Johannes Weinberger

PENTAGRAMM


1: Die Erbsünde

Ich betrete ein altmodisches Gemischtwarengeschäft.
Der Verkäufer steht hinter seinem Tresen und „ist“ ein älterer Herr; freundlich runzelt er mich an, ehrerbietig bereit, meine Wünsche zu erfüllen, sofern dies in seiner Macht liegt.
Ich sage: Ich hätte gerne einen Mundvoll Hornissen, bitteschön.
Der Alte starrt mich verdutzt an und öffnet seinen Mund, ohne etwas zu sagen. Dann besinnt er sich, legt seinen Kopf schief, lächelt wieder und sagt: Wie bitte?
Ich hätte gerne einen Mundvoll Hornissen, sage ich.
Er beginnt, langsam den Kopf zu schütteln. Ich verstehe nicht, sagt er, was wollen Sie?
Ich hätte gerne einen Mundvoll Hornissen, wiederhole ich, unerbittlich.
Das soll wohl ein Scherz sein, sagt der Verkäufer, schon leicht ärgerlich.
Ich hätte gerne einen Mundvoll Hornissen, sage ich. (Ich lasse mich nicht beirren.)
Was?
Bitte einen Mundvoll Rosinen.
Ah, macht er, und sein Gesicht hellt sich dankbar auf, Rosinen wünschen der Herr also!
Nein, einen Mundvoll Hornissen möchte ich, bitte, danke, entgegne ich.
Der Alte schüttelt wieder den Kopf, diesmal heftiger, als wollte er eine Fliege verscheuchen, die sich ihm immer wieder ins Gesicht setzt. Das ist nicht lustig, sagt er dann, sich verstohlen im Laden umsehend, ob er eine versteckte Kamera entdecken kann. (Natürlich befindet sich keine Kamera in diesem Laden, zumindest nicht, daß ich wüßte.)
Einen Mundvoll Hornissen, bittesehr, sage ich.
Der alte Mann greift in seine Hosentasche und holt sein Telephon hervor. Auf seinen blassen Wangen sind rote Flecken erschienen. Bitte verlassen Sie mein Geschäft, oder ich rufe die Polizei, murmelt er, betont gelassen.
Ich hätte gerne einen Mundvoll Hornissen, sage ich, ohne Gnade.
Der Verkäufer richtet sein Telephon auf mich, als wäre es eine Waffe. Eine Zeitlang sehen wir uns schweigend und reglos in die Augen. Ich spüre, daß er spürt, daß mit mir nicht zu spaßen ist.
Schließlich steckt er sein Telephon ein und beugt sich leise grummelnd unter den Tresen. Er legt eine kleine schwarze Plastikkiste vor mich hin, aus der ein fingerdicker, grüner Schlauch in bequemer Länge führt. Ich kann ein böses Summen hören.
Na eben, sage ich und lege das Ende des Schlauchs zwischen meine Lippen.
Ich sauge kräftig an und beinahe sogleich fühle ich das alte, alte, köstliche Gefühl lange entbehrter Geborgenheit sich in meinem ganzen Körper ausbreiten wie ein Spritzer Tinte in einem Glas Wasser.
(Man muß sich durchsetzen können, heutzutage.)



