Terry Pratchett: "Kleine freie Männer"

Die Scheibenweltromane spielen häufig mit einem sehr fest gefügten Personal, das den Lesern vertraut wird, wie einige etwas seltsame Nachbarn oder geliebte ferne Verwandte mit etwas komischen Eigenschaften. So wird jedes Scheibenweltbuch schnell zu einer Art Nachbarschaftsfest mit fröhlich-peinlichen Tanzeinlagen oder aber eine sehr große Familienfete, die sich mit einem ausreichenden Alkoholgehalt positiv ins Gedächtnis einbrennt. Manchmal allerdings sucht Terry Pratchett auch abgelegenere Ecken der Scheibenwelt auf und stellt uns hier ganz neue Figuren vor. So auch in diesem Roman.


Ein Märchen von der Scheibenwelt

Tiffany Weh ist eine sehr intelligente und geschickte Neunjährige, die eigentlich alles weiß, was man zum Bewirtschaften einer Schafzucht wissen muss, weswegen sie auch in ihrer Arbeit im elterlichen Betrieb ziemlich viel Freiraum genießt. Als siebtes Kind einer Acht-Kinder-Familie kümmert sie sich allerdings auch um ihren kleinen Bruder Willwoll, dessen Anwesenheit in der Familie sie insgesamt als eher störend empfindet. Auch hält er sie davon ab, sich auf die Vorbereitung auf ihren Traumberuf zu konzentrieren: Tiffany möchte gerne eine gute Hexe werden; ein Wunsch, der zum Teil auf ihre verstorbene Großmutter, Oma Weh, zurückzuführen ist.

Eines Tages, als sie mit ihrem Bruder am Fluss ist, tauchen auf einmal einige Wir-sind-die-Größten auf und warnen sie vor einer unglaublichen Gefahr. Jedenfalls glaubt Tiffany, dass sie dies tun, denn die Sprache der kleinen blauen rothaarigen Männchen in Kilts ist nicht ohne Weiteres verständlich. Kurz danach wird Tiffany von Jenny Grünzahn angegriffen, einem Wesen, das sie bis dahin nur aus einem Buch über Feen kannte. Mit ihrem kleinen Bruder als Köder lauert sie diesem Wesen später auf und vertreibt es mit einer Bratpfanne. Damit erweckt Tiffany das Interesse der Hexenkreise. Miss Tick - lies "Mystik" - begibt sich in Tiffanys Dorf um sie zu testen und auf ihre weiteren Aufgaben vorzubereiten. Dabei merkt sie, dass die Gegend um Wehs Farm kurz vor einer Invasion aus dem Feenreich steht, und sie bricht wieder auf um Miss Ogg und Oma Wetterwachs zu Hilfe zu holen.

Bevor die drei erfahrenen Hexen allerdings zurückkommen können, wird Willwoll von der Feenkönigin in ihr Reich entführt, und Tiffany beschließt ihn zurück zu holen. Begleitet von einer sprechenden Kröte, die ein verwunschener Rechtsanwalt ist, und Hunderten von Wir-sind-die-Größten macht sie sich auf den Weg ins Feenreich, eine Welt, in der Träume wahr werden. (Wobei man sich wirklich beim Aufwachen genau überlegen sollte, ob dies an jedem Morgen wünschenswert wäre.) Hier lernt Tiffany viel über die richtige Betrachtung der Welt, genau wie die Leser, und über sich selbst.

Die Figuren - selbst die kleinsten von ihnen - sind mal wieder überlebensgroß gezeichnet, und ebenso wie in den meisten anderen Scheibenweltromanen hält Pratchett auch hier der Realität - oder dem, was wir landläufig dafür halten - den Spiegel vor. Und man darf sich wirklich fragen, ob es sich dabei um einen Zerrspiegel handelt oder nicht. Humor, der das Gehirn in Bewegung hält!

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2005)


Terry Pratchett: "Kleine freie Männer"
(Originaltitel "The Wee Free Men")
Aus dem Englischen von Andreas Brandhorst.
Manhattan, 2005. 320 Seiten.
ISBN 3-442-54586-2.
ca. EUR 18,50. Buch bei amazon.de bestellen

... hier findet sich ein weiterer Pratchett-Roman

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Leseprobe:

Ein gutes Scheppern

Manche Dinge beginnen vor anderen.
Es war ein Sommerschauer, der nicht wusste, dass er einer war - es goss in Strömen, wie bei einem Unwetter im Winter.
Fräulein Perspicazia Tick saß in dem geringen Schutz, den ihr eine Hecke geben konnte, und erforschte das Universum. Den Regen bemerkte sie gar nicht. Hexen trocknen schnell.
Zur Erforschung des Universums verwendete sie zwei dünne Zweige, mit einem Bindfaden zusammengebunden, einen Stein mit einem Loch drin, ein Ei, einen ihrer Strümpfe, ebenfalls mit einem Loch, eine Nadel, ein Stück Papier und einen kleinen Bleistiftstummel. Im Gegensatz zu Zauberern lernen Hexen, mit wenig zurechtzukommen.
Die Gegenstände waren miteinander verbunden und bildeten einen ... Apparat. Er bewegte sich sonderbar, wenn Fräulein Tick ihn anstieß. Zum Beispiel schien einer der Zweige durch das Ei zu stoßen, bis zur anderen Seite, ohne eine Spur zu hinterlassen.

