(...) Wenige Monate, nachdem ich in dieses
neue Zimmer eingezogen war, geschah etwas, das auf mein späteres Leben,
aber auch auf die Gestaltung der 'Blendung' den tiefsten Einfluß hatte.
Es war eines von jenen nicht zu häufigen öffentlichen Ereignissen, die
eine ganze Stadt so sehr ergreifen, daß sie danach nie mehr dieselbe
ist.
Am Morgen des 15. Juli 1927 war ich nicht wie sonst immer im Chemischen
Institut in der Währingerstraße, sondern fand mich zu Hause. Ich las im
Kaffehaus
in Ober-St. Veit die Morgenzeitungen. Ich spüre noch die Empörung, die
mich überkam, als ich die "Reichspost" in die Hand nahm; da stand als
riesige Überschrift: "Ein gerechtes Urteil." Im Burgenland war
geschossen, Arbeiter waren getötet worden. Das Gericht hatte die Mörder
freigesprochen. Dieser Freispruch wurde im Organ der Regierungspartei
als "gerechtes Urteil" bezeichnet, nein ausposaunt. Es war dieser Hohn
auf jedes Gefühl von Gerechtigkeit noch mehr als der Freispruch selbst,
was eine ungeheure Erregung in der Wiener Arbeiterschaft auslöste. Aus
allen Bezirken Wiens zogen die Arbeiter in geschlossenen Zügen vor den
Justizpalast, der durchseinen bloßen Namen das Unrecht für sie
verkörperte. Es war eine völlige spontane Reaktion, wie sehr, spürte ich
an mir selbst. Auf meinem Fahrrad fuhr ich schleunigst in die Stadt
hinein und schloß mich einem dieser Züge an.
Die Arbeiterschaft, die sonst gut diszipliniert war, die Vertrauen zu
ihren sozialdemokratischen Führern hatte und es zufrieden war, daß die
Gemeinde Wien von ihnen in vorbildlicher Weise verwaltet wurde, handelte
an diesem Tage ohne ihre Führer. Als sie den Justizpalast anzündete,
stellte sich ihnen der Bürgermeister Seitz auf einem Löschwagen der
Feuerwehr mit hocherhobener Rechten in den Weg. Seine Geste blieb
wirkungslos: der Justizpalast brannte. Die Polizei erhielt Schießbefehl,
es gab neunzig Tote.
Es sind 46 Jahre her, und die Erregung dieses Tages liegt mir heute noch
in den Knochen. Es ist das Nächste zu einer Revolution, was ich am
eigenen Leib erlebt habe. Hundert Seiten würden nicht ausreichen, um zu
schildern, was ich selber sah. Seither weiß ich ganz genau, ich müßte
kein Wort darüber lesen, wie es beim Sturm
auf die Bastille zuging. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich
ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand
gegen das, was sie unternahm. Es wundert mich, daß ich in dieser
Verfassung dazu imstande war, alle konkreten Einzelszenen, die sich vor
meinen Augen abspielten, aufzufassen. Eine davon will ich erwähnen.
In einer Seitenstraße, nicht weit vom brennenden Justizpalast, aber doch
eben abseits, sich sehr deutlich von der Masse absetzend, stand ein Mann
mithochgeworfenen Armen, der überm Kopf verzweifelt die Hände
zusammenschlug und ein übers andere Mal jammernd rief: "Die Akten
verbrennen! Die ganzen Akten!" "Besser als Menschen!" sagte ich zu ihm,
doch das interessierte ihn nicht, er hatte nur die Akten im Kopf, mir
fiel ein, daß er vielleicht selbst mit den Akten dort zu tun hätte, ein
Archivbeamter, er war untröstlich, ich empfand ihn, sogar in dieser
Situation, als komisch. Aber er ärgerte mich auch. "Da haben sie doch Leute
niedergeschossen!" sagte ich zornig, "und Sie reden von
den Akten!" Er sah mich an, als wäre ich nicht da, und wiederholte
jammernd: "Die Akten verbrennen! Die ganzen Akten!" - Er hatte sich zwar
abseits gestellt, aber es war für ihn nicht ungefährlich, seine Wehklage
war unüberhörbar, ich hatte sie ja auch gehört. (...)
aus "Das Gewissen der Worte"
(Essays von Elias Canetti);
Fischer Taschenbuch Verlag, 1981
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