2: Die Liebe

Ich kann dir keineswegs sagen, wie es mir geht. Ehrlich, das ist vollkommen unmöglich. Nein, nein, nein. Es geht wirklich nicht, sei mir nicht krumm, äh, böse. Ich würde mir ja Mühe geben, wenn es einen Sinn hätte. Und fang mir jetzt nicht davon an, das ALLES einen Sinn hat, das ist ja herzzerreissend unangebracht in meiner Lage. Das wird nichts. Du kannst mich noch so oft fragen, ich bin nicht imstande dazu. Dir zu sagen, wie mein Befinden ist, meine ich. Was hättest du denn davon, wenn ich dir das vermitteln könnte? Ja, nichts. Und wieder nichts. Daß du dir Sorgen um mich machst, ist doch ein Gänsehaut hervorrufender Unfug. Du weißt ja noch nicht mal mit Sicherheit, ob es mich überhaupt gibt. Was soll also das Getöse. Heuchelei, wenn du mich fragst. Das Einzige, woran dir gelegen ist, mein Freund, ist es doch, die Form zu wahren, nur ja nicht vom vorgeschriebenen Ablauf der Dinge abzuweichen, das ist es, was zählt für dich, i ch bin dir dabei vollends gleichgültig, ich bin nichts weiter für dich als der Stichwortgeber in diesem jahrmillionenalten Drehbuch, stimmt doch, schau nicht so dumm. Ja, ich könnte in jedem Satz hundertmal das Wort „ja“ einbauen, die Stimmung würde sich nicht um einen Deut verbessern dadurch, das müssen wir uns eingestehen. Ganz zu schweigen davon, daß mein Befinden, wäre es für mich auch klar umrissen, was es nicht ist, ja schon von deiner Frage danach beeinflußt wird. Schluß mit der Heuchelei. Setzen wir einen Punkt, und dann nichts mehr, nichts weiter. Ende, endlich. Hör auf, dich an die Ordnung zu klammern, die andere Leute für sich erfunden haben, und nicht für dich. Was erwartest du von mir? Daß ich dir antworte: ja, danke, mir geht es ausgezeichnet? Oder: Naja, man lebt, kann nicht klagen, wird schon, wird schon, mit kleinen Schritten kommt man auch ans Ziel? Oder: Mir gehts beschissen, ich will nicht mehr leben, borg mir einen Zehner, damit ich mir Rattengift kaufen kann im Drogeriemarkt? Wird Rattengift überhaupt im Drogeriemarkt verkauft? Nicht mit mir, du Clown. Nicht mit mir. Ich spiele nicht mehr mit. Aus. Ihr könnt euren Zirkus ohne mich weiter aufführen, ich steige aus. Ich lasse mich nicht mehr zum Hampelmann erniedrigen von diesem Lügenkarussell, dem immer wieder neue Köpfe nachwachsen, unaufhörlich und inhaltsleer. Ich weigere mich, die kurze Zeit, die mir noch bleibt, mit dem bewußtlosen Ausführen von Verhaltensregeln, die einzig und allein den Zweck haben, daß die Menschen ihre eigene Stimme hören können, obwohl sie nichts zu sagen haben, zu verschwenden. Ja, da staunst du. Ich lege meine Ketten ab. Ich reiße meine Wurzeln aus. Ich ersteige meinem frühen Grab in aller Herrlichkeit. Und ich weiß ganz genau, was deine nächste Frage gewesen wäre, oh ja, nicht minder sinnlos als die erste und ebenso wenig überraschend. Du h ättest mich gefragt, was ich denn so mache, genau das hättest du mich gefragt, es ist so vorhersehbar, daß ich kotzen möchte, kotzen, kotzen, kotzen, bis wir bis zum Hals in meinem Mageninhalt stehen, und dann wird sich zeigen, wer gelernt hat zu schwimmen, wenn ihm das Halbverdaute bis zum Kragen steht und wer kläglich untergeht in seiner eigenen Angst. Beinahe hätte ich jetzt zu weinen begonnen aus Mitleid mit dir. Gut, daß ich mich beherrschen kann. Wäre ja noch schöner. Na gut. Unserer alten, sehr bald beendeten Freundschaft zuliebe, beantworte ich dir, bevor ich für immer meinen Blick von deinen vor Geistesarmut schlaff herunterhängenden Augenlidern abwende, deine beinahe gestellte zweite Frage:
Ich stehe tagein, tagaus aus meinem Bett auf, im Laufe des Vormittags meistens, und gegen Mitternacht lege ich mich wieder hinein in mein Bett, und warte.
Ich warte, bis es Zeit ist, wieder aufzustehen.



