Die Wandlungen der Wahrscheinlichkeit


Das Gerät sah aus wie ein Radio. Es war quaderförmig mit schmaler Grundfläche, so lang und hoch wie eineinhalb Handflächen, an seiner rechten Seite befand sich ein Drehknopf mit geriffelter Oberfläche. Wenn man ihn betätigte, bewegte sich ein roter Balken über die Anzeige, die aber nicht wie bei der Frequenzsuche von Radiowellen mit hohen Zahlen markiert war, sondern in Einser-Stellen voranschritt. Links begann es mit null und endete knapp vor der Zahl Sechsundvierzig. Die ausziehbare Antenne des Apparates, der aus schwarzem Kunststoff bestand, knickte man an vielen Gelenken, sodass sie möglichst rund war. Dieses Gerät war der einzige Prototyp. Er stand auf dem Tisch eines bis auf einen weiteren Stuhl unmöblierten Raumes. Auf dem Stuhl saß Fred. Fred war einer der Wissenschaftler, die den Apparat erdacht und gebaut hatten. Seine Antenne war ausgefahren. Der erste Testlauf würde in Kürze starten. Fred war konzentriert, er hielt die Augen geschlossen. Acht Jahre Arbeit steckten in dem unscheinbaren Gerät. Ob es wohl funktionieren würde, Fred auf eine Reise in seine parallelen Leben mitnähme, die durch seine Gedanken manifestiert würden, Gedanken, die er versucht hatte, möglich werden zu lassen, deshalb auch fast sechsundvierzig Teilstriche, denn Fred war beinahe sechsundvierzig, jeder Teilstrich markierte ein Jahr in der Vergangenheit des gehegten Gedankens? Liefe das Experiment wie geplant, sähe er sich selbst und die Personen, mit denen er interagierte, der Apparat brächte ihn an die Orte, an denen er sich zum jetzigen Zeitpunkt in alternativen Leben aufhielte, stellte er den roten Balken wieder auf null, wäre er zurück in diesem unveränderten.

Fred schaltete das Gerät ein, das sie intern als „Wahrscheinlichkeitenwandler“ bezeichneten. Die Luft um die Antenne knisterte. Er betätigte leicht den Drehknopf. Ein hochfrequenter Ton schwang, nicht laut, aber durchdringend. In Freds Augen verschwand der Laborraum. Er sah sich selbst und das Gerät, das er bediente, innerhalb eines weißen Tunnels, der von abgrundtiefer Schwärze umgeben war. Der rote Balken stand nun auf 1,5. Fred nahm den Finger vom Drehknopf. Die Schwärze löste sich auf wie Herbstnebel, der sich lichtet. Der Ton verstummte. Fred sah sich selbst, Madeleine, seine Frau, und ihre beiden Buben Oscar und Marius. Sie hielten sich in ihrem Haus in der Blumengasse 17 auf. Auf den ersten Blick schien alles vertraut unverändert. Er folgte seinem Alter Ego bei einem Gang durch das Haus. Da sah er in dem Zimmer, in dem zurzeit gebügelt wurde, einen Hometrainer stehen, auch war Fred im parallelen Leben schlanker als im tatsächlichen. Er erinnerte sich, dass er vor etwas mehr als einem Jahr beim „Hofer“ einen solchen Hometrainer gesehen und sich überlegt hatte, ihn zu kaufen, sich dann aber doch dagegen entschieden hatte. Auch waren einige Möbelstücke durch andere ersetzt, und Madeleine trug ein goldenes Armband in Form einer Schlange, das Fred in Wirklichkeit, um es exakt zu definieren, müsste man sagen, in jener Wirklichkeit, in der Fred sich befand, dann doch nicht erworben hatte, weil es zu teuer gewesen war. Fred stellte den roten Balken des Apparates auf null, in der Schwärze erschien der weiße Tunnel, der hohe Ton jaulte, er bewegte sich wieder zurück. Er stand still. Schematisch zeigte sich der Laborraum. Das Bild wurde schärfer. Fred war angekommen. Die Kollegen, die unterdessen von hinter einer von innen verspiegelten Scheibe zugesehen hatten, erzählten, dass Fred und der Wahrscheinlichkeitenwandler während des Testlaufes physisch nicht vorhanden gewesen seien, in der Startphase hatten sie sich aufgelöst und in der Rückkehrphase materialisierten sie wieder. Damit hatten sie gerechnet, die erste kurze Reise war völlig nach Plan verlaufen. Wie er sich fühle, wurde er gefragt. Ganz gut, nur etwas geschlaucht, vergleichbar mit dem Jetlag nach mancher interkontinentalen Flugreise. Was er gesehen, gehört habe, wollten seine Kollegen wissen. Und Fred berichtete, wie es war, dass er seine Familie und sich selbst im parallelen Leben wahrnahm, aber nicht berühren konnte, er hatte es bei seiner Frau versucht, seine Hand fuhr durch ihren Oberkörper, und sie bemerkte nichts. Der Reisende war ein Geist.

