(...) Ich heiße Azad Shero Selim. Ich bin der Enkel von Selim Malay. Mein Großvater hatte viel Humor. Er sagte immer, daß er als Kurde auf die Welt gekommen sei, in einem freien Land. Dann kamen die Osmanen, und sie sagten zu meinem Großvater: du bist Osmane, und er wurde Osmane. Die Türken gingen, und er wurde wieder Kurde, im Reich von Scheich Mahmud, dem König der Kurden. Dann kamen die Engländer, und mein Großvater wurde Untertan Ihrer Majestät, der Königin von England, er lernte sogar ein paar Worte Englisch.
Die Engländer erfanden den Irak, und mein Großvater wurde Iraker, aber das Geheimnis dieses neuen Wortes hat er nie durchschaut; stolz darauf, ein Iraker zu sein, war er bis ans Ende seiner Tage nicht. Seinem Sohn Shero Selim Malay, meinem Vater, erging es nicht anders. Aber ich, Azad, ich war noch ein Kind.

Unter dem großen Maulbeerbaum im Garten unseres alten, schönen Hauses saß meine Mutter und entkernte Granatäpfel. Ich sah nur ein Stück ihres geblümten Kopftuchs. Das Fruchtfleisch verfärbte ihre Hände, und ihr Gesicht war vom Saft der Herbstfrüchte rot befleckt.
Ich hockte daneben und schlug mir den Bauch voll. Meine Mutter reichte mir die besten Kerne und wiederholte: »Geh dir ein anderes Hemd anziehen, mein Sohn«, denn ich trug das weiße Schulhemd. Gesättigt stand ich auf, da hörte ich ein Flügelschlagen am Himmel. Das waren die dressierten Tauben von Sheto, meinem Cousin. Ich ging in unseren Obstgarten hinunter und kroch unter dem Stacheldrahtzaun durch. Über die Leiter stieg ich auf das Terrassendach des Hauses meines Cousins, auf dem wir im Sommer meistens schliefen. Da war Sheto mit seinen dressierten Tauben, drei Käfige voll. Stolz zeigte mir mein Cousin die Taube, die er in den Händen hielt, und warf sie in den Himmel. Der Vogel erhob sich in die Lüfte, stieg schnurgerade an dem Azurblau empor und ließ sich dann wie ein Stein ins Leere fallen, wobei er sich um sich selbst zu drehen begann. Wir waren fasziniert und verfolgten den Sturzflug der Taube mit offenen Mündern. Als sie ihr Manöver beendet hatte, drehte sie eine große Runde über unseren Köpfen und kam dann zurück, um neben uns zu landen. Sie war der Champion unter den dressierten Tauben meines Cousins, und er nannte sie Löwe. Sheto nahm eine andere Taube und warf sie hoch. Die Darbietung war genauso schön, aber als die Taube fertig war, flog sie nicht zu uns zurück, und wir verloren sie aus den Augen. Wir stiegen in den Obstgarten hinab, um den Vogel zu suchen, jeder in einer anderen Richtung. Obwohl ich mir sicher war, daß die Taube nicht auf einem Kirschbaum gelandet war, sah ich zu den Wipfeln hoch. Plötzlich hörte ich aufgeregte Stimmen hinter dem Obstgarten unseres Hauses. Das war nicht normal.
Ich lief los, um zu sehen, was passiert war, wand mich unter dem Stacheldraht hindurch und blieb mit meinem Hemd hängen. Während ich versuchte, mich zu befreien, hörte ich die Schreie entsetzter Frauen. Vielleicht war jemand gestorben? Ich stürzte weiter, und mein weißes Schulhemd riß entzwei.
Als ich hinter dem Haus ankam, sah ich meine Mutter herauskommen, zu Tode erschrocken, den in grünen Stoff eingeschlagenen Koran in der Hand. Sie streckte ihn Männern entgegen, die bewaffnet waren und sehr erregt. Mit aufgelöster Stimme rief sie ihnen zu: »Um des Korans willen, laßt die Hände von meinem Haus!« Vor meinen Augen versetzte man ihr einen Kolbenhieb, und sie brach zusammen. Auf den Knien versuchte sie, sich wieder aufzurichten. Als sie mich sah, schrie sie voller Panik, daß ich mich verstecken solle, denn ein Mann, ob groß oder klein, konnte umgebracht werden. Ich warf mich über sie, aber während sie aufstand, stieß sie mich fort, und ich lief in den Obstgarten, wo ich mich hinter einem Baum versteckte. Überall in unserem Viertel hörte ich Schüsse. Menschen schrien. Aus unserem Haus stiegen Flammen und Rauch auf. Ich war entsetzt und fasziniert. Hinter meinem Baum versteckt, sah ich noch mehr bewaffnete Männer kommen. Sie suchten Mamo, einen Cousin. Sein Haus lag schon in Schutt und Asche.
