(...) Andreas hielt an einem niedrigen Torbogen im Mauerwerk und stellte den Motor aus. "Wir sind da", sagte er. "Das Kloster Moni Arkadi." "Sieht eher wie eine Festung aus", bemerkte Johann. Andreas nickte. "Das war es auch einmal. Eine Festung und eine Todesfalle."
Ein junger Mönch erschien im Torbogen und begrüßte sie. Andreas erklärte ihm, daß man mit dem Abt sprechen müsse. Der sei unterwegs in den Hügeln und kümmere sich um die Bienenstöcke, sagte der Mönch, der sie in einen Innenhof führte, in dem ein Gewürzgarten angelegt war. Bienen summten, Schmetterlinge taumelten durch die stark duftenden, blühenden Kräuter und Stauden. Sie setzten sich auf eine niedrige Begrenzungsmauer vor die Beete. Der Mönch verschwand im Refektorium, kam nach einer Weile mit einem Tonkrug voll Wasser, Feigen und Äpfeln zurück und ließ Andreas und Johann wieder allein. Während sie aßen und tranken, sah Johann eine kleine Schildkröte zwischen den Kräuterpflanzen kriechen. Ihr gelber Panzer mit schwarzen Mustern schob sich wie in Zeitlupe durchs sonnenfleckige Grün.
Zwei andere Mönche kamen eine Treppe herunter. Auch sie trugen lange, schwarze Gewänder, hohe Mützen und Vollbärte. Sie überquerten schweigend den Hof, nickten Andreas und Johann lächelnd zu. In ihrem Gang schwang ein undefinierbarer Rhythmus, von Hast genauso weit entfernt wie von Langsamkeit, ein Gehen, das zugleich wie ein Innehalten war. Sie verschwanden in der Kirchentür, aber nicht, wie sonst Menschen ein Haus betreten, sondern wie Tiere, die huschend hinter Bäumen unsichtbar werden, wenn man sie im Wald beobachtet, oder wie ein vorbeigleitendes Segel, vor dessen Anblick sich plötzlich ein Felsen schiebt. Das Geisterhafte dieses Auftritts berührte Johann wie die Erinnerung an etwas längst Vergessenes, beunruhigte ihn aber auch, weil es ihm wie ein Vorzeichen für etwas ganz und gar Unfaßbares erschien, das dingfest zu machen, zu katalogisieren und damit der Vernichtung auszuliefern seine Aufgabe war.
Schon wollte er die unheimliche Stille dieses Hofs brechen und Andreas fragen, was er mit seiner Bemerkung gemeint habe, das Kloster sei eine Todesfalle gewesen, als in der Kirche Stimmen halblaut zu singen begannen, Psalmen nach uralter Melodik. Die Stimmen hoben und senkten sich, es klang etwas Gleichgültiges und zugleich Begeistertes in ihnen mit, von Klage so endlos entfernt wie von Lust, auch etwas Feierliches, das aus dem Vergangenen kam wie aus einem lichtlosen Brunnen, die Gegenwart für einen Augenblick erfüllte und in dem verhallte, was kommen mußte. Über dem Hof aus einem offenen Fenster sang eine Frauenstimme die Melodie nach und verstummte. Das war so unerhört, daß es Johann wie eine Einbildung vorkam, aber es setzte erneut ein, und es war eine weibliche Stimme, die Stimme, das hörte er plötzlich sehr klar, Ingrids. Und doch wieder nicht. Das Echohafte, das sich dem Singen in der Kirche anschmiegte wie der Lichthof einer Kerzenflamme, hatte etwas Willenloses, Bewußtloses, fast Jenseitiges. Die Stimme verstummte. Ingrid war tot, verschüttet im Keller von Johanns Lübecker Elternhaus, das wie Zunder gebrannt hatte beim Angriff des britischen Geschwaders. Und in diesem kretischen Klosterhof sang nun irgendeine weibliche Stimme ihr Requiem. Aus der Kirche drang mit den dunklen, tremolierenden Männerstimmen ein Duft von Wachs, Honig und Weihrauch, der wie der Geruch des Gesangs war und eine Geste, näher zu treten.
Johann stand auf, ging zur Kirchentür, die einen Spalt offenstand, und blickte ins Innere. Im Dämmer knieten ein Dutzend Mönche auf dem Steinboden. Die ewigen Lichter schwangen rötlich schimmernd in der von Weihrauch und Honig schweren Luft. Der sonore Gesang war auch eine Besänftigung, eine Bändigung von Wut und Gewalt in harmonische Gelassenheit. Hier ging etwas vor sich, was sich seit mehr als tausend Jahren am gleichen Ort und zur gleichen Stunde vollzog. Welcher Bach floß tausend Jahre durchs gleiche Bett? Welcher Baum streckte tausend Jahre sein Blattwerk zur Sonne? Die absurde Vermessenheit, mit der in Deutschland von einem tausendjährigen Reich gebrüllt wurde! Der Gedanke daran war wie ein Faustschlag ins Gesicht.
Als die Mönche schon das Kirchenschiff durch einen Seiteneingang verlassen hatten, stand Johann immer noch wie benommen, starrte zu den Halbsäulen und Gesimsen empor, zu den horizontalen und vertikalen Abschnitten, und kam mit solchen Begriffen wieder zu sich. Geschäftsmäßig registrierte er das hervorragende Beispiel kreto-venezianischer Renaissance, ging durchs Nordschiff, durchs Südschiff, fotografierte und katalogisierte zahlreiche Ikonen, die aber alle aus dem 20. Jahrhundert stammen mußten und von geringem Wert waren, und auch die Ikonostase aus Zypressenholz war neu. Ob man hier vielleicht irgendwo alte Ikonen verborgen hielt? In Sicherheit gebracht vor den Deutschen? Versteckt vor Johann und seiner Liste? Und wo war der Abt? Kümmerte sich um Bienenstöcke? Als Abt? Der junge Mönch, der sie vorhin begrüßt hatte, schien sie erwartet zu haben, obwohl Johann seine Ankunft niemandem mitgeteilt hatte, niemandem außer Andreas. Wenn man im Kloster auf ihr Kommen vorbereitet gewesen war, hatte dann Andreas die Mönche gewarnt? (...)
(aus "Der
kretische Gast" von Klaus Modick)
Kreta, im Januar 1943: Der Archäologe Johann Martens soll auf der von
den Deutschen besetzten Insel prüfen, welche Kunstgegenstände sich als
Raubgut für Hitlers germanisches Museum eignen. Gemeinsam mit dem Kreter
Andreas erkundet er auf einem alten Motorrad die Mittelmeerinsel. Mehr
und mehr wird Martens von
der griechischen Lebenskunst und vor allem von Andreas’ Tochter
Eleni angezogen. Als eine todbringende Razzia
der deutschen Besatzer das Dorf von Andreas und seiner Familie
bedroht, muss er entscheiden, auf welcher Seite er steht. Immer tiefer
wird Martens in die Wirren des Partisanenkriegs verstrickt. Während sich
alte Gewißheiten auflösen, geraten sein Leben und seine Liebe in größere
Gefahr denn je zuvor ...
Klaus Modicks neuer Roman ist eine großartige Liebesgeschichte – und ein
sprachmächtiges literarisches Abenteuer. Mit brillant gezeichneten
Figuren und in wunderbar atmosphärischen, luziden Bildern macht er eine
längst vergessene Episode unserer Vergangenheit lebendig – und erzählt
von dem dramatischen Versuch, inmitten von Krieg, Verbrechen und Schuld
die Sehnsucht nach Glück zu bewahren. (Eichborn)
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