Günther Bentele: "Augenblicke der Geschichte - Das Mittelalter"
Band 1
Das europäische Mittelalter war dem
Vernehmen nach nicht nur eine finstere Zeit, sondern, zuweilen besteht dieser
Eindruck, muss wohl auch eine recht langweilige Menschheitsepoche gewesen sein.
So und nicht viel anders ist es so manchem Zeitgenossen vom schulischen
Geschichtsunterricht her in Erinnerung. Denn dieser war nur allzu oft eine
wahrlich geistlose Pein, grau und fade, ob des einzig betriebenen Erwerbs
nutzloser Wissensversatzstücke wegen. Zu jener Zeit wurde lediglich des Schülers
gemartertes Gedächtnis mit Namen längst verblichener Fürstengeschlechter
gedrillt, sowie mit dazugehörigem abstraktem Zahlenmaterial gefüttert. Und so
kennt man sie für gemeinhin zwar, die Karolinger, Staufer, Welfen, Babenberger
und Habsburger. Man kennt sie, zumindest dem Namen nach. Doch was bedeutet das
schon? Sie stritten untereinander, wurden gekrönt, gestürzt und verstarben. Eine
Welt der Gewaltexperten, die raubten und plünderten und darob viel Ehr’
beanspruchten. Mehr als dieses, viel mehr weiß man für gewöhnlich
nicht.
Investiturstreit? Schon gehört. Römischer Papst und deutscher
Kaiser, man will meinen beide gar rühmliche Herren; sie waren sich uneins.
Warum? Wieso? Zum Anlass eines schulischen Tests wusste man dazu einstig Namen
und Jahreszahlen zu nennen. Für einige wenige Tage zumindest - man wusste ohne
zu begreifen; war ohne tiefer gehenden Begriff. Höchstens versiert in der
Wiedergabe von Überschriften. Über das geistige Elend der Schulzeit hinaus hat
man sich gerade einmal die Sache mit den Kreuzzügen gemerkt, soweit es dem
Klischeebild jener fernen Tage entspricht, und den erniedrigenden Bittgang von
König Heinrich IV. von Speyer nach Canossa zu Papst Gregor VII. im Januar 1077
(25.-28. Januar 1077). Jene Aufsehen erregende Unterwerfung des herrschaftlichen
Zepters unter das christliche Kreuz; als Synonym für jegliches
Erniedrigungsritual in die Umgangssprache unserer Tage eingegangen. Doch warum
musste jener König nach Canossa ziehen?
Ach ja, einer krasseren
Unbotmäßigkeit gegenüber den Wünschen des Heiligen Stuhls, es ging dabei
insbesondere um das von der weltlichen Herrschaft für sich beanspruchte Recht
auf die Ernennung von Kirchenfürsten, folgte der Kirchenbann - dieser bewirkte,
dass der König und alle, die in Loyalität zu ihm hielten, für ewig des Teufels
waren. Doch was bedeutete dieses Bewusstsein ewiger Verdammnis für den König und
seine Mannen jetzt ganz konkret? Führten diese fürderhin nicht ein Leben ohne
jegliche Heilsvision? Ein Dasein geworfen in tiefe Depression, gepeinigt durch
nagende Loyalitätskonflikte, alle Weilen durch ein beklemmendes Gefühl in der
Magengegend und Angstschweiß auf der Stirn gezeichnet. Wer es auf Gedeih und
Verderb mit dem antichristlichen Sünder am Königsthrone hielt, war der nicht
selbst noch unter den eigenen Geschwistern ein Geächteter? Dessen man sich
schämte. War es denn nicht so, dass er sich nicht einmal mehr im Orte seiner
Herkunft zeigen konnte? War er nicht für jeden, der noch mit ihm sein wollte,
selbst für sein eigen Weib und seine Kinder ein gefährlicher Fluch? Und wie
reagierten die Völkerschaften des dank antiker Bildung aufgeklärten Italiens auf
dieses, auf sein Dilemma? Belustigt über den Wichtigtuer in Rom?
Erheitert über den ob seiner Unmündigkeit verängstigten Landsknecht aus
deutschen Landen?
