Ingeborg Gleichauf: "Jetzt nicht die Wut verlieren"
Max Frisch - eine Biografie
Vom
schreibenden Architekten zum
schriftstellerischen Wühltier
Peter Suhrkamp hatte von seiner ersten Begegnung mit Max Frisch im Jahr
1950
folgenden Eindruck: "Unbedingt
ein Dichter - was daraus werden mag, muss sich zeigen." Nicht
nur einen
Schriftsteller sah der deutsche Verleger in dem damals
39-jährigen Schweizer,
sondern einen Dichter! Ingeborg Gleichauf, die u.A. bereits
über Simone de
Beauvoir und Hannah Ahrendt zwei wundervolle Biografien
geschrieben hat, ergänzt:
"der mit den Augen schreibt, dessen Beschreibungen so sinnlich
sind, dass einem beim
Lesen die Augen aufgehen, dass man das Gefühl bekommt, nicht
selbst sehen zu müssen,
um eine Vorstellung zu bekommen. Die Sprache macht sichtbar."
Schreibt sie
wirklich über Max Frisch?
Max Frisch, der Name begegnete einem bereits in der Schulzeit. Sein
"Homo
faber" war vielerorts Pflichtlektüre, vielleicht auch seine
Theaterstücke
"Andorra" oder "Biedermann und die Brandstifter". Doch wie so oft galt
es damals einen Text zu analysieren und auszuinterpretieren: Was wollte
uns der
Schriftsteller damit sagen? Welche versteckte Botschaft ruht in seinen
Werken?
Selbstständige Herangehensweisen und individuelles Lesen waren
nicht gefragt.
Max Frisch bekam den Nimbus des Altmodischen, des ungeliebten
Schulbuchklassikers:
"unbeweglich,
verstanden, eingeordnet", schreibt Ingeborg Gleichauf. Doch
in seinem
Tagebuch bemerkte die Autorin auf einmal einen ganz anderen Frisch,
einen
blumigen, bilderreichen Autor, einen Poeten: "Drunten,
hinter einem Gitter von Reben, glimmert der See. Die Sonne verrostet
schon im
Dunste des mittleren Nachmittags, und dann der Heimweg ohne Mantel, die
Hände
in den Hosentaschen, das feuchte Laub, das nicht mehr rascheln will,
die Gehöfte
mit einer Trotte, die tropfenden Fässer in der
Dämmerung, die roten Laternen
einer Schifflände im Nebel -."
Ingeborg Gleichauf entdeckte den Schweizer neu für sich. Sie
schaut ins
Innere der Person Max Frisch und kommt ihr damit sehr nahe. "Das
ist wichtig!", hört sie ihn immer wieder sagen. "Damit
ja nicht vergessen wird, das aufzuschreiben, was wirklich wichtig ist."
Die
Annäherung an Frisch gestaltet sie sehr persönlich,
der wissenschaftliche
Anspruch steht nicht an erster Stelle. Gleichauf erzählt dem
Leser die
Lebensgeschichte des Schweizers chronologisch und beleuchtet
erklärend.
Schlaglichtartig treten einzelne Facetten seiner
Persönlichkeit hervor: Seine
Kindheit wird nur kurz angeschnitten. Er beginnt ein
Germanistikstudium, wechselt
jedoch zur Architektur. "Ihn
interessiert die Spannung zwischen dem eher Berechenbaren, der Arbeit
am Reißbrett,
und dem eher Unberechenbaren, der Arbeit am Roman." Aber das
Schreiben
gewinnt letztendlich doch die Oberhand. Nach seinem Romanerfolg "Stiller"
wird es gelebte Berufung.
Gedanken in Worte zu fassen bedeutet für Max Frisch mit dem
Seltsamen des
Lebens umzugehen, "sich
vor allem sprachlich damit auseinanderzusetzen." Auf
"Seltsamkeiten"
wird er fortwährend treffen. Bedingt vielleicht ob seiner
eigenen Zerrissenheit
und Sehnsucht. Zeitlebens bleibt er ein Zweifelnder und Suchender: Vom
ersten
journalistischen Schreiben bis hin zur künstlerischen
Unabhängigkeit, vom
Ausbruch aus der bürgerlichen Kulisse seiner ersten Ehe,
über die Beziehung
mit
Ingeborg Bachmann bis hin zu seiner zweiten Ehe mit Marianne
Oellers, die
auch nicht halten wird. Als ein ständiges Suchen nach sich
selbst, ein Finden
des eigenen Sprachrhythmus, könnte man seine Biografie
bezeichnen. Auch seine
vielen Reisen zeugen davon. "Nichts
ist dem Menschen so fern wie das eigene Ich, er ist sich selbst das
Fremde, und
daher kommt er sich gerade dann näher, wenn er in einen
großen Abstand zu sich
tritt. Reisen in entfernte Gegenden können diesen Prozess
begünstigen",
schreibt die Biografin. Sein Blick für gesellschaftliche
Veränderungen, für
politische Ereignisse und Entwicklungen wird dabei immer wacher.
