Clive St. Lewis: "Die Chroniken von Narnia"

Der Prachtband zum Film


Durch den Holzschrank zur schrankenlosen Fantasie

Für einen Tolkien-Anhänger ist es ein hartes Stück Arbeit, die eigene Objektivität soweit zu kalibrieren, als dass sie ihrem Namen gerecht wird. Denn Meister J.R.R. hielt nicht viel von den Narnia-Chroniken seines (lange guten, dann nicht mehr so guten) Freundes C.S. Lewis. Und auch Philip Pullman lässt kein gutes Haar an der Mähne von Aslan, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird. Widersprüchlichkeiten in der Handlung und fundamentalistische Verklärung des Christentums sind nur zwei der Vorwürfe an den in Belfast geborenen und in Oxford tätig gewesenen Literaturgelehrten Clive Staples Lewis (1898-1963).

Geben wir C.S. Lewis eine Chance für sich selbst zu sprechen, durch Lektüre seines Werkes und durch ein paar Hinweise auf seine Person. Schon als Kind schwelgte er in fantastischen Welten, so annektierte der zehnjährige Nordire den elterlichen Dachspeicher und verwandelte ihn in das Reich Boxon. Verborgen hinter staubigen Kisten und verpacktem Tand las C.S. Märchen. Im Alter von 16, wenn andere Jungmänner den Nachbarstöchtern freizügige Träume widmen, begann sich in seinem Kopf ein ganz anderes Bild zu verfestigen: das eines Fauns, der in einem verschneiten Wald mit Regenschirm und Päckchen unterm Arm unterwegs ist. 36 Jahre danach wird dieser bocksfüßige Gesell als Herr Tumnus eine wichtige Rolle in der Geschichte der fantastischen Literatur einnehmen.

Damit sind wir anno 1950 angelangt, als Lewis "Der König von Narnia" ("The Lion, the Witch and the Wardrobe") veröffentlichte, den ersten (aber inhaltsbezogen zweiten) von insgesamt sieben Bänden der "Chroniken von Narnia". Der eigentliche erste Teil, "Das Wunder von Narnia" ("The Magician's Nephew") kam erst 1955 raus. Dazwischen lagen die Episoden III-VI: "Der Ritt nach Narnia" ("The Horse and his Boy", 1954), "Prinz Kaspian von Narnia" ("Prince Caspian", 1951), "Die Reise auf der Morgenröte" ("The Voyage of the Dawn Treader", 1952) sowie "Der silberne Sessel" ("The Silver Chair", 1954). Den Abschluss machte "Der Große Kampf" ("The Great Battle", 1956), in dem eine apokalyptische Auseinandersetzung im Stile des letzten Buches der Bibel, der Offenbarung, das Ende von Narnia bewirkt. Im vorliegenden Prachtband hat Ueberreuter alle sieben Episoden vom Anfang bis zum Ende der fernen Fantasiewelt in einer Ausgabe vereint: die Textblöcke sind farblich ansprechend umrahmt und durch witzige Illustrationen von Pauline Baynes aufgelockert - ein sehr kindgerechter Zugang zum schicksalsschwangeren Inhalt.

Clive Staples Lewis hat seine "Chroniken von Narnia" in einer recht eigenwilligen chronologischen Realität fixiert: Nach Erdenjahren gerechnet beginnen die Erzählungen 1900 und reichen bis 1952, in Narnia tickt die Uhr derweil anders - dort sind im selben Zeitraum 2555 Jahre verstrichen. Maßgeblich zum Entstehen des religiös verbrämten Epos haben zwei kriegsbedingte Ereignisse aus Lewis' Leben beigetragen: 1917 befand sich der Autor im Somme-Tal an der französischen Front gegen die Deutschen, was ihn im Angesicht des jederzeit möglichen Todes dem christlichen Glauben näherbrachte, den er "vom philosophischen Standpunkt nicht mal für die beste Religion" hielt. Einen Weltkrieg später, 1940, bombardierte die deutsche Luftwaffe London. Das fand Niederschlag in "Der König von Narnia", wo die vier Pevensey-Kinder von ihrer Mutter aufs Land in Sicherheit geschickt werden und dort durch einen geheimnisvollen alten Wandschrank nach Narnia gelangen.

