Und dort an der Wilia
Ist ein Glockenturm so hoch,
Dass kein menschlich Auge
Ihn gesehen noch.
Und auf diesem Turm
Steht der heilige Schorsch.
Der piekst den Herrn Teufel
In den Po ganz forsch.
Leide, meine Seele,
Und du wirst erlöst.
Wenn du nicht gelitten hast,
dann ergeht’s dir bös.
Oj!
So sang mein Großvater Józef und lehnte sich aus dem mit Soldaten
überfüllten Güterwaggon. Großvater war unterwegs, um für den russischen
Zaren zu fallen, und er sang, um sich etwas Mut zu machen und die
täglichen Sorgen zu vergessen.
Eigentlich hatte Großvater nur eine große Sorge: Vor einem Jahr hatte er
Großmutter Anna, eine sehr energische und entschlossene Person,
geheiratet; vor einem Monat hatte er ihr beim Kreuz geschworen, dass er
sich in keinem Fall umbringen lassen werde, und vor einer Woche hatte er
bei Gott geschworen, dass er bereit sei, für den Zaren zu fallen. Wie
der liebe Gott diesen Widerspruch lösen sollte, wusste Großvater beim
besten Willen nicht.
Er saß da, baumelte mit den Beinen über dem Gras des schnell
dahinziehenden Bahndamms und lauschte dem Keuchen der Lokomotive;
schließlich war er Maschinist und kannte sich aus. Die Lokomotiven
keuchten jetzt durch ganz Europa. Um sich mit Großvater Józef, dem
Maschinisten aus Wilna, zu treffen, eilten auch schon Maschinisten aus Lemberg
herbei, die geschworen hatten, für den Kaiser von Österreich-Ungarn zu
fallen.
Weil die Linie Wilna-Lemberg pfeilgerade verlief, kam es bald zum Kampf.
Zuerst jagten diejenigen aus Wilna die aus Lemberg und schossen sehr
schlecht. Dann jagten die Lemberger die Wilnaer, und diese liefen davon,
mit Ausnahme von Großvater Józef, der ins Gebüsch fiel und, von einer
eigenartigen Schwäche befallen, nicht mehr aufstehen konnte. Erst als er
von allen Seiten vom Feind umringt war, kam er heraus, mit
vorschriftsmäßig erhobenen Händen, was ihm keine Mühe machte, da er sein
Gewehr ohnehin schon verloren hatte. Auf diese Art und Weise verbrachte
Großvater den Krieg in Österreich, was ihm ganz angenehm war.
Großvater Józefs Tat hatte fatale Folgen. Die geschwächte russische
Armee verlor eine Schlacht nach der anderen. Die Soldaten waren es leid,
immer nur geschlagen zu werden, und begannen sich aufzulehnen, und da im
Krieg immer jemand geschlagen oder getötet werden muss, beförderte man
zuerst den Zaren und seine Familie ins Jenseits und danach alle, die man
erwischen konnte.
Zufällig traf zur gleichen Zeit auch den Kaiser
von Österreich-Ungarn der Schlag, und so begannen die Lokführer
aus Wilna und Lemberg, sich gegenseitig Züge entgegenzuschicken. Die
Lokomotiven schnauften tapfer und pfiffen markerschütternd. Es war
soviel Lärm in Wilna und Lemberg, dass all der Enthusiasmus die dunkle
Ahnung überdeckte, dass die neue Epoche, so glücklich sie auch sein
mochte, nicht lange dauern würde.
Das bedarf einer Erklärung. Wilna war nicht sofort polnisch. Die
internationalen Verträge sprachen es Litauen
zu, dessen historische Hauptstadt es war, neben Trakai. Doch die
polnischsprachige Bevölkerung bildete die überwiegende Mehrheit in der
Stadt, und diese Menschen hielten sich für Polen, wenn sie auch eine
gewisse Sympathie für das Großfürstentum Litauen hatten, das sie jedoch
nicht mit der neuerstandenen Republik Litauen identifizierten. Die
zweitgrößte Gruppe nach den Polen waren in Wilna die Juden, Litauer gab
es relativ wenige.
