffst du hier herum, scher dich nach Haus.«
Fünf Minuten später tauchte Schwejk im Stabswaggon bei Oberleutnant Lukasch auf, lockte ihn mit einer geheimnisvollen Grimasse aus dem Waggon und teilte ihm draußen mit: »Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß ich in fünf, höchstens in zehn Minuten ganz besoffen sein wer, aber ich wer in meinem Waggon liegen und möcht Sie bitten, daß Sie mich wenigstens auf drei Stunden nicht rufen, Herr Oberlajtnant, und mir keine Befehle geben, solang ich mich draus nicht ausschlaf. Alles is in Ordnung, aber Herr Lajtnant Dub hat mich abgefangen, ich hab ihm gesagt, daß das Wasser is, so hab ich müssen vor ihm die ganze Flasche Kognak austrinken, damit ich ihm beweis, daß es Wasser, is. Alles is in Ordnung, nichts hab ich verraten, wie Sies gewünscht ham, und vorsichtig war ich auch, aber jetzt meld ich schon gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß ichs schon spür, mir schlafen schon die Füße ein. Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, daß ich allerdings gewöhnt bin zu saufen, weil mitn Herrn Feldkurat Katz ...«
»Geh, Bestie!« rief der Oberleutnant, doch ohne jeden Groll. Dafür aber war ihm Leutnant Dub um fünfzig Prozent unsympathischer geworden als bisher.
Schwejk kletterte vorsichtig in seinen Waggon, und als er sich auf seinen Mantel und Rucksack legte, sagte er zum Rechnungsfeldwebel und den anderen: »Einmal hat sich euch ein Mensch besoffen und hat gebeten, daß man ihn nicht wecken soll ...«
Nach diesen Worten wälzte er sich auf die Seite und fing an zu schnarchen.
Die Gase, die er beim Rülpsen von sich gab, erfüllten bald den ganzen Raum, so daß Koch-Okkultist Jurajda, der die Atmosphäre mit den Nüstern einzog, erklärte: »Sakra, hier riecht Kognak.« (...)


aus "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" von Jaroslav Hasek
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