(...) Nicht erst beim Militär wurde den Japanern der Kampfgeist der Samurai anerzogen. Vielmehr zielte das moderne japanische Erziehungssystem von Beginn an auf die Schaffung einer kaisertreuen Untertanen- und Krieger-Mentalität ab. Die Schlüsselrolle fiel dabei der Volksschule zu, wo der Kaiserkult den Schulkindern speziell im sogenannten Moralunterricht eingeimpft wurde. Die in Ostasien weitgereiste Schweizer Journalistin und Schriftstellerin Lily Abegg vermittelte 1936 ein anschauliches Bild von der japanischen Grundschulerziehung:

Die Bedeutung der japanischen Volksschule kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Volkschule ist es, die den Japaner zu dem macht, was er ist. Sie ist es, die ihn zum kaisertreuen Untertanen, zum gläubigen Japaner und zum Künder des Yamato damashi [Geist des alten Japan, Anm. d. Verf.] erzieht. (...)
Wenn der kleine Japaner sein erstes Schullesebuch aufschlägt, erblickt er ein Bild der Fahne mit der roten Sonnenscheibe; darunter steht: "Unsere Flagge". Danach sind die beiden kaiserlichen Wappen, das Chrysanthemen- und Paulowniawappen, abgebildet und erklärt. Es folgen Darstellungen der Soldaten und der Kirschblüte. (...) die Kirschblüte ist nicht einfach eine liebliche Frühlingsblüte, sondern das Sinnbild des Opfertodes. Denn ebenso, meinen die Japaner, wie die zarte Blüte in ihrer schönsten Lebenspracht vom Baume fällt und stirbt, so fällt der Krieger auf dem Schlachtfelde in seiner blühenden Manneskraft.
Dann folgen Bilder aus dem Familienleben, in denen mustergültige Kinder gezeigt werden, die ihre Pflicht den Eltern gegenüber erfüllen. Kaisertreue, Elterntreue und Yamato-Geist, diese drei Begriffe nimmt der kleine Japaner von seinem ersten Schultage an in sich auf. Daran lernt er gleichsam das erste Buchstabieren.
Der Grundstock für diese Lehrinhalte war der "Kaiserliche Erziehungserlass" vom 30. Oktober 1890. Das von Kaiser Meiji erlassene Edikt wurde jeden Monat im Moralunterricht und auch zu feierlichen Anlässen vom Lehrer verlesen, die Schüler mussten es nachsprechen und ab der vierten Klasse auswendig aufsagen, was vor allem dazu diente, die göttliche Autorität des Kaisers zu manifestieren.

Wir geben euch hiermit zu wissen:
Unsere Kaiserlichen Vorfahren haben das Reich auf breiter und ständiger Basis errichtet und die Tugend tief und fest eingepflanzt. Unsere Untertanen sind in unverbrüchlicher Treue gegen den Herrscher und in kindlicher Liebe zu den Eltern stets eines Sinnes gewesen und haben von Geschlecht zu Geschlecht diese schöne Gesinnung in ihrem Tun bekundet. (...) Sollte es je sich nötig erweisen, so opfert euch tapfer für das Vaterland auf! Erhaltet und mehret also das Gedeihen Unserer wie Himmel und Erde ewig dauernden Dynastie! Dann werdet Ihr nicht nur Unsere guten und getreuen Untertanen sein, sondern dadurch auch die von den Vorfahren überkommenen Eigenschaften glänzend dartun. (...)
Die Erziehung zum kaisertreuen und selbstaufopferungswilligen Untertan fand aber nicht nur im Moralunterricht, der auf die Verinnerlichung der kokutai-Ideologie abzielte, statt, auch in anderen Fächern wurde diesem nationalen Erziehungsanspruch Tribut gezollt. So etwa im Geschichtsunterricht, in dem die Kinder mit jenen Volkshelden eingehend bekannt gemacht wurden, die sich für den Kaiser geopfert hatten; die Lesebücher waren voll von Geschichten über Krieger, die den Heldentod gesucht hatten. Einen interessanten Einblick in diese Lehrinhalte gewährt die rege Forschungsarbeit jener deutschen Japanologen, die sich in den dreißiger Jahren dem Nationalsozialismus verschrieben hatten und für die das japanische Erziehungssystem ab 1933 zur inspirierenden Quelle wurde. 1934 etwa legte Lothar H. Schwager in seinem am 30. Mai in der "Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens" in Tokio gehaltenen Vortrag über "Die nationalpolitische Auswertung historischer Gestalten in der Schulerziehung Japans" dar, dass in den japanischen Schulbüchern Heldenfiguren wie die des sich durch seine bedingungslose Kaisertreue auszeichnenden Masashige Kusunoki ebenso umfassend gewürdigt würden wie Leben und Werk des Meiji-Tenno. Selbst dem überzeugten Nationalsozialisten Schwager war die Aura der Verklärung, die den Märtyrer Kusunoki in den Klassenzimmern umgab, aufgefallen:

Die nationalpolitische Erziehung interessiert sich nicht dafür, dass der wiedereingesetzte Kaiser Go-Daigo während der kurzen Zeit der Selbstregierung (Kenmuchuko) seine Befreier scheinbar enttäuscht hatte (...) - das Bleibende und erzieherisch Wesentliche ist vielmehr der Fanatismus der Pflichterfüllung, der den Gefolgsmann Kusunoki trotz aller Einsicht, dass sein Kampf vergeblich sein wird, für eine absolute Kaisertreue bedingungslos in den Opfertod treibt: Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein!
Und so lag Schwager 1934 mit seiner Feststellung, "Das ist Kusunoki Masashige, heute noch unendlich viel größer und lebendiger als vor 600 Jahren", durchaus richtig: Kusunokis Ausruf vor seinem Opfertod, sieben Mal für den Kaiser zu sterben zu wollen - Sinnbild für die bedingungslose Hingabe an den Kaiser -, begegnet man, wie im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, sechs Jahrhunderte später auf den Stirnbinden der Kamikaze-Flieger. Den Kindern so früh wie möglich den Wunsch nach kriegerischem Heldentum einzupflanzen war von Beginn an eines der Grundanliegen des japanischen Erziehungssystems, das mit jedem weiteren siegreich verlaufenen Krieg Japans noch an Priorität gewann. Bereits mit dem ersten, im japanisch-chinesischen Krieg von 1894-1895 errungenen Sieg Japans, der Geburtsstunde des modernen Heldenkultes im Land, erschien ein speziell für Kindergartenkinder konzipiertes Buch mit Geschichten über die ruhmvollen Taten der japanischen Kriegshelden; auch neu verfasste Schulbücher widmeten sich dieser Thematik. Saburo Ienaga, der nach 1945 die Verherrlichung des Krieges in der japanischen Erziehung aufs schärfste verurteilte, stellte fest, dass die Erziehung zum Militarismus an den japanischen Schulen bereits während des japanisch-russischen Krieges von 1904-1905 einen Höhepunkt erreicht hatte. So hatten schon damals im Japanischunterricht die kaiserlichen Kriegserlasse zur Pflichtlektüre gehört und im Fach Wissenschaft die unterschiedlichsten Kriegsgeräte von Torpedos bis hin zu Sprengstoffsätzen auf dem Lehrplan gestanden. Die Lesebücher füllten Geschichten wie die des Jugendlichen Takeo, der sich zum Kriegsdienst meldet und in einem Gespräch mit seinem Vater versichert, er werde, wenn der Krieg ausbräche, keine Angst davor haben, für das Vaterland zu sterben; der Vater, der die Aufopferungsbereitschaft des Sohnes lobt, ermahnt ihn noch: "Und vor allem musst du die kaiserlichen Erlasse an die Soldaten und Matrosen gewissenhaft befolgen." Und in einem Japanischlesebuch wird von einem Matrosen erzählt, der im Krieg von seiner Mutter folgenden Brief erhält:

Du hast geschrieben, dass du an der Schlacht um die Toshima-Insel nicht teilgenommen hast. Bei dem Angriff am 10. August auf Weihaiwei seist du zwar dabei gewesen, hättest dich aber durch keinerlei Heldentat ausgezeichnet. Das betrübt mich. Wozu bist du denn in den Krieg gezogen? Als Dank für seine Güte musst Du dem Kaiser Dein Leben opfern.
Ein Offizier, so der Fortgang der Geschichte, habe den weinenden Matrosen mit dem Ratschlag getröstet, die enttäuschte Mutter damit zu beschwichtigen, indem er ihr antworte, dass sicherlich in Kürze ein weiterer ruhmreicher Krieg geführt werde, in dem er sich bewähren und durch eine Heldentat auszeichnen könne.
Auch in den relativ liberalen zwanziger Jahren bestimmte der propagandistische Ton den Inhalt der Lehrbücher, sei es im Fach Geschichte oder Ethik. Bereits im ersten Schuljahr wurde auf den Aufopferungswillen der kaisertreuen Soldaten abgehoben und der heldenhafte Tod auf dem Schlachtfeld glorifiziert; quasi-militärische Lieder, in denen die japanischen Kriegshelden gerühmt wurden, gehörten ebenfalls zum Pflichtprogramm. Auf dem Lehrplan der vierten Klasse stand dann der Yasukuni-Schrein, in dem die Kriegsgefallenen vom Kaiser persönlich geehrt wurden, wobei die Kinder dazu angehalten wurden, dem Vorbild der für den Tenno gefallenen Soldaten zu folgen. Noch stärker vom militaristischen Geist geprägt waren die Lehrinhalte nach dem Ausbruch des japanisch-chinesischen Krieges 1937. Den neuen, Anfang der vierziger Jahre erschienenen Lehrbüchern war nun zu entnehmen, dass der Krieg gegen China der Schaffung des "ewigen Friedens in Ostasien" diene. Neben der starken Emotionalisierung durch Bilder stürmender Soldaten waren in den Unterrichtsplan nun auch sämtliche Zweige der Kriegsmaschinerie, vom U-Boot- bis hin zum Panzer-Einsatz, aufgenommen worden, wie dies bereits einige Jahrzehnte zuvor im russisch-japanischen Krieg der Fall gewesen war. Die Erziehung zur Selbstaufopferung gipfelte 1941 in der Aufnahme des Gedichts "Tapfere Soldaten" in das Lesebuch für die dritte Klasse, einer Hymne auf die damals den meisten Japanern als die "Drei menschlichen Bomben" bekannten Helden, die sich im japanisch-chinesischen Krieg in den dreißiger Jahren mitsamt dem Feind in die Luft gesprengt hätten, um die feindliche Stellung bei Shanghai zu durchbrechen. Dass es sich dabei um eine Erfindung handelte, hat die japanischen Volkserzieher nicht weiter gekümmert: Die fingierte Heldentat der mit einem Schlag berühmt gewordenen "Drei menschlichen Bomben von Shanghai" schien dem japanischen Kampfgeist, wie er zu jener Zeit von den Militärs propagiert wurde, in jeder Hinsicht zu entsprechen. Dass der Mythos, der sich um die drei Helden rankte und von Spielzeugindustrie und Jugendbuchverlagen mit Erfolg vermarktet wurde, auch in den Lehrbüchern Einzug hielt, war nur die logische Folge der Indoktrinierung, die bereits zuvor in der Populärkultur des Landes ihren Niederschlag gefunden hatte. So war es schon bald ein beliebtes Spiel unter japanischen Kindern, die "Lebenden Bomben", deren Geschichte auch in Comic-Heften nachgezeichnet wurde, nachzuahmen. An diese Spiele in seiner Kindheit erinnerte sich der 1926 geborene Saito Mutsuo, der zum Kamikaze-Pilot ausgebildet, letztendlich aber nicht eingesetzt wurde, noch Jahrzehnte später:

Sogar in diesem (jungen, Anm. d. Verf.) Alter interessierte uns sehr, was sich in der Mandschurei ereignete. Die Jungen aus meiner Straße spielten damals für gewöhnlich Krieg, bewaffnet mit Bambusstöcken, die ihnen als Gewehre dienten. (...) In der Nähe unseres Hauses gab es einen Tempel - den Kurodani-Tempel - er steht heute noch dort. (...) Dorthin pflegte ich nach der Schule mit den Jungen aus der Nachbarschaft zu gehen. Wir stellten uns vor, der Tempel sei eine chinesische Festung. Mit Vorliebe spielten wir, meiner Erinnerung nach, wir seien die drei Bombenhelden von Shanghai. Drei der Jungen bekamen jeweils einen großen Holzklotz, der die Bombe sein sollte und den sie sich mit einer Schnur auf den Rücken banden, während die übrigen von uns die feindlichen Wachposten spielten und so weiter. Wir waren sehr beeindruckt von der Geschichte der drei Bombenhelden. Man hatte uns erzählt, dass nur japanische Soldaten imstande wären, so etwas zu machen.
In gewisser Hinsicht scheint das, wenn auch fingierte, Beispiel der drei Menschenbomben ein Prototyp des Selbstmordangriffs zu sein, wie er nur wenige Jahre später bei den Infanteristen zur Kampfstrategie wurde. Diese warfen sich nicht nur, wie schon erwähnt, sprengstoffbeladen unter amerikanische Panzer, mit denen sie sich in die Luft jagten. Berichtet wird auch über japanische Kampfsoldaten, die unter dem Vorwand, sich ergeben zu wollen, amerikanische Soldaten in ihre Nähe lockten und sich mit diesen in die Luft sprengten. Zu ähnlichen Vorfällen soll es gekommen sein, als amerikanische Marinesoldaten japanische Gegner, deren Schiffe versenkt worden waren, zu retten versuchten. Die Erziehung zu Gehorsam und Opferbereitschaft beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Lektüre von Schulbüchern. Seit dem Ende der dreißiger Jahre wurde die Verzahnung der Schulen mit dem Militär weiter systematisiert. Offiziere außer Dienst gingen häufig als Instrukteure an die Schulen und seit 1941 gehörten Exerzierübungen von der Grundschule an zum schulischen Pflichtprogramm, wobei den Kindern suggeriert wurde, dass ihre Rolle zu Hause eine ebenso wichtige sei wie die der Soldaten an der Front. Die paramilitärische Ausbildung und die militärisch-nationalistische Indoktrinierung wurden an den 1935 ins Leben gerufenen "Jugendschulen", speziellen nachschulischen kommunalen Einrichtungen, weiter intensiviert. Bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war es gängige Praxis, dass Lehrer ihre Schüler dazu drängten, in die paramilitärische "Jugendbrigade" in der auf chinesischem Boden errichteten japanischen Kolonie Mandschukuo einzutreten, was die in der Regel dreizehn- bis vierzehnjährigen Schüler dann nicht selten auch ohne Zustimmung der Eltern taten; während des Krieges waren die Schul- und Universitätslehrer ferner angewiesen, im Unterricht die Kamikazes zu preisen. Für die Militärs war es dann nur noch ein kleiner Schritt, die Jugendlichen direkt von den Schulen für die "Sonderangriffseinheiten" zu rekrutieren. Zugleich setzte die staatliche Propagandamaschinerie alles daran, auch die Kinder für die Todeseinsätze zu begeistern. So etwa berichtete Radio Tokio eines Tages vom Begehren kleiner Jungen, in die Kamikaze-Einheiten aufgenommen zu werden, wobei der Kommentator sie mit dem Hinweis vertröstete, es bestünde kein Grund zur Eile, bald würden auch sie ihre Chance bekommen.


(Aus "Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats"
von Joseph Croitoru.)

Selbstmordanschläge zählen zu den brutalsten Mitteln des modernen Krieges. Croitoru erklärt zum ersten Mal umfassend die geschichtlichen und kulturellen Hintergründe des Selbstmordattentats: von den Kamikaze-Einsätzen der Japaner bis zu den Attentätern von New York. Er zeigt, wie Terrororganisationen Menschen fanatisieren und ersetzt Legenden und Vermutungen durch historische Tatsachen.
Buch bestellen