Max Frisch in eine Schublade zu stecken fällt schwer. Seine
Arbeit hört nie
auf, vielfältig zu sein, experimentell und nicht festgelegt
auf ein Thema oder
eine Gattung. Prosa, Theater, Film, Essay, Tagebuch ... der Schweizer
bewegt sich
zeitlebens geradezu mäandrierend zwischen den Genres. Vor
allem seine Bühnenfiguren
üben eine besondere Faszination aus, weil sie in ihren Rollen
nicht aufgehen
und immer ein Rest, etwas Ausgespartes bleibt. Der Schweizer wehrt sich
dagegen,
festgenagelt zu werden, einen "Standbildcharakter" zu bekommen. "Aber
für Frisch gilt wie für jeden Autor, jede Autorin von
Rang: Das Poetische
entzieht sich, zeigt die Rückseite bekannter Bilder, verzerrt
sie, gibt sie aus
dem ihnen zugedachten Rahmen, durchkreuzt die Schrift, lässt
Buchstaben
verschwinden, setzt an ihre Stelle andere Buchstaben." Die
letzten Worte
am Sarg, gesprochen von Peter Bichsel, seinem langjährigen
Freund, sprengen
noch einmal den Rahmen, in dem Frisch bereits fest zu ruhen schien: "Wir
wollen versuchen, es denen schwer zu machen, die dich als Klassiker
ablegen möchten.
Komm, bleib bei uns. - Wir werden dich lesen. Aber Max ist tot. Jetzt
nur nicht
die Wut verlieren."
Das Buch - ergänzt durch zahlreiche Fotos - liest sich leicht,
fast wie ein
Roman, und ist doch sehr detailgenau und differenziert. Es spricht
daher ganz konkret auch jugendliche Leser an. Gewissermaßen
erlebt man
Frischs Leben - jede Reise, jede Beziehung, jede neue Erfahrung, jedes
literarische Projekt - noch einmal mit seinen eigenen Augen. Es ist
Ingeborg
Gleichauf ohne waghalsige Spekulationen, aber durchaus mit kritischem
Abstand,
gelungen, Frischs einzelne Lebensabschnitte mit seinen jeweiligen
Romanen,
Theaterstücken oder Schriften zu verzahnen: eine durchgehend
geschickte
Verflechtung von Beschreibung und Analyse, ein authentisches Werk, das
sich
stellenweise wie eine Autobiografie liest. "Das
ist wichtig!", hört nun auch der Leser Max Frisch
sagen. "Damit
ja nicht vergessen wird, das aufzuschreiben, was wirklich wichtig ist."
(Heike Geilen; 08/2010)
Ingeborg
Gleichauf: "Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch - eine
Biografie"
Nagel & Kimche, 2010. 271 Seiten. (Ab 13 J.)
Buch
bei amazon.de bestellen
Weitere
Buchtipps:
Volker Weidermann: "Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher"
Volker Weidermann hat sich zu ihm bekannt. "Ich liebe seine
Bücher",
schrieb er in "Lichtjahre" über Frisch, und jetzt hat er seine
Biografie
geschrieben. Die Geschichte eines Jahrhundertlebens und einer
ungebrochenen,
geheimnisvollen und beglückenden Wirkung.
"Wir kennen Max Frisch, wenn wir seine Bücher kennen.
Wir kennen seine
Frauen und sein Leben, sein Unglück und sein Glück.
Und in Wahrheit kennen wir
natürlich nichts." Weil das so ist, brauchen wir
Einen, der in seinen
Büchern zu Hause ist und sich in sein Leben hineingearbeitet
hat. Volker
Weidermann hat sich an die Recherche gemacht, Archive
durchstöbert, Weggefährten
getroffen, Gespräche geführt und vor allem gelesen:
die großen Romane, die
Theaterstücke, die frühen Texte, die Briefe, die
Tagebücher. Und dann
geschrieben, voller Zuneigung und doch genau und kritisch, lebendig und
anschaulich, so dass sich ein facettenreiches und faszinierendes Bild
ergibt.
Es zeigt zunächst einen unsicheren jungen Mann, ohne Geld und
Erfolg, unglücklich
in seinem Germanistikstudium, aber voller hochfliegender
Pläne. Einen
Schriftsteller, der schlechte Bücher voll hohlem Pathos
schreibt, nationalen
Gedanken anhängt - ein geistiger Landesverteidiger am
Schreibtisch und in
Uniform. Der schließlich Architektur studiert und in diesem
Beruf nach kürzester
Zeit einen märchenhaften Erfolg feiert, der aber das Schreiben
nie sein lässt
und über das Theater und seine Freundschaft mit Bertolt
Brecht
schließlich zu
dem extrem modernen, kühnen, Ich-suchenden Weltschriftsteller
wird, den wir
heute kennen. Von "Bin oder die Reise nach Peking" (1945)
führt der
Weg über "Stiller", "Biedermann und die Brandstifter" und
"Homo Faber" bis nach "Andorra" und schließlich zu "Montauk"
und in den Weltruhm. Es ist das unglaubliche Leben eines vom Erfolg
Verwöhnten,
eines positiv Engagierten, eines großen Liebenden, eines
trotz allem mit dem
Leben Hadernden - das Leben eines der besten Schriftsteller deutscher
Sprache
des zwanzigsten Jahrhunderts. Und der Leser ist dabei, in den
Büchern und in
seinem Leben, bei ihm - dank seines begeisterten Biografen.
(Kiepenheuer &
Witsch)
Buch
bei amazon.de bestellen
Volker
Hage (Hrsg.): "Max
Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten"
(Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen
Daniel de Vin (Hrsg.): "Max Frisch" zur Rezension ...
Julian
Schütt: "Max
Frisch. Biografie eines Aufstiegs" (Suhrkamp) zur Rezension ...
Buch
bei amazon.de bestellen
Curt Riess, Esther
Scheidegger: "Café Odeon"
Am Sonntag, dem 1. Juli 1911, öffnete das "Grand
Café Odeon" um
18.00 Uhr erstmals seine Türen. Zahlreiche Schriftsteller,
Maler und Musiker
verkehrten regelmäßig im "Odeon" und verliehen dem
Café über
Jahrzehnte hinweg den Ruf eines Intellektuellentreffpunktes.
Lenin, Thomas und Klaus Mann, Albert
Einstein, Else
Lasker-Schüler, Frank Wedekind, Erich
Maria Remarque, Stefan
Zweig, James
Joyce, Max Frisch und Friedrich
Dürrenmatt gehörten zu den Gästen.
Ein Vertrauensmann der Emigranten war der Verleger des Europa Verlags,
Emil
Oprecht, der die Werke vieler Exilschriftsteller druckte und sie meist
ins
"Odeon" einführte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das
"Odeon"
ein Treffpunkt der Intellektuellen und Künstler und ist bis
heute eines der
bekanntesten Kaffeehäuser Europas. Lassen Sie sich begeistern
von den
Geschichten rund um das opulente Jugendstilcafé. (Europa
Verlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
Ursula
Priess: "Sturz
durch alle Spiegel. Eine Bestandsaufnahme"
Eine Frau und ein Mann haben den Sommer über miteinander
telefoniert, nun
treffen sie sich in
Venedig. Sie wissen fast nichts voneinander, aber schon bald
stellt sich
heraus, dass es in ihren Vorgeschichten fatale
Überschneidungen gibt. Der Mann
kannte Ingeborg Bachmann zu jener Zeit, als diese mit dem Vater der
Frau, Max Frisch, zusammenlebte. Je länger
die beiden durch Venedig schlendern, umso deutlicher wird ihr: Der Mann
muss
jenes nicht zu greifende Phantom gewesen sein, an dem ihr Vater in
seiner
Eifersucht
schier zerbrochen war. Die Begegnung in Venedig endet
verhängnisvoll.
Der Mann flieht, und die Frau stürzt durch alle bis dahin
sicher geglaubten
Selbstbilder. Die "Bestandsaufnahme" gibt ein bewegendes Zeugnis vom
Versuch der Tochter, die Beziehung zum Vater neu zu sichten. Ein
wahres, ein
wahrhaftiges Tochter-Vater-Buch. (btb)
Buch
bei amazon.de bestellen