Dem jungen H. bleibt die Literatur als Kunst fremd.
Dass er, wie Kubizek bewundernd schreibt, Goethe, Schiller, Dante,
Lessing
und Stifter
gelesen habe, ist höchst zweifelhaft und auch, dass Schopenhauer
wie Nietzsche
in Wien "stets um ihn" gewesen seien. Möglich, ja wahrscheinlich ist
jedoch, dass H. sehr viele Zitate dieser Geistesgrößen kennt und Kubizek
daraus auf eifrige Lektüre schließt. Die deutschnationalen Blätter sind
in dieser Zeit voll mit Zitaten berühmter "deutscher Männer". Vor allem
die Alldeutschen lieben es, ihre Thesen mit kaum nachprüfbaren kurzen
Zitaten zu untermauern, auf Klebemarken wie auf Postkarten und
Kalendern. H. hätte kein einziges Buch lesen müssen, um sich mit Hilfe
solcher Zitate den Anschein eines Literaturkenners zu geben.
Schon in der Linzer Schulzeit war er eine "deutsche Ehrensache",
Schillers Biografie und Werke zu kennen, vor allem den WILHELM TELL, und stets auf klassische
Art die Rechte der Deutschen einfordern zu können, so zum Beispiel mit
den Zitaten: "Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig
setzt an ihre Ehre." Oder: "Den Brüdern im bedrohten Land /
Warmfühlendes Herz, hilfreiche Hand!" Oder: "Unser ist durch
tausendjährigen Besitz der Boden!"
Die meisten, größten Feinde hat das deutsche Volk
allein!
Deswegen noch kein Deutscher trauert oder weint!
Doch schrecklich muß uns der Gedanke sein,
Daß stets das deutsche Volk sich selbst sein ärgster Feind!
F. S.
"Wo einer Platz nimmt, muß der and're rücken,
Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben,
Da herrscht der Streit und nur die Stärke siegt."
Schiller.
Aus Anlass von Schillers 150. Geburtstag veranstaltete
die "Südmark" 1909 einen "National-Feiertag" und sammelte Spenden für
den Bau von Schiller-Denkmälern. Diese sollten "deutsche Festungsbauten"
und "unvergängliche Schöpfungen deutscher Schutzarbeit an der
Sprachgrenze" darstellen.
Glaubwürdiger sind Kubizeks Berichte, wenn er meint, H. sei Peter
Rosegger "zu populär" gewesen, an Ludwig Ganghofer habe er nichts
finden können, "dagegen trat er sehr für Otto Ernst ein, dessen Werke er
genau kannte". Der damals viel gelesene Hamburger Otto Ernst, eigentlich
Otto Ernst Schmidt, schrieb populäre humoristische Erzählungen und
autobiografische Romane aus dem kleinbürgerlichen Milieu ohne
künstlerischen Anspruch.
Näher als die Literatur ist dem jungen H. jenes politische Schrifttum,
das die Parteien, aber auch die Zeitungen in Broschürenform herausgeben
und häufig auch an Interessenten verschenken, etwa der Verlag des
ALLDEUTSCHEN TAGBLATTES, der seine Schriften auch in den Schaukästen in
der Stumpergasse zugänglich macht. Politisch Interessierte wie H. haben
genug Gelegenheit, sich auch außerhalb der Universitäten zu bilden; in
vielen kleinen politischen Leserunden, den Bildungseinrichtungen der
Parteien, den Volksbüchereien und Vereinsbüchereien.
Als Quell literarischer Bildung bleiben H. die Romane in den Zeitungen
und spärliche Theaterabende. Laut Kubizek besuchen sie gemeinsam die
berühmte Aufführung von FAUST II. Es muss sich um die Vorstellung am 25.
April 1908 im Burgtheater gehandelt haben - mit Josef Kainz als Mephisto
und der blutjungen Rosa Albach-Retty als Ariel. Der Andrang ist so groß,
dass sich die Stehplatzbesucher schon um 8 Uhr früh anstellen müssen.
Nach der Kassenöffnung, um 17 Uhr, geht das Rennen um die Karten los,
dann der Kampf um die besten Plätze. Die Vorstellung dauert bis 1.30 Uhr
nachts. H. sei, so Kubizek, von dem Abend "sehr bewegt" gewesen und habe
noch lange davon gesprochen.
Henrik Ibsen, zu dessen 80. Geburtstag das Burgtheater im März 1908
einen Ibsen-Zyklus veranstaltet, schätzt H. laut Kubizek nicht und keine
anderen Modernen.
Doch zumindest ein modernes Drama sehen sich die beiden sicher an, aber wohl eher, um sich zu empören: das wegen angeblicher Pornografie skandalisierte FRÜHLINGSERWACHEN von Frank Wedekind. Das Stück, 1891 erschienen, wurde 1906 von Max Reinhardt nach einigen Kämpfen mit der Zensurbehörde - so musste zum Beispiel das Wort "Beischlaf" gestrichen werden - uraufgeführt. Nun ist es als Gastspiel im Deutschen Volkstheater in Wien zu sehen. Wedekind selbst spielt den "Vermummten Herrn". Für den Besuch H.s und Kubizeks kommen die Aufführungen vom 13., 18., 20., 22. oder 28. Mai 1908 in Frage.
An Wedekind schieden sich in Wien wie
in Berlin die Geister. Ärgernis erregte er bei den Sittenstrengen. Die
jungen Künstler dagegen waren begeistert, so der 23jährige Komponist Alban Berg,
der später Wedekinds Lulu-Stoff zur Oper machte: "Wedekind --- die ganze
neue Richtung - die Betonung des sinnlichen Moments in modernen Werken!!
- ... Wir sind endlich zur Erkenntnis gekommen, dass Sinnlichkeit keine
Schwäche ist, kein Nachgeben dem eigenen Willen, sondern eine in uns
gelegte immense Kraft - der Angelpunkt alles Seins und Denkens. (jawohl:
alles Denkens!) - Damit spreche ich zugleich fest und bestimmt die große
Wichtigkeit der Sinnlichkeit für alles Geistige aus. Erst durch das Verständnis
der Sinnlichkeit, erst durch einen
gründlichen Einblick in die 'Tiefen der Menschheit' (oder sollte es
nicht viel eher 'Höhen der Menschheit' heißen?) gelangt man zum
wirklichen Begriff der menschlichen Psyche."
Dem damals 19jährigen H. fallen bei Wedekind nur "Laster" und "Ansteckungsgefahr" ein. Der
Theaterbesuch regt ihn an, Freund Kubizek zum Spittelberg zu führen, um
ihm dort das Unwesen der Prostitution warnend vor Augen zu führen.
Wie in ganz Europa, so stand auch in
Wien die Moderne ganz im Zeichen des Aufstandes gegen die Prüderie des
allzu "bürgerlichen" 19. Jahrhunderts. Die Künstler des Expressionismus
kämpften für die Befreiung von moralischen Zwängen, gegen eine süßliche
Idylle, für Wahrheit, Aufklärung und Bloßlegung körperlicher wie
gesellschaftlicher Blößen und Hässlichkeiten. Zudem reizten sie die
"braven Bürger" damit, dass sie die in ihren Werken propagierte
Libertinage und Promiskuität auch praktizierten. In einer traditionell
katholisch-konservativen Umwelt machten sie sich mit voller Absicht zum
Ärgernis.
1900 wurde Arthur
Schnitzlers REIGEN wegen Pornografie verboten. 1905 brachte
Siegmund Freud die DREI ABHANDLUNGEN ZUR SEXUALTHEORIE heraus. 1906
erschien der
Roman DIE VERWIRRUNGEN DES ZÖGLINGS TÖRLESS des damals 26jährigen
Robert Musil, der die fatale Verbindung von Gewalt und Sexualität bei
Jugendlichen darstellte. Leopold von Sacher-Masoch brachte seine
erotischen Romane (VENUS
IM PELZ) heraus, in denen Sklavenmänner sich von starken Damen im
Pelz auspeitschen ließen. Mit dem aus seinem Namen geprägten Begriff
"Masochismus" ging der Schriftsteller in die Sexualgeschichte ein. Klimt
und Schiele provozierten mit höchst freizügigen erotischen
Darstellungen. (...)
Den Gipfelpunkt des öffentlichen
Ärgernisses bildete um 1900 der modische Hurenkult mancher Literaten.
Die Hure galt ihnen als Verkörperung einer sich angeblich nie
erschöpfenden Sexualität. Karl Kraus beschwor in
seinem steten Kampf gegen die allzu prüde Moral die Solidarität
von Künstlern und Dirnen. Altenberg und viele andere taten es ihm nach.
Klimt
illustrierte die Hetärengespräche
nach Lukian.
Felix Salten schrieb nicht nur den höchst erfolgreichen Tierroman BAMBI,
der durch Walt Disney weltberühmt wurde, sondern auch den
Pornobestseller JOSEFINE MUTZENBACHER. DIE LEBENSGESCHICHTE EINER
WIENERISCHEN DIRNE, VON IHR SELBST ERZÄHLT (Wien, 1906). Unbeabsichtigt
stellt das Buch auch eine sozialhistorische Quelle dar: Josefine,
aufgewachsen in einer Ottakringer Zinskaserne, als Kleinkind missbraucht
vom Bettgeher, Inzest mit Bruder und Vater, Dutzende Männergeschichten
vom Bierversilberer bis zum Katecheten, kann von Sex nicht genug
bekommen und macht schließlich ihre reiche Erfahrung zu Geld. (...)
Aus "Hitlers Wien.
Lehrjahre eines Diktators" von Brigitte Hamann:
"Hitlers Wien" - das ist die Biografie
des jungen Adolf Hitler bis 1913, als er 24jährig Österreich verlässt.
Es ist auch die Kulturgeschichte Wiens, wie Hitler sie erlebte, damit
ein Gegenbild zur glanzvollen Kaiserstadt, zum Wien Siegmund Freuds, zur
Kunststadt der Jahrhundertwende. Denn Hitlers Wien ist das Wien der
Einwanderer, der Arbeitslosen, der Männerheimbewohner, der
Deutschnationalen in multinationaler Umgebung, der Antisemiten. Hier
eignet sich Hitler im "Selbststudium" seine Weltanschauung an,
zusammengelesen aus Thesen obskurer Welterklärer und Rassentheoretiker
...
Gebundene Ausgabe:
Piper, 1998. 652 Seiten.
ISBN 3-4920-3598-1.
ca. EUR 29,90. Buch bestellen
Broschiert:
Piper, 1998. 652 Seiten.
ISBN 3492226531.
ca. EUR 13,90. Buch bestellen