Günther Bentele, der sich mit vorliegendem Buch
entgegen seiner alternativen Grundintention ausdrücklich an den Lehrplänen für
den Geschichtsunterricht orientiert, also an jenem eher trostlosen Sammelsurium
abfragbarer, ergo abprüfbarer Jahreszahlen und prominenter Namen, stellt eben
diesem offiziösen Geschichtsbild eine Reihe von aus dem Leben gegriffenen
Geschichten und Legenden zur Seite. Eine Galerie frei erfundener Figuren, die
insoweit erfunden sind, als sie namentlich nie lebten, ihren Realitätsgehalt
jedoch aus ihrer typologischen Prägnanz beziehen, geleitet den Leser durch die
mit Sternstunden mittelalterlichen Zeitgeschehens verknüpfte Kurzprosa des
Autors. Bei den agierenden Personen handelt es sich nicht um historische
Subjekte, um wirkmächtige Einzelne, sondern um fühlende, leidende oder auch
hartgesottene, teils unglückliche, teils glückliche Menschen, aus der Sicht
einer herrschaftlichen Auffassung von Geschichte allemal Randexistenzen, zu
denen die Geschichtsbücher schweigen, sohin um Angehörige aller Stände, Bauern,
Bürger, Rittersleute und Adelige, die, bei aller charakterlichen
Unterschiedlichkeit, vermittels ihrer unverbrüchlichen Menschlichkeit dem
historischen Umstand Herz und Seele verleihen. Denn Geschichte ist und sollte
immerzu Ausdruck eines in Fluss befindlichen Lebens sein, derart spannend und
unterhaltsam, blutwarm wie das Leben selbst, und zum Resümee Manifest einer zum
Erfahrungsschatz der Menschheit geronnenen kollektiven Erinnerung.
Bei
dieser Gelegenheit stellt der Autor auch gleich das eine oder andere vertraute
Schul- und Buchwissen auf den Kopf, denn nicht alles verlief immer so, wie es
von den Kathedern gelehrt wird. Real sind widerstreitende Geschichtsbilder und
nicht nur ein einziges unumstrittenes Geschichtsbild - eingebettet in ein
tabuisiertes Wahrheitsmonopol. Was letztlich wahr ist, ist oftmals eine Frage
bloßer Durchsetzungskraft von Wahrheit, im Ringen mit konkurrierenden
Wahrheiten. Der Papst, als weltliche Großmacht des Geistes, als spiritueller
Wahrheitsmonopolist, hatte im Mittelalter weitaus mehr Gelehrte in seinem
Gefolge, als der deutsche König, die Wissenschaft war über eine lange Zeit der
Kirche Magd, und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich des deutschen
Königs Zug nach Canossa im allgemeinen Geschichtsbewusstsein der Nachwelt als
bittere Erniedrigung des weltlichen durch den geistlichen Fürsten zur
Darstellung bringt. Tatsächlich jedoch, ich bringe dieses Beispiel zur
Demonstration, wendet Günther Bentele ein, war der König mit gleichermaßen
massiver wie streitlüsterner Heeresmacht vor Canossa aufmarschiert, die Streiter
rekrutiert aus aufgeklärtem und deswegen nur mäßig gottesfürchtigem
Lombardenvolk, mit, wenn auch nur in symbolischer Manier, blank gezücktem
Schwert forderte er in gar nicht so demütiger Gestik seine Loslösung vom
Kirchenbann, und was bis in unsere Tage hinein die Geschichtsschreibung als
Triumph der Kirche zu Rom darstellt, ist weniger die getreue Wiedergabe eines
Ereignisses, denn viel mehr die unkritische Perpetuierung eines päpstlichen
Geschichtsbilds, listig konstruiert zwecks eigennütziger Propaganda, eine
wirkmächtige Legendenbildung gewiss, welcher aber nichtsdestotrotz der Makel
einer Zurechtfälschung von gewesener Wirklichkeit anhaftet.
Das
Mittelalter aus der Sicht von fiktiven Augenzeugen, wiedergegeben über spannende
Erzählungen, ergänzt um sachkundige Einleitungstexte, so lässt sich "Augenblicke
der Geschichte - Das Mittelalter" kurz und bündig charakterisieren. Grausame
Raubritter und nicht weniger grausame Ritter des Kreuzes tummeln sich hierin.
