Einleitung
Mindestens 30
000 bis 40 000 Norwegerinnen verliebten sich während des Zweiten
Weltkrieges in einen Angehörigen der deutschen Besatzungsarmee und viele
Tausende bekamen von ihrem Freund ein Kind. Da das norwegische Volk nach
Ansicht der Regierung des Dritten Reiches überwiegend »arisch«, also aus
rassenpolitischer Sicht »guten Blutes und wertvoll« war, brachte sie den
Liebesbeziehungen zwischen ihren Soldaten und den Norwegerinnen ebenso
wie deren gemeinsamen Kindern durchaus Wohlwollen entgegen. Ganz anders
die norwegische Regierung, die sich während der fünf Besatzungsjahre im
Londoner Exil befand. Sie beurteilte Norwegerinnen, die mit
Wehrmachtssoldaten befreundet waren, und die norwegischen Nachkommen
dieser Soldaten nicht nur während des Krieges, sondern auch in der
Nachkriegszeit sehr kritisch. Diese ablehnende Haltung wurde von den
meisten Norwegern geteilt. Die Geschichte der deutschen Besatzung
Norwegens, die zum Verständnis des Schicksals dieser Frauen und Kinder
wichtig ist, habe ich in der Originalausgabe nicht eigens erklärt, da
sie den norwegischen Leserinnen und Lesern vertraut ist. Dies ist
vermutlich bei den deutschen Leserinnen und Lesern selten der Fall,
daher möchte ich im Folgenden einige Informationen zu diesen fünf Jahren
geben.
Die deutsche Besatzung Norwegens begann mit der Invasion am 9. April
1940. Der norwegische König Haakon VII. und die norwegische Regierung
lehnten es ab, die deutschen Kapitulationsbedingungen zu akzeptieren,
und die norwegische Armee leistete der Wehrmacht bis in den Sommer
hinein militärischen Widerstand. Am bekanntesten sind die Kämpfe um das
nordnorwegische Narvik, wo auch französische und englische Truppen
eingesetzt wurden, um den deutschen Angriff zurückzuschlagen. Als die
norwegischen Streitkräfte am 10. Juni kapitulieren mussten,
kontrollierte die Wehrmacht ganz Norwegen. Zu diesem Zeitpunkt waren der
norwegische König und die Regierung bereits nach England geflohen, wo
sie bis zur Befreiung die norwegische Exilregierung bildeten. Im Herbst
1944 befreite die Rote Armee zunächst die nördlichsten Landesteile
Norwegens, nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 war ganz
Norwegen wieder frei.
1933 wurde in Norwegen eine nationalsozialistische Partei gegründet, die
Nasjonal Samling (NS), angeführt von dem ehemaligen Offizier und
Minister Vidkun Quisling. Sie bekam bei den Wahlen kaum Stimmen und
blieb in der norwegischen Parteienlandschaft zunächst völlig
unbedeutend. Nach der deutschen Invasion im Jahre 1940 stellte sich die
Partei auf die Seite der deutschen Besatzungsmacht und blieb die gesamte
Besatzungszeit über deren politischer Partner. Im Herbst 1940 wurden
alle Parteien mit Ausnahme der NS verboten, die danach in enger
Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht die Neuordnung der
norwegischen Gesellschaft unter nationalsozialistischen Vorzeichen
anstrebte. Die NS ernannte Minister aus ihren eigenen Reihen und
besetzte Führungspositionen im öffentlichen Sektor und in wichtigen
Organisationen mit eigenen Leuten. Wer bereits ein öffentliches Amt
bekleidete, das die NS für politisch und gesellschaftlich bedeutsam
hielt, wurde aufgefordert, der Partei beizutreten. Obwohl die NS eng mit
der deutschen Besatzungsmacht verbunden war, gab es innerhalb der Partei
durchaus unterschiedliche Meinungen darüber, wie das Verhältnis zu den
Deutschen aussehen solle. Während der eine Flügel der Partei eine
ausgeprägte »pangermanische« Haltung vertrat, war der andere stärker
national ausgerichtet und strebte eine größere Eigenständigkeit
Norwegens gegenüber Deutschland an.