3: Die Freiheit

Sobald die ersten Menschen in die Freibäder aufbrechen, weil ihnen in ihren Wohnungen das Atmen schwerfällt, wenn also der Sommer angefangen hat zu beginnen, hole ich meine alten Eislaufschuhe aus dem Winterkasten und schnüre sie an meinen Füßen fest.
Das früher weiße, jetzt gelbliche Leder ist schon etwas brüchig, schon ein bißchen rissig, aber sie passen mir noch gut und sind noch ganz in Ordnung.
Das Kreischen der Metallkufen auf dem Asphalt ist eines der gräßlichsten Geräusche, die ich kenne.
Die Leute auf der Straße pressen sich die Hände auf die Ohren und öffnen ihre Münder zu einem lautlosen Schrei.
Manche sinken auf die Knie, auf den heißen Gehsteig, als würden sie beten, die Handflächen auf die Schläfen gedrückt.
Natürlich stürze ich sehr oft, weil der Asphalt sich nicht zum Eislaufen eignet und den Kufen unerbittlichen Widerstand leistet.
Das Blut läuft aus meinem Mund über mein Kinn in meinen Hemdkragen und sammelt sich in meinem Hosenbund.
Heute habe ich schon zwei Zähne, oder vielleicht nur Teile davon, ausspucken müssen, sonst hätte ich sie verschluckt.
Ich bin ein freier Mensch mit meinem freien Willen, und es steht mir frei, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, sage ich zu den Polizisten, die mich davon abhalten wollen, auf dem Gehsteig eiszulaufen.
Einer von ihnen schlägt mir mit einem Knüppel in die Magengrube.
Das tut eigentlich gar nicht weh, aber mir wird ein bißchen übel.
Der Sommer ist meine Lieblingsjahreszeit, denn Eislaufen ist mein Lieblingshobby.
Ist es schon gewesen, als ich noch ein ganz, ganz kleines Kind war.



4: Die Geburt

Ich bin geradezu erleichtert, das kühle Leder einer Couch unter meinen Handflächen zu spüren.
Nach und nach entsteht ein Wohnzimmer um mich herum, ein Teppich, Wände, andere Möbel, Tischdeckchen aus weißer Spitze. Jeden einzelnen Gegenstand muß ich mir ganz genau vorstellen, in allen Einzelheiten, um ihn mich halbwegs überzeugende Wirklichkeit werden zu lassen. Das geht schon sehr gut, nur bei den Fenstern habe ich Schwierigkeiten. Aus irgendeinem Grund kann ich mir keine Fenster deutlich genug ausdenken. Gleichgültig. Bleiben die Fenster eben verschwommene Flecken, durch die immerhin, wenn auch verwaschenes, Licht in den Raum dringt. Es reicht aus, um sehen zu können.

Noch eine Stehlampe, noch ein paar Bilder an die Wände, einen hübsch schimmerndern Luster aus Kristall von der Decke hängen, hauchdünne, lachsrosa Vorhänge, die sich sanft im leichten Wind bauschen, Fernseher brauche ich keinen.
Fertig.

Und jetzt will ich mich schon zufrieden in meiner mühselig erschaffenen Umgebung zurücklehnen und sie geruhsam betrachten, als mich eine Stimme aufschreckt, die Hallo! sagt.
Ich blicke auf, einen unterdrückten Schrei im Hals. Mir gegenüber, in einem altmodischen Ohrensessel, sitzt eine dunkelblonde Frau und lächelt mich freundlich an.
Guten Morgen, sagt sie, möchtest du eine Tasse Tee?
Wer sind Sie?, erwidere ich, entsetzt.
Ich bin deine Mutter, mein Lieber, erkennst du mich denn nicht?
Nein, sage ich, ich kann mich nicht erinnern, Sie mir vorgestellt zu haben.
Sei nicht böse, und trink ein Täßchen Tee mit mir, schnurrt die Fremde und tappt mit den Spitzen ihrer Finger dreimal leicht auf mein Knie.

Dieses Weib, denke ich panisch, kann nicht meine Mutter sein, sie ist viel zu jung dafür, ich habe mir meinen Körper längst erwachsen vorgestellt, im mittleren Alter, sie ist ja höchstens fünfundzwanzig, das paßt nicht zusammen, das stimmt nicht, irgendetwas ist hier eindeutig schiefgegangen, wo kommt diese Person her, ich habe sie nicht gemacht, ich habe sie nicht in mein schönes Wohnzimmer gesetzt, verflucht, was mache ich bloß, warum kann es nicht ein einziges Mal reibungslos ablaufen, was für ein Dreck etc.etc.