"Ja", sagte sie leise, als Regen über den Rand ihres Hutes strömte. "Da ist es. Zweifellos eine Kräuselung in den Wänden der Welt. Sehr Besorgnis erregend. Hervorgerufen vermutlich von einer anderen Welt, die Kontakt sucht. So was ist nie gut. Ich sollte diesen Ort aufsuchen. Aber ... nach meinem linken Ellenbogen zu urteilen, ist dort schon eine Hexe ..."
"Sie wird sich um alles kümmern", erwiderte eine kleine und derzeit noch geheimnisvolle Stimme neben Fräulein Ticks Beinen.
"Nein, das kann nicht sein. Dort drüben ist Kreideland", sagte Fräulein Tick. "Auf Kreide kann keine gute Hexe wachsen. Das Zeug ist kaum härter als Ton. Damit eine Hexe wächst, braucht man guten, harten Fels, glaub mir." Fräulein Tick schüttelte den Kopf, und Regentropfen stoben davon. "Aber normalerweise ist auf meine Ellenbogen Verlass."
"Warum darüber reden? Lass uns aufbrechen und nach dem Rechten sehen", sagte die Stimme. "Hier geht es uns nicht besonders gut, oder?"
Das stimmte. Das Kreideland war nicht gut für Hexen. Fräulein Tick verdiente sich den einen oder anderen Cent mit Medizin, und indem sie wirklichwahrsagte. Die meisten Nächte verbrachte sie in Ställen oder Scheunen. Zweimal hatte man sie in einen Teich geworfen.
"Ich darf mich nicht einmischen", sagte sie. "Immerhin ist es das Revier einer anderen Hexe. So was klappt nie. Aber ..." Sie zögerte. "Hexen erscheinen nicht einfach so. Mal sehen ..."
Fräulein Tick zog eine von Sprüngen durchzogene Untertasse aus einer Tasche und gab etwas von dem Regenwasser hinein, das sich auf ihrem Hut gesammelt hatte. Dann holte sie eine Flasche mit Tinte aus einer anderen Tasche und ließ gerade genug auf die Untertasse tropfen, dass das Wasser schwarz wurde.
Sie wölbte die Hände darum, um den Regen fern zu halten, und hörte auf die Augen.
Tiffany Weh lag am Fluss auf dem Bauch und kitzelte Forellen. Sie hörte sie gern lachen. Dann stiegen kleine Luftblasen auf.
Ein Stück entfernt, wo das Flussufer einen kleinen Kiesstrand bildete, stocherte ihr Bruder Willwoll mit einem Stock herum und wurde dabei mit ziemlicher Sicherheit klebrig.
Willwoll wurde durch praktisch alles klebrig. Wenn man ihn fünf Minuten lang gewaschen und getrocknet in der Mitte eines sauberen Bodens sitzen ließ, war er klebrig. Es schien keine Quelle dafür zu geben. Er wurde einfach klebrig. Aber man konnte recht gut mit ihm umgehen, wenn man darauf achtete, dass er keine Frösche aß.
Ein kleiner Teil von Tiffany stand dem Namen Tiffany skeptisch gegenüber. Sie war neun Jahre alt und glaubte, dass es schwer sein würde, den Erfordernissen des Namens Tiffany gerecht zu werden. Außerdem hatte sie erst in der letzten Woche entschieden, dass sie Hexe werden wollte, und "Tiffany" passte einfach nicht zu einer Hexe. Die Leute würden lachen.

Ein anderer und größerer Teil von Tiffany dachte an das Wort "zischeln". Über dieses Wort dachten nicht viele Leute nach. Während ihre Finger eine Forelle am Kinn kitzelten, drehte sie das Wort im Kopf hin und her.
Zischeln ... Nach dem Wörterbuch ihrer Großmutter bedeutete es "ein leises Geräusch, wie ein Flüstern oder Raunen". Der Klang des Wortes gefiel Tiffany. Es weckte in ihr Vorstellungen von geheimnisvollen Personen in langen Mänteln, die hinter einer Tür über wichtige Geheimnisse flüsterten: zischelzischelzischel ...
Sie hatte das ganze Wörterbuch gelesen. Niemand hatte sie darauf hingewiesen, dass so etwas unüblich war.
Als sie daran dachte, merkte sie, dass die beglückte Forelle weggeschwommen war. Aber etwas anderes war im Wasser, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.
Tiffany sah einen runden Korb, nicht größer als eine halbe Kokosnussschale, mit etwas bestrichen, das die Löcher schloss und den Korb schwimmen ließ. Ein kleiner Mann, nur fünfzehn Zentimeter groß, stand darin. Er hatte zotteliges rotes Haar, in dem einige Federn, Perlen und Stoffstreifen steckten. Der rote Bart wirkte ebenso ungepflegt wie die Haare. Der Rest von ihm, der nicht mit blauen Tätowierungen verziert war, steckte unter einem kleinen Kilt. Der Mann schüttelte die Faust und rief:
"Potz Blitz! Kratz die Kurve, Mädel! Hüte dich vor dem grünen Ungeheuer!" (...)

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