Wie denn auch wegen ihres Elends bedauernswerte doch ob ihrer ungehobelten
Wesensart abstoßende Bauern, machtgierige Familienclans, charismatische
Herrscher und sittsame Fräuleins, apokalyptische Horden aus den Weiten des
Ostens, eine Verheerung dem Lande, doch als göttliche Plage dem feinsinnigen
Eiferer als eine höhere Idee erscheinend, nebst verschlagenen Kaufleuten, den
Avantgardisten rationaler Denkart, und ob ihrer Verbannung in anrüchige
Betätigungsfelder als ruchlos stigmatisierte Juden, denen angesichts von
ethnischem Hass, Aberglaube und Geldgier das Wüten des schwarzen Todes ein
doppeltes Verhängnis ist - all dies und noch mehr ergibt in Summe das Panoptikum
einer längst verflossenen Zeit, welches, zumal kreatürlich erlebt und erlitten,
ob seiner tragischen Momente mehr denn je dem Leser das Bild einer irgendwie
fernen und doch so vertrauten Welt anschaulich werden lässt. Bildung und
Unterhaltung zugleich, über originelle Einfälle in Szene gesetzt - kleine
Delikatessen für literarische Feinschmecker.
Kurzum: Ein gefälliges Buch
für Jung und Alt. Genüsslich. Wohl bekomm's!
(Harald Schulz; 04/2006)
Günther Bentele: "Augenblicke der Geschichte - Das
Mittelalter"
cbj Verlag, 2006. 304 Seiten. (Ab 12 J.)
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Günther Bentele, geboren 1941 im
schwäbischen Bietigheim, ist Lehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte, Ethik
und Philosophie. Er veröffentlichte zahlreiche historische Kinder- und
Jugendbücher, die von Kritikern wie Lesern begeistert aufgenommen
wurden.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Blutiges
Pergament"
Jana und ihr Freund Jakob entdecken einen alten Blutfleck in
einem wertvollen mittelalterlichen Pergament. Als Jakob anonyme Drohanrufe
erhält und Janas Vater, der das Dokument erforschen soll, plötzlich
verschwindet, ahnen sie etwas von der brisanten Vergangenheit der blutigen
Handschrift. Jana und Jakob stellen Nachforschungen an. Und entlarven zwei
perfide Intrigen, von denen eine fast 700 Jahre alt ist. Ein spannender Krimi,
der tief ins Mittelalter führt! (Ab 12 J.)
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"Dunkle Zeichen"
Der einzige
Besitz des elternlosen Arbogast ist ein geheimnisvolles Pilgerzeichen. Als immer
wieder unerklärliche Anschläge auf sein Leben verübt werden, erkennt Arbogast,
dass dieses Abzeichen nicht nur der Schlüssel zu seiner eigenen dunklen Herkunft
ist - es wird ihn auch auf die Spur des Attentäters führen ... (Ab 12
J.)
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"Der Feuerbaum"
Wie baut man
das "richtige Haus"? Diese Frage lässt den Zimmermann Ulrich nicht mehr los.
Seine Wanderschaft wird zur Wahrheitssuche in den Zeiten von Reformation und
Bauernkrieg, wo heute falsch ist, was gestern richtig war. (Ab 12 J.)
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"Schwarzer Valentinstag"
Eine
finstere Intrige aus dem Mittelalter. Stuttgart, 1347: Auf der Suche nach den
Schuldigen am Tod seines Vaters verliebt sich Christoph in ein jüdisches
Mädchen. Doch die Zeiten sind gefährlich: Die Pest bricht aus, und man gibt den
Juden die Schuld ... (Ab 12 J.)
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"Das große Spiel des Herrn
Trabac"
Bietigheim 1780. David weiß, dass eine glänzende Zukunft vor ihm
liegt. Schließlich ist er der Sohn des Oberamtsmannes und wird Karriere machen.
Doch plötzlich findet er sich im Gefängnis wieder! Zunächst glaubt David noch an
eine Verwechslung. Aber der geheimnisvolle Herr Trabac, der auf einmal in seiner
Zelle steht, raubt ihm die letzte Hoffnung. Die einzige Möglichkeit, den Kopf
aus der Schlinge zu ziehen, ist unter die Räuber zu gehen! (Ab 13 J.)
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"Die zwei Leben der Isolde
G."
Ein gefälschter Ausweis ermöglicht Isolde 1938 die Rückkehr nach
Deutschland. Doch bei ihrem Vater kann sie nicht bleiben, denn niemand darf
wissen, dass Isolde Jüdin ist. Um zu überleben, muss sie ein Doppelleben führen.
(Ab 13 J.)
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