Aber die Frau ist weg, als ich erneut von meinem Knie aufschaue, über das sie gerade eben noch mit ihren rot lackierten Fingernägeln gescharrt hat. Der Ohrensessel, in dem sie gesessen hat, ist leer.

Die Leiche der Frau, die behauptet hat, meine Mutter zu sein, liegt jetzt auf dem Boden, mitten auf dem schönen Perserteppich. Sie befindet sich in einem fortgeschrittenen Zustand der Verwesung. Ihre Augenhöhlen sind leer. Die Vögel, denke ich. Ihre Gesichtszüge sind längst nicht mehr wiederzuerkennen, in ihren blauen Wangen sind Löcher, durch die gelber Knochen sichtbar wird. Ihre Fingernägel, an denen nur noch kleinste Spuren des roten Lacks haften, sind spiralförmig eingerollt.
Im Raum herrscht eine drückende Hitze. Eigentlich müßte ich einen ungeheuren Gestank wahrnehmen, denke ich, aber es riecht hier nach nichts. Ich habe keine Angst. Ich bereite mich darauf vor, langsam aufzustehen und dieses Zimmer zu verlassen (durch ein verschwommenes Fenster). Der rechte Arm der Leiche schnellt vom Boden hoch und bleibt im rechten Winkel zu ihrem Oberkörper in der Luft stehen, leicht zitternd. Ein dumpfes Rascheln kommt aus dem offenen Mund. Ich bin geradezu erleichtert, ich bin geradezu erleichtert, das kühle Leder einer Couch unter meinen Handflächen zu spüren.
Nach und nach



5: Die Wirklichkeit

Zuerst spüre ich den Boden aus Stein unter meinen nackten Füßen; dann meine Fingerspitzen an meinen Handflächen; meine Zungenspitze an meinem Gaumen; meine Lider über meinen Augäpfeln; eine Haarsträhne auf der Haut meiner Stirn.

Dann öffne ich die Augen.

Der dunkelgraue Steinboden erstreckt sich vollkommen flach in alle Richtungen, soweit ich sehen kann: er bildet jeden Horizont.

Der Himmel über mir ist weiß und leer.

Außer mir, wenn ich an meinem Körper entlangblicke, und dem Steinboden und dem weißen Himmel ist nichts zu sehen.

Ich trage ein weißes, weites Nachthemd, dessen Saum mir bis an die Fußknöchel reicht.

Ich streiche mit der Hand über mein Gesicht: ich bin glattrasiert und die Haut meiner Wangen ist straff und weich unter meinen Fingerkuppen.

Mein Gesicht ist das eines jungen Mannes.

Meine Nase ist gerade, meine Augenbrauen fühlen sich drahtig an und buschig.

Ich höre nichts als meinen Atem und das leise Rauschen meines Bluts in meinen Ohren.

Meine Augen finden keinen Anhaltspunkt in diesem scheinbar endlosen Raum.

Der Steinboden unter meinen nackten Füßen ist weder kalt noch warm.

Ich mache einen Schritt.

Dann noch einen, noch einen, und noch einen.

Ich gehe.

Ich bleibe wieder stehen, weil ich ohne einen Punkt, von dem aus ich die zurückgelegte Strecke messen könnte, den Eindruck habe, nicht vom Fleck zu kommen.

Ich drehe mich auf der Stelle im Kreis: der Steinboden, der Himmel, überall, bis ans Ende meines Blicks.

Dann gehe ich weiter.

Ich habe keine Erinnerung an ein Vorher und kein Bild von einem Nachher.

In meinem Kopf finde ich wieder nichts als den Steinboden und den Himmel.

Und ich gehe und gehe und bewege mich nicht von der Stelle, die die gleiche ist wie alle anderen möglichen Stellen auch.

Alles ist jetzt, immer, und totenstill.