(...)
Pierre, der als erster angekommen war, ging als Freund des Hauses gleich
in das Kabinett des Fürsten Andrej, legte sich aus alter Gewohnheit
sofort auf den Diwan, nahm das erstbeste Buch aus dem Regal (Cäsars Aufzeichnungen), stützte sich auf den
Ellbogen und fing so interessiert in der Mitte an zu lesen, als hätte er
sich schon zwei Stunden lang darein vertieft. Als Fürst Andrej eintraf,
ging er direkt in sein Ankleidezimmer und kam nach fünf Minuten ins
Kabinett.
"Was hast du nur mit Madame Scherer angestellt? Sie wird jetzt erst
richtig krank werden", sagte er auf russisch, als er in seinem samtenen
Hausmantel zu Pierre trat und gönnerhaft, fröhlich und freundschaftlich
lächelnd seine kleinen weißen Hände rieb, die er offenbar eben noch
einmal gewaschen hatte.
Pierre drehte sich mit dem ganzen Körper zu ihm herum, so daß der Diwan
knarrte, und wandte Fürst Andrej sein lebhaftes Gesicht zu. Er nickte
schuldbewußt. "Ich bin erst um drei aufgewacht. Können Sie sich
vorstellen, daß wir zu fünft elf Flaschen getrunken haben?" (Pierre redete
Fürst Andrej mit Sie an, während der ihn mit du ansprach. Das
hatten sie in der Kindheit so begonnen und seither nie geändert.) "Das
sind vortreffliche Leute! Dieser Engländer ist einfach wunderbar!"
"Ich habe noch nie Verständnis für dieses Vergnügen gehabt", sagte Fürst
Andrej.
"Was Sie nicht sagen! Sie sind so vollkommen anders, ein erstaunlicher
Mensch in jeder Hinsicht", sagte Pierre aufrichtig.
"Warst du wieder bei dem netten Anatole Kuragin?"
"Ja."
"Daß du Lust hast, mit diesem Abschaum zu verkehren!"
"Nein, wirklich, er ist ein prächtiger Kerl."
"Abschaum!" sagte Fürst Andrej kurz angebunden und runzelte die Stirn.
"Ippolit ist ein sehr kluger Bursche, nicht wahr?" setzte er hinzu.
Pierre brach in Gelächter aus, wobei er mit seinem ganzen schweren
Körper so bebte, daß der Diwan wieder zu knarren begann. "In Moscou gibt
es eine Dame", wiederholte er unter Gelächter.
"Aber weißt du, er ist eigentlich ein guter Kerl." Der Fürst trat für
den Fürsten Ippolit ein. "Nun, wie ist es, hast du dich endlich zu etwas
entschlossen? Willst du Chevaliergardist werden oder Diplomat?"
Pierre setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf. "Können Sie sich
vorstellen, daß ich das immer noch nicht weiß? Mir mißfällt weder das
eine noch das andere."
"Aber zu irgend etwas mußt du dich doch entschließen! Dein Vater
erwartet eine Entscheidung."
Pierre war im
Alter von zehn Jahren mit seinem Erzieher, einem Abbé, ins Ausland
geschickt worden, wo er bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr gelebt
hatte. Bei ihrer Rückkehr nach Moskau hatte sein Vater den Abbé
entlassen und dem jungen Mann gesagt: "Jetzt fahre nach Petersburg, sieh
dich um, schließe Bekanntschaften und denke darüber nach, welchen Weg du
einschlagen willst. Ich bin mit allem einverstanden. Hier ist ein
Empfehlungsschreiben für Fürst Vasilij, und hier hast du Geld, schreib
mir, was du machst, ich werde dich in allem unterstützen." Schon seit
drei Monaten versuchte Pierre nun, sich für eine Laufbahn zu
entscheiden, und unternahm weiter nichts. Diese Entscheidung hatte Fürst
Andre) gemeint. Pierre fuhr sich über die Stirn. "Der Militärdienst, das
leuchtet mir ein, aber erklären Sie mir doch folgendes", sagte er.
"Warum ziehen Sie - und Sie verstehen doch alles - warum ziehen Sie in
diesen Krieg, und gegen wen? Gegen Napoleon und Frankreich. Wenn es ein
Krieg für die Freiheit wäre, würde ich es verstehen, dann würde ich als
erster in den Militärdienst eintreten, aber England und Österreich gegen
den größten Menschen der Welt zur Seite zu
stehen ... Ich verstehe nicht, wie Sie in den Krieg ziehen können!"
"Sieh mal, mein Lieber ..." Fürst Andrej, der seine unklaren Motive
unwillkürlich vielleicht auch vor sich selbst zu verbergen suchte,
sprach plötzlich französisch und schlug anstelle der eben noch
herzlichen Worte einen salonmäßigen, kalten Ton an. "Diese Angelegenheit
kann man auch von einem vollkommen anderen Standpunkt aus betrachten."
Und mit einer
Miene, als sei alles, worüber sie sprachen, seine ureigenste
Angelegenheit und die ihm nahestehender Freunde, erläuterte er Pierre
die damals in den höchsten Kreisen der Petersburger Gesellschaft
vorherrschende Ansicht über die politische Bedeutung Rußlands und
Europas. "Europa ist seit der Zeit der Revolution von Kriegen geplagt. Grund dafür
ist neben Napoleons Ehrgeiz das unausgewogene Gleichgewicht in Europa.
Es ist dringend notwendig, daß eine Großmacht sich aufrichtig und
unvoreingenommen der Sache annimmt, ein Bündnis schließt und neue
Staatsgrenzen, ein neues europäisches Gleichgewicht und ein neues
Völkerrecht festlegt, mit dem ein Krieg unmöglich gemacht und alle
Mißverständnisse zwischen den Staaten durch Vermittlung gelöst werden.
Diese uneigennützige Rolle hat Rußland im bevorstehenden Krieg auf sich
genommen. Rußland wird nur danach streben, Frankreich in die Grenzen von
1796 zurückzuführen und den Franzosen selbst die Wahl ihrer
Regierungsform zu überlassen, ebenso nach Wiederherstellung der
Unabhängigkeit Italiens und der der Zisalpinischen Republik nach einem
neuen Staat für die beiden Niederlande, einem neuen Deutschen Bund und
selbst nach Wiederherstellung Polens."
Pierre hörte aufmerksam zu und war mehrmals kurz davor, ungeduldig zu
widersprechen, hielt sich aber aus Achtung vor seinem Freund zurück.
"Siehst du nun, daß wir dieses Mal nicht so töricht sind, wie es
scheint?" schloß Fürst Andrej.
"Ja, ja, aber wieso nicht diesen Plan Napoleon selbst vorlegen?" hakte
Pierre ein. "Er wäre der erste, der diesen Plan aufgreifen würde, wenn
er aufrichtig gemeint ist; er versteht und schätzt jeden großen
Gedanken." Fürst Andrej schwieg und fuhr sich mit seiner kleinen Hand
über die Stirn.
"Außerdem gehe ich ...", er hielt inne, "ich gehe in den Krieg, weil das
Leben, das ich hier führe, weil dieses Leben nichts für mich ist."
"Weshalb?" fragte Pierre verwundert.
"Deshalb, mein Lieber", versetzte Fürst Andrej lächelnd, "weil es
vielleicht dem Vicomte und Ippolit ziemt, sich in den Salons
herumzutreiben, allerlei dummes Zeug zu reden und Märchen über
Mademoiselle Georges und ein Mädchen zu erzählen, aber für mich ist
diese Rolle nichts. Ich habe genug davon", setzte er hinzu.
(...)
aus "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoj