(...)
So zeigte sich in der Folge nordseitig eine Fußgängergruppe, und inmitten dieser wurde jetzt die Sänfte mit dem abgedankten gichtkranken Kaiser an der Venta vorbei über den Paß getragen. Der alljährliche traditionelle Nachvollzug der letzten Reise Kaier Karls des Fünften, vor bald einem halben Jahrtausend, über die Sierra de Gredos hinab zu deren Südhängen, nach Jarandilla de la Vera und zu seiner letzten Lebensstation im Kloster Yuste? Vier Burschen, mit der Gegend vertraut, zum Teil barfuß, trugen den alten Mann auf den Schulterstangen. Dabei war der Emperador Carlos da gar nicht so alt - "so alt wie ich, als ich von der Bankfürstin den Auftrag zum Buch bekam" (der Autor) -, und lugte eher mit Kinderaugen aus seiner Tragbahre, oder eben wie einer, der bald sterben wird, unterwegs zu seinem Begräbnisplatz.

Wie all die Jahre, da die Frau und er sich begegnet waren, brachte sie ihm, transportiert von einem Pferdewagen und jetzt angschleppt von ihrem Gefolge (dieses weit zahlreicher als das des Geschäftpartners), eine Kiste mit Geld, diesmal bloß so, als ein Geschenk, nicht mehr zum Finanzieren einer seiner zwölf oder vierundzwanzig Schlachten und Bezahlen seiner Söldnerheere überall im einander bekriegenden Europa, und darüber hinaus, in Nordafrika, in Südamerika. Aber der Abgedankte, der Sterbende winkte nur ab; wollte das Geld nicht; wollte es nicht einmal mehr sehen.

Alles, was er wollte oder wünschte: daß sie sich ein paar Schritte, gerade bis hinter die Paßhöhe, in seiner Sänfte, an seiner Seite, mittragen ließe; was auch geschah. Sie hatten beide gut Platz, und den Trägern schien die doppelte Last, des Winterkaisers und der Winterfürstin, und nicht nur, weil es nach dem langen Anstieg endlich geradeaus und dann bergab ging, sogar leichter zu werden, viel, viel leichter. Sie liefen die Strecke fast, tänzelten, hüpften, und der Todgeweihte, Gesicht an Gesicht mit seiner unvertraut-vertrauten Freundfeindin, biß sich in die Lippen; aber anders als die Busgesellschaft in dem zuvor Geschehenen willentlich.

Ein Jagdfalke saß dem Kaiser auf dem Unterarm, auf dem Hermelinmantelärmel: so viel kleiner als die in den Lüften kurvenden Bergverwandten, und schaute ganz und gar nicht raubvogelhaft oder jagdfiebrig, sondern genausi hilfsbedürftig und kindhaft flehentlich wie sein sänftenbeförderter Herr. Ein Schock Raben, schwarz wie nur Raben, überholte die Gruppe, statt krächzend oder schreiend wie aus einer Kehle und einem Leib brüllend, vor Blutwut und vor Mordgier; und wieder stoben jetzt an der in alle Richtungen gesträubten einheitlichen Rabenfederwolke die weißrosa Mandelblüten vorbei: vor dem luftraumverfinsternden Rabenschwarz Tupfer von noch nie so gesehenen Helligkeiten.
(...)


(aus "Der Bildverlust" von Peter Handke;
Suhrkamp Verlag 2002)