Es war daher nicht verwunderlich, dass zahlreiche Bürger mit weiß-roten
Fahnen freudig die Armee General Zeligowskis begrüßten, als diese in die
Stadt einmarschierte. Nicht alle wussten jedoch den Ernst des
Augenblicks zu würdigen. Als General Zeligowski am Bahnhof von Wilna
vorbeizog und der Menschenmenge zulächelte, füllten sich die leeren
Bahnsteige mit litauischem Geschrei. Vergeblich versuchte der
Stationsvorsteher zu intervenieren. Vergeblich plusterte sich der
General. Die weiß-roten Fahnen wurden vor Scham puterrot, als sie von
den hohen Mauern aus auf ein schmales Frauchen blickten, das auf
litauisch einen unbekannten Banditen beschimpfte, der ihren Koffer
gestohlen hatte. Das war meine Großmutter Maria. Sie war in Begleitung
meines zweiten Großvaters, Antoni. Sie waren soeben aus Dünaburg
gekommen, um in Wilna ein neues Leben zu beginnen.
Als wir neulich auf einem Familientreffen überlegten, wer in unserer
Familie die schlechte, verhängnisvolle Angewohnheit des
Gedichteschreibens eingeführt hatte, stellte sich heraus, dass der
Schuldige Großvater Antoni war. Als er von Dünaburg nach Wilna kam, war
er ein großer, melancholischer junger Mann. Er geriet oft ins Sinnieren,
wenn er irgendwo unterwegs war, er kam vom Bürgersteig ab, lief in eine
Droschke, vergaß, wo er war, irrte durch die Straßen und versuchte sich
zu erinnern, warum er aus dem Haus gegangen war. Weil er außergewöhnlich
zerstreut war, wurde er ständig bestohlen. Auch an dem Vorfall auf dem
Bahnhof von Wilna war er schuld. Oma hatte von vornherein gewusst, dass
sie bestohlen werden würde, sie wartete darauf und schrie nur aufgrund
der langen nervlichen Anspannung. Daraus kann man schließen, dass es an
jenem Tag auf der Welt wesentlich leiser zugegangen wäre, wenn der
Koffer schon in Dünaburg gestohlen worden wäre.
Die Apotheose General Zeligowskis und Oma Marias hysterische Anfälle.
Auf dem Weg vom Bahnhofsgebäude zur Droschke wurde dem Großvater das
Portemonnaie entwendet. Als er ausstieg, um nachzuschauen, ob er es
vielleicht trotzdem noch hatte, wurde der Zettel mit den Adressen der
Verwandten gestohlen, die sie in Wilna erwarteten. Wie sie unter diesen
Umständen in die Ulica Kalwaryjska gelangten, wissen wir nicht.
Jedenfalls erklärten sie das Reisen für zu gefährlich und anstrengend
und blieben dort bis ans Ende ihrer Tage. Sie lebten still und fromm,
verdienten Geld und verloren es bei verschiedenen Überfällen wieder, bis
Großvater Antoni, nachdem er erneut bestohlen worden war, der
Staatlichen Polizei beitrat und auf diese Art und Weise seinen Umgang
mit der Verbrecherwelt auf eine professionelle Ebene verlagerte.
So lebten sie also alle in Wilna und dachten nicht im Traum daran, dass
sie einmal meine Großeltern sein würden. Mit der Zeit kamen Kinder zur
Welt. Zuerst bei Maria und Antoni. Das erste war ein Sohn. Sie nannten
ihn Edward. Das zweite war ebenfalls ein Sohn, den sie Mieczyslaw
nannten. Das dritte war Henryk, mein Vater. Danach kamen drei Töchter:
Anna, Zofia, Kazimiera. Alle drei starben. Großvater verfluchte sein
Schicksal und verwünschte den lieben Gott, dann bat er ihn wieder um
Erbarmen, bis der liebe Gott von Großvater Antoni endgültig die Nase
voll hatte, worauf an der nächsten Geburt Großmutter Maria starb.
Bei Anna und Józef war das erste Kind ein Sohn, den sie Stanislaw
nannten. Danach kamen zwei Töchter: Halina und Bronka, meine Mutter.
Als die Kinder in das gefährliche Alter von sechs, vier und zwei kamen,
gefiel es Großvater Józef nicht mehr in Wilna. Er nahm sich, was ihm vom
Familienbesitz zustand (so gut wie nichts), lieh sich Geld und begann,
in Kolonia Wilenska ein Holzhaus zu bauen, nach dem Plan eines Rechtecks
von acht auf zehn Metern, was er immer voller Stolz betonte.
Großvater Józef stammte aus einer Familie, in der man der Ansicht war,
ein Mann solle im Leben drei
Dinge tun: einen Sohn zeugen, ein Haus bauen und einen Baum
pflanzen. Plötzlich stellte sich heraus, dass er sein gesamtes
Lebensziel schon erreicht hatte. Er lag im Liegestuhl im Garten,
betrachtete den Himmel und dachte, er habe sich wohl doch zu arg beeilt,
denn was immer er jetzt tun würde, es wäre nicht mehr so wichtig.
Nach dem Tod von Großmutter Maria widmete sich Großvater Antoni
vollkommen seiner Tätigkeit bei der Polizei. Er stieg allmählich auf,
wechselte vom vierten Kommissariat in der Ulica Kalwaryjska zur
Kommandantur der Staatlichen Polizei in der Dominikanska, wo er mit der
Inspektion der Kommissariate und Polizeiwachen betraut war und außerdem
mit dem Verhör hartgesottener Verbrecher. Dank seiner poetischen
Veranlagung gelang es ihm hin und wieder, mit ihnen ein zartes Band der
Verständigung zu knüpfen. In jenem Frühjahr hatte man jedoch keinen
hartgesottenen Verbrecher festgenommen, also führte Großvater Antoni die
Inspektion der Polizeiwache im Stadtteil Antokol durch, die der
Kommandantur in Wilna seit einiger Zeit verdächtig vorkam.
Nun sah die Sache aber so aus, dass in Antokol einfach nichts los war.
Die Diebe und Räuber waren dem Alkohol
verfallen und vernachlässigten ihre bisherige Tätigkeit. Die Zuhälter
heirateten die Prostituierten,
hängten Vorhänge an die Fenster, gingen eifrig zum Gottesdienst und
spendeten, wie es sich gehörte. Die Mörder brachen mit stumpfen Messern
zu ihren nächtlichen Raubzügen auf. Und diejenigen, denen für eine
Rückkehr zum Pfad der Tugend die Kraft fehlte, erhängten sich schlicht
und einfach auf den Dachböden oder sprangen von der Grünen Brücke und
befreiten auf diese Art und Weise die Gesellschaft von ihrer
Anwesenheit.
So sah die Situation in Antokol aus. Aber wie sollten dies die
Kommandantur in Wilna und vor allem der für Antokol, Zarzecze, Belmont,
Markucie und Popawy zuständige Großvater Antoni glauben, den die
Kollegen die "stumpfe Säge" nannten? Die leeren Zimmer der Haftanstalt
in Antokol gaben Anlass zu den verschiedensten Verdächtigungen,
angefangen bei Korruption bis hin zu Kommunismus. Deshalb nahm Großvater
Antoni die Inspektion incognito in Angriff.
Einige Tage lang suchte er verdächtige Orte auf, um das Opfer eines
Überfalls zu werden. Ohne Erfolg. Mehrmals verlor er seine vollgestopfte
Brieftasche, und jedes Mal bekam er sie mit einem freundlichen Lächeln
zurück. Er provozierte und beleidigte Individuen, deren Physiognomie auf
eine reiche Vergangenheit schließen ließ, aber er traf nur auf
Wohlwollen und selbstlose Hilfsbereitschaft. Er machte einschlägig
aussehende Damen an und schlug ihnen vor, an einer Orgie teilzunehmen,
worauf die Behelligten Fotos von ihren Verlobten, Ehemännern und
manchmal auch Kindern aus der Tasche zogen und ihn ermunterten, von
seinem ausschweifenden Leben Abstand zu nehmen und sich seiner Familie
zu widmen.
Nach einiger Zeit war Großvater Antoni ernstlich irritiert. Natürlich -
er kämpfte für eine Welt ohne Verbrechen, aber das, was er in Antokol
erlebte, war geradezu unmenschlich. Am meisten quälte ihn der Gedanke,
dass er, wenn sich nichts verändern würde, selbst den Weg des
Verbrechens beschreiten müsste, um auf diese Art das Gleichgewicht der
Welt wiederherzustellen.
Während er sich auf Verfolgungsjagd befand, bemerkte er nicht, dass er
selbst verfolgt wurde. Auf der Polizeiwache in Antokol gerieten zwei
Konzeptionen in Konflikt: Der ersten zufolge war Großvater Antoni ein
Kirchenschänder und plante einen Raub in der Peter- und Paulskirche. Der
zweiten zufolge war er im Begriff, in Antokol eine verbrecherische
Organisation zu gründen, die unmittelbar der sizilianischen Mafia
unterstand.
Nach zwei Wochen hoffnungsloser Suche packte den Großvater die
Verzweiflung. Er fiel vor den Heiligen Peter und Paul auf die Knie und
flehte um ein
Wunder. Das Wunder geschah: Kaum hatte er die Kirche verlassen,
wurde er verhaftet.
Auf der Polizeiwache, zu der man den Großvater brachte, kam es zu
kontroversen Ansichten: Wer sollte nun wen verhören? Und schon begann
jeder, jeden zu verdächtigen, als glücklicherweise die Tür aufgestoßen
wurde und ein pausbäckiger Polizist erschien - mit zwei Frauen, die beim
Betteln erwischt worden waren.
Die Ältere der beiden Verhafteten, eine grauhaarige, außergewöhnlich
würdevolle Dame, erwies sich als Frau General Alikin, die nach der
Revolution aus Russland emigriert war, wo ihr Mann von den Bolschewiken
an einem Birn- oder Kirschbaum aufgehängt worden war. Die zweite,
jüngere, war die Polin Jadwiga Barcinska, ihre Gesellschaftsdame.
Der Bericht war kurz. An jenem Morgen waren die Generalswitwe und
Fräulein Barcinska mit einem Hocker, dessen Umrandung mit einem
Goldfaden verziert war, sowie einem glänzenden schwarzen Zylinder aus
dem Haus gegangen. An der Ecke der Ulica Antokolska und der Sapiezynska
setzte sich die Generalin auf den Hocker, und Fräulein Barcinska
plazierte den Zylinder vor sie. Dann stellte sich Fräulein Barcinska ein
Stückchen hinter ihre Brotgeberin und unterhielt sie. Die beiden weckten
allgemeines Interesse, aber niemand wagte es, ein Almosen zu geben, als
die Leute die würdevolle Gestalt der Generalin sahen und das perfekte
Französisch hörten, in dem die Bettlerinnen sich über einen
vorrevolutionären Urlaub auf Capri austauschten. Diese angenehme
Plauderei wurde erst durch die Verhaftung unterbrochen; so - dank dieser
allgemein üblichen polizeilichen Maßnahme - kam es zu der Begegnung
zwischen Großvater Antoni und Großmutter Jadwiga.
Frau General Alikin zeigte auf der Polizeiwache große Würde. Laut und
deutlich verlangte sie, hinter Gitter gebracht zu werden, und drohte, so
man damit zögern sollte, sich bei der Polizeidirektion und beim
Innenministerium zu beschweren. Als Grund für das Betteln gab sie
extreme Armut an, was man ihr nicht glaubte, denn allein der Hocker war
ein Vermögen wert. Da sie keinen anderen Ausweg sahen, versuchten die
Polizisten, die Verantwortung auf Fräulein Barcinska zu schieben, doch
es stellte sich heraus, dass die Obengenannte nicht gebettelt, sondern
der Generalin nur Gesellschaft geleistet hatte, was im übrigen ihre
Pflicht als Gesellschaftsdame war.
Großvater Antoni nützte diesen Augenblick, um mit der verdächtigen
Person ein diskretes Band der Verständigung zu knüpfen, das die
Generalin sofort wieder zerstörte, indem sie erneut forderte, hinter
Gitter gebracht zu werden, und sich zu einer Beleidigung der Polizei
hinreißen ließ. Die acht Polizisten schauten, als sie das hörten, in
erstaunlichem Einvernehmen zur Decke, der Kommandant und Großvater
Antoni zogen sich zurück, um über die Situation zu beraten. Nach einer
Viertelstunde kamen sie zurück und verkündeten, dass beide Damen verhört
werden sollten. Zuerst rief man Fräulein Barcinska. Hier ein Ausschnitt
aus dem Protokoll des Verhörs, das man nach dem Tod von Großmutter
Jadwiga zwischen ihren Fotos fand. (...)
(Aus dem Roman "Der Teufel auf
dem Kirchturm" von Marek Lawrynowicz.
Übersetzt von Renate Schmidgall.)