Die norwegische Staatsverwaltung unterstand dem Reichkommissariat für
die besetzten norwegischen Gebiete unter Führung von Reichskommissar
Josef Terboven. Er übte im zivilen Bereich die oberste Regierungsgewalt
aus und war Hitler
direkt unterstellt. Das Reichskommissariat leitete und kontrollierte den
norwegischen Verwaltungsapparat, der den von den Deutschen erlassenen
Verordnungen nachkommen musste. Es griff bis zu einem gewissen Grad auch
direkt in die norwegische Verwaltung ein und unterhielt in ganz Norwegen
Außendienststellen.
Die Macht der Deutschen basierte darauf, dass die Wehrmacht das Land
militärisch kontrollierte. Während der Besatzungszeit waren in
Norwegen sehr viele deutsche Soldaten stationiert, unter anderem,
um die lang gestreckte norwegische Küste gegen eine Invasion der
Alliierten zu schützen. Darüber hinaus erfolgten nahezu während des
gesamten Krieges große deutsche Truppentransporte durch Norwegen zur
Front im äußersten Norden, dorthin, wo Norwegen an die Sowjetunion
grenzte. Bei Kriegsende befanden sich über 300 000 deutsche Soldaten in
Norwegen, und obwohl die Zahl der stationierten Soldaten im Laufe des
Krieges und auch von einem Teil Norwegens zum anderen schwankte, waren
das im Verhältnis zur damaligen norwegischen Bevölkerung von knapp drei
Millionen sehr viele Fremde. Während es in manchen Landesteilen fast gar
keine deutschen Soldaten gab, waren andere Landesteile stark von ihnen
geprägt. Im nordnorwegischen Sør-Varanger, einer Gemeinde mit 8000
Einwohnern nahe der sowjetischen Grenze, waren während des Krieges bis
zu 60 000 deutsche Soldaten stationiert.
Die Besatzungszeit verlief in Norwegen relativ friedlich. An manchen
Orten waren viele deutsche Soldaten über lange Zeit fest stationiert.
Sie wurden oft in Privathäuser einquartiert, sodass zwischen ihnen und
der Zivilbevölkerung nahezu zwangsläufig enge persönliche Kontakte
entstanden.
Nach Kriegsende fand in Norwegen eine umfassende Aufarbeitung der
Okkupationszeit statt. Sie betraf alle, die verdächtigt wurden, ihr Land
in den vorangegangenen fünf Jahren verraten zu haben. Die Ahndung der
Kollaboration betraf Politiker und Offiziere, denen man vorwarf, bei der
deutschen Invasion von 1940 unpatriotisch gehandelt zu haben. Die
»administrative« Aufarbeitung überprüfte das Verhalten von Beamten und
Staatsangestellten. Außerdem wurde gegen Personen ermittelt, die im
Verdacht standen, sich durch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den
Deutschen bereichert zu haben. Am umfassendsten jedoch wurden
Denunzianten, Mitglieder der Nasjonal Samling und andere Kollaborateure
strafrechtlich verfolgt. Rechtliche Grundlage hierfür war unter anderem
ein 1944 von der norwegischen Exilregierung beschlossenes Gesetz, das
die Mitgliedschaft in der NS unter Strafe stellte. Von dieser
strafrechtlichen Verfolgung waren rund 90 000 Norweger betroffen, etwa
20 000 wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, 25 leitende NS-Mitglieder,
allen voran der Parteichef der NS, Vidkun Quisling, zum Tode verurteilt
und hingerichtet. Neben dieser offiziellen, von Seiten des Staates
betriebenen strafrechtlichen Aufarbeitung fanden aber in der
unmittelbaren Nachkriegszeit auch Akte der Straßenjustiz statt. Sie
richtete sich gegen Menschen, die mutmaßlich enge Kontakte zu Deutschen
gehabt hatten, ohne dabei allerdings gegen ein Gesetz verstoßen zu
haben, so dass sie für ihr Verhalten juristisch nicht belangt werden
konnten. Zu ihnen zählten jene Norwegerinnen, die während des Krieges
einen deutschen Freund gehabt hatten. Die Bestrafungen dieser Frauen
durch ihre Landsleute bilden eines der zentralen Themen des vorliegenden
Buches.