Mamo war dreißig Jahre alt und Volksschullehrer. Wie jeden Freitag zur Gebetszeit kümmerte er sich um das Stoffgeschäft seines Vaters, einem Großhändler aus Akré, während der die Moschee besuchte. An jenem Tag war ein Dutzend Männer der regierungsfreundlichen Miliz von Omar Agha in den Laden gekommen. Mamo sympathisierte mit General Barzani, dem Chef der kurdischen Patrioten. Die Milizsoldaten fingen an, ihn zu provozieren. Mein Cousin bewahrte die Ruhe, bis ihr Anführer ihn als Feigling und gehörnten Barzani-Jünger beschimpfte. Da verschwand Mamo wortlos im hinteren Teil des Geschäfts, zog unter den Stoffballen einen Revolver hervor und ging zu den Milizsoldaten zurück, um nur noch ein einziges Wort zu sagen, djash, Kollaborateur, und ihrem Chef drei Kugeln in den Kopf zu schießen. Dann tötete er zwei weitere Soldaten und schaffte es, zu fliehen. Es war klar, daß sie gekommen waren, um ihn zu töten, und er wollte wie ein Mann sterben.
Vor seinem Haus angelangt, blieb er draußen stehen, um nicht in der Falle zu sitzen. Die Straße immer im Blick, rief er nach seiner Mutter und bat sie, ihm sein Gewehr zu bringen. Die Milizsoldaten kamen näher, mein Cousin wartete auf sein Gewehr und seine Munition. Aber meine Tante hatte in ihrer Panik verstanden, daß sie das Gewehr verstecken sollte, und kam nicht mehr aus dem Haus. So blieb meinem Cousin nur noch die Flucht, mit einer Pistole als einziger Waffe. Als die Soldaten unser Viertel erreichten, hatten sie unterwegs bereits meinen Onkel Rasul getötet, Shetos Vater. Die Milizsoldaten hinter sich, floh Mamo zu den nahe gelegenen Hügeln. Um eine Verletzung zu verbinden, versteckte er sich hinter einem Felsen. Schließlich wurde er umzingelt und von allen Seiten beschossen. Mein Cousin verteidigte sich bis zur letzten Kugel. Als sein Magazin leer war, fing man ihn lebend. Aber sie erschossen ihn nicht. Sie stiegen die Hügel wieder hinab, banden ihn mit gefesselten Füßen an einen Jeep und schleiften ihn bis in die Stadt. Dreimal fuhren sie durch das Stadtzentrum, um die anderen Patrioten abzuschrecken. Mein Cousin war nur noch ein blutiges, lebloses Stück Fleisch.
An jenem Tag haben wir sieben Männer unserer Familie verloren.
Wir sind geflohen.
Ich war noch ein Kind. (...)


aus "Das Gewehr meines Vaters. Eine Kindheit in Kurdistan" von Hiner Saleem
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk
Poetisch und voll liebevoller Verehrung erzählt der erfolgreiche Filmemacher Hiner Saleem von seiner Kindheit in Kurdistan. Das Porträt eines aufrechten, großherzigen und archaischen Volkes, das Krieg besser kennt als Frieden und trotzdem überschwenglich das Leben feiert.
Seine Kindheit im Norden des Irak, das war der Vater, der ihm abends die Verse und Lieder der Kurden vorsang. Es war die Mutter, die Mann und Söhne nie aufhielt, wenn sie für die Freiheit in den Kampf zogen. Es war das Land mit den Granatapfel- und Maulbeerbäumen, deren Früchte die Kinder für Cola den arabischen Soldaten verkauften. Es war das Paradies und ein Gefängnis zugleich – eine Kindheit, wie man sie niemals vergessen kann.
Hiner Saleem wurde 1964 in Kurdistan im Norden des Irak geboren. Mit siebzehn Jahren flüchtete er nach Italien, wo er zur Schule ging. Heute lebt der Filmemacher und Autor in Paris, besitzt jedoch als politischer Flüchtling weder Paß noch Wahlrecht. Sein Film »Vodka Lemon« gewann auf dem Festival von Venedig den San-Marco-Preis für den besten Film und wurde 2004 mit dem One-Future-Preis der Interfilm Akademie ausgezeichnet. (Piper)
Buch bestellen