Klara Fall, Heide Stöllinger: "Die Kuh Nigunde"

Ein klarer Fall von Mu(h)senkuss!


Formatfüllend räkelt sich die Kuh Nigunde unter rosaroten Wölkchen - und träumt. Von saftigen Wiesen etwa? Oder von einem strammen Stier? Weit gefehlt! Nigunde will hoch hinaus: Seiltanzen ist ihre Leidenschaft.

"Die Kuh Nigunde wollte tanzen,
auf einem Seil, hoch überm Feld.
Und wenn sie träumt' beim Wiederkäuen,
hat sie sich's immer vorgestellt."

Von ihren Artgenossen argwöhnisch beäugt, schminkt sich Nigunde, schlüpft in ein neckisches getupftes Kleidchen mit Rüschen und schnappt sich einen farblich passenden Schirm. Nigunde erklimmt eine Fichte, um auf das zwischen den Bäumen gespannte Seil zu gelangen, wo sie grazil, (nach kuhlichem Ermessen freilich), balanciert. Da sind die Hühner platt vor Staunen, der massige schwarze Stier grinst amüsiert (hat er womöglich unter Nigundes Rüschenkleid gespäht?), die Hasen starren teils ängstlich, teils begeistert zu Nigunde hinauf, die in traumwandlerischer Sicherheit hingebungsvoll immer gewagtere Kunststückchen vollführt: hoch das Bein, Luftsprünge, Pirouetten! Noch schweben liebliche rosarote Wölkchen über Nigunde.
Doch vor dem Strecksprung, die versammelte Zuschauermenge wartet in atemloser Spannung, passiert etwas. Man sieht der akrobatischen Kuh die Bedrängnis an, mit schreckgeweiteten Augen fühlt sie das Unheil nahen: Schluckauf! Dunkelgraue Wölkchen sind aufgezogen, und - oh weh! Nigunde stürzt vom Seil!
Die Zuschauer eilen entsetzt auseinander; der Pfau im Sturmschritt, die Hühner rudern mit ihren Flügeln, um schneller aus dem Gefahrenbereich zu entkommen, denn immerhin ist eine herabfallende Kuh keine Kleinigkeit!
Nigundes Grazie ist verflogen, mit heraushängender Zunge, alle Viere weit von sich gestreckt, saust die Kuh zu Boden.
Und da liegen sie dann: der völlig erschöpfte Hase, der Pfau, dessen Schwanzfedern unter Nigundes Körper eingeklemmt wurden, und der Hühnerschar ist es nicht besser ergangen ("... auch Hahn und Hase leiden sehr ..."). Mit sorgenvollen Gesichtern betrachten zwei Kühe die Unfallstelle aus sicherer Entfernung.
Ein Glück, dass Dr. Omedar, logischerweise ein weißbekittelter Einhöckriger, sogleich zur Stelle ist! Gekonnt versorgt er die Verletzten: geknickte Schwanzfedern werden bandagiert, auch der beleidigte Hahnenhals wird verbunden, und Nigunde bekommt eine Spritze. Ganz zerstört sitzt sie inmitten des Schlachtfeldes.

Aber halt! Alles war ein Traum. Nigunde erwacht, umringt von wiederkäuenden Artgenossen, die alles in allem ziemlich dumpf dreinschauen. Sie stützt sich auf einen Ellenbogen und mustert ihre Umgebung schlaftrunkenen Blickes.
Und schon versenkt sich Nigunde wieder in ihren Traum vom Seiltanzen, in Rückenlage, die Vorderbeine lässig über der Brust verschränkt, von rosaroten Wölkchen umgeben.

Erneut ein köstliches Buch von Heide Stöllinger; eine hintergründige Geschichte, wunderbar gezeichnete Tiergestalten, lustige Reime in großer Schrift.
Ein Plädoyer für Müßiggang und Tagträume!

(Anja; 02/2004)


Klara Fall, Heide Stöllinger: "Die Kuh Nigunde"
Jungbrunnen, 2004. 40 Seiten. (Ab 4 J.)
ISBN 3-7026-5757-6.
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