Da dies die erste Gesamtdarstellung der Geschichte der norwegischen
Freundinnen der Wehrmachtssoldaten – der so genannten »Deutschenmädchen«
– und deren Nachkommen ist, mussten zunächst die wesentlichen Punkte
dieser Geschichte herausgearbeitet werden. Zum einen geht es darum,
Fakten zu präsentieren, also Fragen zu beantworten, wie die nach der
Gesamtzahl der norwegischen Kriegskinder, nach der Erfassung der Mütter
und Kinder im Krieg und nach konkreten Informationen über die Situation
der Deutschenmädchen nach dem Krieg. Zum Zweiten wollte ich erforschen,
wie sich die Behörden gegenüber Müttern und Kindern verhalten haben.
Dabei ging es mir sowohl um die Behörden der deutschen Besatzungsmacht
und der norwegischen NS-Regierung während des Krieges als auch um die
Vertreter der norwegischen Regierung im Londoner Exil und nach ihrer
Rückkehr nach Oslo. Nicht zuletzt wollte ich einen Eindruck davon
vermitteln, in welcher Situation sich das einzelne Kriegskind, das
einzelne Deutschenmädchen und auch der einzelne Soldat während des
Krieges und danach befanden. Bis zu einem gewissen Grad habe ich
versucht, einige zentrale Entwicklungen und Phänomene aus heutiger Sicht
zu erklären, ohne jedoch allgemeine Hypothesen oder Theorien
aufzustellen. Ich habe auch keine soziologisch orientierte Untersuchung
angestrebt, die die vorhandenen Daten vieler tausend Einzelpersonen
systematisiert, um so Genaueres darüber aussagen zu können, »wer« die
Deutschenmädchen und ihre deutschen Freunde waren. Ebenso wenig werden
die norwegischen Verhältnisse mit der Situation von Kriegskindern und
»Soldatenbräuten« in anderen besetzten Ländern verglichen, sei es
während des Zweiten Weltkriegs, sei es in anderen Kriegen. Es wäre
wünschenswert, wenn vieles, was hier nur gestreift werden kann, weitere
Untersuchungen anregen könnte. Das Buch ist in drei Teile gegliedert.
Der erste umfasst die Kriegsjahre und geht vor allem auf die Maßnahmen
ein, mit denen die deutschen Behörden sich den Zugriff auf die
Kriegskinder und deren Mütter sichern wollten. Es kommen norwegische
Mütter und ihre deutschen Freunde zu Wort, um einen Eindruck davon zu
vermitteln, wie sie in dieser schwierigen Situation lebten. Und auch
wenn es nicht um die Frage geht, wer »das typische Deutschenmädchen« und
ihr »typischer deutscher Freund« waren, lernen die Leser hier einige
Paare mit ihren Freuden und Sorgen näher kennen. Im zweiten Teil des
Buches geht es um die Zeit unmittelbar nach der deutschen Kapitulation
im Frühling 1945, und zwar vor allem darum, wie der norwegische Staat
und die norwegische Gesellschaft mit den Deutschenmädchen umgingen. Wir
treffen Frauen, die auf unterschiedliche Weise bestraft wurden, von
staatlichen und kommunalen Stellen ebenso wie von ihren Mitmenschen. Die
wesentlichen Fragen dieses zweiten Teiles sind zum einen, ob die
Sanktionen rechtsstaatlichen Prinzipien genügten, und zum Zweiten,
welche Linie der norwegische Staat in der ersten Nachkriegszeit bei
seinem Umgang mit den Kriegskindern verfolgte. Dabei muss bedacht
werden, dass er in dieser Situation für das Wohl tausender norwegischer
Kriegskinder verantwortlich war, während zugleich ein erheblicher Teil
der norwegischen Bevölkerung die Ansicht vertrat, man solle sie samt
ihrer Mütter des Landes verweisen.