Alle sieben Bücher hier zu rezensieren, nähme wohl vielen den Impetus zum selbstständigen Erforschen und Erkunden des Kosmos von Narnia. Ein Hinweis scheint aber unerlässlich: Um die verwinkelten Zusammenhänge und vielen kleinen Kuriositäten besser zu verstehen, sollte unbedingt mit "Das Wunder von Narnia" zu lesen begonnen werden. Darin nimmt mit den Kindern Polly Plummer und Digory Kirke am Dachboden (!) des schrulligen Zauberers Andrew Ketterley alles seinen Ursprung. Eine Schatulle aus Atlantis, Staub aus einer fernen Welt oder Teleportationsringe in grün bzw. gelb zu Teichen zwischen Zeit und Raum bilden erst den Anfang. Wer wissen will, wie eine Londoner Straßenlaterne in einen verschneiten Faunwald gerät, dem geht bald ein Licht auf. Faszinierendste Figur ist Königin Jadis, die spätere böse Weiße Hexe. Einst regierte sie auf der Welt Charn, die durch eine sterbende Sonne in unwirkliches Rot gehüllt war, und lieferte sich einen erbitterten Bürgerkrieg gegen die Heere ihrer Schwester. Durch Erwähnung des "unaussprechlichen Worts" (Lewis' märchenhafte Form der Atombombe) wurde Charn von Jadis dem Untergang preisgegeben. Polly und Digory bringen die fröstelnd schöne Hünenhexe ohne zu wollen nach England und von dort nach Narnia. Nachdem Jadis in den unwirtlichen Norden der Wunderwelt zurückgedrängt worden ist, besteigt der einstige Londoner Kutscher Frank als erster Mensch den Thron von Narnia - eine der typisch britischen Anekdoten aus Lewis'scher Feder.

Zurück zum schweren Wandschrank, der - ganz nebenbei - aus einem paradiesischen Apfelbaum gezimmert ist. Als die kleine Lucy Pevensey beim Versteckspiel in ihn klettert, plumpst sie im verschneiten Narnia heraus, wo wegen Jadis' böser Umtriebigkeiten ewiger Winter ohne Weihnachten herrscht (dafür kurvt der Weihnachtsmann durch die Zauberwelt, ein fantastisches Faktum, von Tolkien als unsinnig bekrittelt). Nach anfänglichem Zweifel folgen die älteren Geschwister Edmund, Susan und Peter dem Nesthäkchen durch das (Aslan sei gelobt!) nicht-wurmstichige Wurmloch gen Narnia nach. Dort versucht die Weiße Hexe die Vier in ihre Gewalt zu bekommen und zu ermorden, denn eine alte Prophezeiung besagt, dass zwei Evastöchter und zwei Adamssöhne ihrer Herrschaft ein Ende bereiten werden. Sprachbegabte Biber helfen den Erdenkindern, ein ruchloses Rudel Wölfe (Schande über C.S. Lewis, dieses Klischee zu strapazieren!) jagt sie. Katz-und-Maus-Spiel pur, bis Aslan das Märchen betritt. Zu seiner Person: mächtiger, majestätischer Löwe mit messianischem Auftrag. Am Ende der Geschichte treten sich in Tolkienscher Manier zwei Armeen von Gut und Böse entgegen. Zentauren, Faune und allerlei edle Wildtiere rittern gegen Minotauren, Riesen oder bösartige Zwerge, um nur einige der wie Sand am Meer kumulierten Unholde anzuführen. Ehe noch die Schlacht beginnt, überantwortet sich Aslan freiwillig den dunklen Heerscharen und wählt den Opfertod, um Edmund, der zum Verräter geworden war, vor dessen gerechter Strafe zu bewahren. Die Ermordungsszene auf dem Stonehenge ähnlichen (bösen, heidnischen) Opferstein, treibt US-Fernsehpredigern sicher Tränen aus den Augen, gemahnt sie doch mehr oder minder sublim an Golgotha. Aslan, eine Großkatze zwischen Richard Löwenherz und christlichem Heilsbringer ...

Sicher, C.S. Lewis treibt es manchmal arg auf die Spitze, was Anklänge an religiöse Denkgebäude betrifft, trotzdem haben "Die Chroniken von Narnia" Potenzial, auch im nicht-angelsächsischen Raum ein Kinderbuchklassiker zu werden. Die ewig aktuelle Geschichte vom Ringen Gut gegen Böse; das Hoffen, dass David Goliath erneut bezwingt, die Freundschaft zu magischen Kreaturen - all das beflügelt Kindersinne und lässt kleine Herzen ganz groß schlagen. Narnia ist sicher keine Mittelerde, will es auch gar nicht sein, aber immer noch besser ein paar Bretter, die zum Faun mit Regenschirm führen als ein fantasieloses Brett vorm Kopf.

(lostlobo; 02/2006)


Clive St. Lewis: "Die Chroniken von Narnia"
Mit handkolorierten Illustrationen von Pauline Baynes.
Ueberreuter, 2005. 444 Seiten.
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Weitere Werke des Autors (Auswahl):

"Die Perelandra-Trilogie"

Der Darstellung von feindseligen Außerirdischen und eines fremden Kosmos begegnete C.S. Lewis seinerzeit mit dem Weltraumepos "Krieg der Welten", in dem der Mensch die Bedrohung des Alls darstellt und die Erde der "Schweigende Stern" ist, über dem ein unheilvoller, undurchdringlicher Nebel wabert. Die unfreiwillige Reise des gelehrten Helden Ransom geht zunächst nach Malakandra (Mars) und Perelandra (Venus), wo aufstrebende, rücksichtslose Forscher Anregungen für die Fortentwicklung der Menschheit zu finden hoffen. Zuletzt wird die Erde selbst zum Zentrum des apokalyptischen Endkampfs zwischen Gut und Böse im Universum. (Brendow)
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Zusätzliche Lese- und Hörtipps:

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