(...)
Naro Bön-tschung gab zu: "Dieses Mal ist deine Magie etwas besser als
meine. Aber ich war früher hier als du, somit sind wir jetzt quitt. Nun
laß uns weiter wettstreiten und sehen, wessen Macht größer ist."
"Ich messe mich nicht in Magie mit einem Gaukler, der sich mit Zaubermitteln einschmiert, um äußere
Illusionen erzeugen zu können. Wenn du meine Dharma-Lehre nicht
praktizieren willst, suche dir eine andere Bleibe", entgegnete der
Jetsün.
"Ich werde die Swastika-Bön nicht aufgeben! Aber falls du bei unserem
Wunderwettstreit siegreich sein solltest, bin ich bereit zu gehen.
Ansonsten lasse ich mich von euch Buddhisten nicht vertreiben, es sei
denn, ihr würdet mich prügeln und umbringen, doch dies verbietet euch
euer Dharma-Gelübde. Euch bleibt nur der Wettstreit, denn sonst gehe ich
nicht", verkündete er und umwanderte den Berg Tise gemäß der Bön-Tradition im Gegenuhrzeigersinn.
Im Nordosten des Berges Tise, im Dzong-Tal, trafen sie sich bei einem
riesigen Felsen.
"Es ist gut, daß ihr Kora macht, aber geht jetzt in meiner Richtung
weiter", meinte der Bönpo und versuchte den Jetsün an der Hand
mitzuziehen.
"Ich betrete nicht den falschen Weg, indem ich Kora in der verkehrten
Richtung mache. Ich befolge keine falschen Sitten. Aber du, komm doch
mit mir auf buddhistische Kora", entgegnete der Jetsün und ergriff die
Hand des Bönpo. Als sie sich so hin- und herzerrten, sanken beider
Fußabdrücke im Felsen ein. Aufgrund der machtvolleren Praxis des Jetsün
konnte er schließlich den Bönpo auf die buddhistische Kora mitführen. Im
Norden, auf der Rückseite des Berges Tise angelangt, sagte dieser:
"Später müssen wir auch noch die Bön-Kora machen."
"Das hängt von deiner Macht ab", entgegnete der Jetsün.
"Dieses Mal scheint deine Macht größer gewesen zu sein, aber wir sollten
noch einmal unsere athletischen Kräfte messen", sagte der Bönpo und
stemmte einen Felsbrocken von der Größe eines Yaks auf einen anderen
Felsbrocken. Der Jetsün setzte darauf einen doppelt so großen Felsen auf
den des Bönpo. Dieser mußte abermals zugeben: "Dieses Mal hast du
gewonnen. Aber mit ein oder zwei Siegen ist man noch kein Gewinner. Laß
uns noch einmal unsere Kräfte messen."
"Die Sterne
können zwar versuchen, mit dem Licht von Sonne und Mond zu rivalisieren,
doch das Dunkel der vier Kontinente wird von Sonne und Mond erhellt. Du
und ich, wir können zwar unsere Kräfte messen, aber du bist mir nicht
ebenbürtig; deshalb gebiete ich über den Berg Tise. Doch damit du
zufrieden bist und damit alle die Überlegenheit meiner buddhistischen
Praxislinie sehen, darf ich magische Wunder zeigen."
(...)
aus "Milarepas
gesammelte Vajra-Lieder; Band 1"
Theseus
Verlag 1997