Im dritten und letzten Teil des Buches wenden wir uns vor allem jenen
Kriegskindern und Deutschenmädchen zu, die nach dem Krieg trotz aller
damit verbundenen Schwierigkeiten in Deutschland lebten. Einige wenige
Fäden werden bis heute weitergesponnen, denn inzwischen treten die
Kriegskinder selbst als
aktiv Handelnde auf. Auch hierbei geht es wieder darum, welche
Werte und Einstellungen der norwegische Staat in dieser Frage vertritt.
Die wichtigste Veränderung in der jüngsten Vergangenheit ist hier der
radikale Meinungsumschwung in der norwegischen Gesellschaft. Von
Aggressivität und Aversion gegenüber den Kriegskindern und den
Deutschenmädchen gelangten die Menschen zu einer überwiegend
wohlwollenden Sicht. Dieses Buch basiert auf umfangreichem
Quellenmaterial. Der überwiegende Teil dieses Materials wurde bislang
noch nicht für eine historische Studie ausgewertet. Es handelt sich um
unveröffentlichte Dokumente, der größte Teil des von mir ausgewerteten
Materials stammt aus dem norwegischen Reichsarchiv, dem Riksarkiv in
Oslo. Ich ziehe aber auch Material aus mehreren anderen Archiven in
Norwegen und im Ausland heran. Dieses Buch erlaubt den Leserinnen und
Lesern einen Einblick in das Schicksal der Kriegskinder und
Deutschenmädchen, die mir beim Studium dieser Archive begegnet sind. In
den Akten geht es immer um konkrete Menschen, aber wenn ich aus diesen
Unterlagen zitiere oder einen Fall zusammenfasse, dann ausschließlich,
um mit solchen Beispielen eine allgemeinere Aussage zu illustrieren. Mit
Ausnahme der historischen Personen habe ich alle Menschen, die hier
vorkommen, die Kinder und Frauen ebenso wie die deutschen Soldaten,
anonymisiert. Die benutzten Namen sind ebenso erfunden wie die
Geburtsdaten und Wohnorte, die zu einer Identifizierung beitragen
könnten. Aber ich habe weder einen Fall »manipuliert« noch Bruchstücke
mehrerer Fälle zu einem zusammengesetzt, um »typische« Geschichten
präsentieren zu können. Die Anmerkungen verweisen fortlaufend auf die
Quellen und die Literatur, die ich ausgewertet habe. Wenn nicht anders
vermerkt, befindet sich das benutzte Archivmaterial im Riksarkiv in
Oslo. In der deutschen Ausgabe werden allerdings nicht alle Quellen- und
Literaturangaben nachgewiesen. Leserinnen und Leser, die für diese oder
jene Information den genauen Quellennachweis wünschen, werden auf die
lückenlosen Anmerkungen eines Manuskriptes in norwegischer Sprache
verwiesen, das in der Manuskriptsammlung des Riksarkiv eingesehen werden
kann.
Trotz einiger Kürzungen stimmt die deutschsprachige Ausgabe weitgehend
mit der norwegischen überein. Sie wurde lediglich um einige Details
gekürzt, die meines Erachtens für das deutsche Publikum nicht von
gleichem Interesse sind wie für das norwegische. Andererseits wurde die
deutsche Ausgabe um einige Erläuterungen erweitert, die dem deutschen
Leser, der mit den norwegischen Verhältnissen der Kriegs- und
Nachkriegszeit nicht vertraut ist, die Lektüre erleichtern sollen.
Schließlich habe ich die Gelegenheit genutzt, den ursprünglichen Text
durch einige wenige Informationen zu ergänzen, die erst nach Erscheinen
der norwegischen Ausgabe bekannt wurden. (...)
(aus "Schicksal Lebensborn. Die Kinder der Schande und ihre Mütter" von Kare Olsen)
Mit dem
Frieden kam das Leiden. Nach dem Abzug der nationalsozialistischen
Besatzer wurden tausende norwegische Kinder von ihren Landsleuten
beschimpft, schikaniert und misshandelt. Sie galten als »Kinder der
Schande«, da ihre Mütter sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten.
Der Historiker Kåre Olsen schildert das Schicksal von Menschen, für die
der Krieg bis heute nicht vorüber ist, und bringt Licht in ein dunkles
und beinahe vergessenes Kapitel Kriegsgeschichte. (Droemer Knaur)
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