Fred ging zum Automaten, um sich einen Plastikbecher-Kaffee zu holen. Mary stand dort, sie ließ sich gerade einen hinunter. Mary aus Texas mit ihren „America first“-Ansichten, aber sie war hübsch und nett, etliche Kollegen hatten sich in sie verguckt, und auch Fred verbrachte gern ein wenig Zeit mit ihr, sei es nur plaudernd beim Kaffeeautomaten. „Hi, Mary.“ „Hi, Fred.“ Pause. „Ich habe gehört, es hat funktioniert“, stellte sie fest. „Ja, das kann man wohl so sagen.“ „Und du gehst gleich wieder auf die Reise? Hast du denn keine Angst?“, fragte sie. „Angst, wovor denn?“ „Na, ich weiß nicht“, meinte sie, „es ist so gegen die Natur, es gibt vieles, was danebengehen könnte.“ Irgendetwas ist anders, dachte Fred, irgendeine Kleinigkeit ist anders an ihr. Er hatte Mary schon vor der kurzen Reise auf dem Gang getroffen, und sie hatte ihm „Good luck“ gewünscht. Irgendeine unbedeutende Nebensächlichkeit an ihrer Kleidung fehlte nun oder war hinzugekommen. Er musterte sie: Jeans, Pulli, Adidas-Retro-Schuhe, Laborkittel, alles wie vorher. „Fred, was ist los?“, fragte sie besorgt. „Ach, nein, es ist nichts, danke der Nachfrage“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll, Fred“, Mary ließ nicht locker, „Siehst du etwa etwas an mir, was vorher nicht da war? Hat sich während der Reise deine Wirklichkeit verändert?“ „Mach dir keine Sorgen um mich, Mary“, wiegelte Fred ab, „ich stelle mich nur geistig auf die nächste Reise ein. Und du bist jetzt dieselbe süße Labormaus, wie du vor meinem Trip warst.“ „Ist gut“, entgegnete Mary, „ich will dir glauben“, was sie jedoch nicht tat. „Die Wirklichkeit ist ja nur im Auge des Betrachters wirklich, die anderen betrifft es nicht. Mach´s gut, Fred, pass auf dich auf.“ „Danke, Mary, bis später.“

Die nächste Reise würde länger dauern. Fred holte sich aus der Küche die für ihn bereitgelegten in Alufolie verpackten belegten Brote und packte sie mitsamt einer Mineralwasserflasche in seinen kleinen Rucksack. Seit acht Jahren arbeiteten sie an diesem Projekt, und heute war der Tag X. Der Job war nicht einmal besonders gut bezahlt. Öfters riefen ihn Headhunter an und unterbreiteten ihm Stellenangebote. Ein paar Mal saß er mit Firmenvertretern zusammen, sie boten ein wirklich interessantes Gehalt, doch als sie fragten, wann er anfangen könnte, sagte Fred: „Nachdem dieses Projekt abgeschlossen ist“, wobei er aber keinen Zeitpunkt nennen konnte. Ein neues berufliches Engagement zerschlug sich also, Fred blieb in seiner alten Position. Das Forschungsbudget war zwar nicht allzu hoch, doch war es ausreichend, und seine Kollegen und er hatten nicht ständig einen Betriebswirt im Nacken, der sie nach der praktischen Anwendbarkeit des Wahrscheinlichkeitenwandlers fragte, Fred fiel nämlich ad hoc keine solche ein, das Gerät war nur speziell auf seinen Bediener zugeschnitten. Fred ging es darum, die Grenzen der Physik auszuloten, den Was-wäre-wenn-Gedanken erlebbar zu machen. Neue Universen nabelten sich fortlaufend vom bestehenden ab, und die alle könnte man nun besuchen. Und um dies möglich werden zu lassen, müssten seine Kollegen und er lediglich monatliche Projetfortschnittsberichte zu schreiben. Diese Art der Arbeit war schon die richtige für Fred, da überhörte er auch gerne Madeleines zeitweiliges Gemurre, dass er zu wenig Geld nach Hause brächte. Er zippte seinen Rucksack zu und schnallte ihn an seinem Rücken fest. Beim Wasserspender nahm er sich einen Becher voll, den er in einem Zug austrank. Fred war in sich gekehrt, bei der letzten und kommenden Reise ging es ja um verschiedene Eventualitäten, die alleine sein Leben bereithielte, die Kollegen wussten das, und sie sprachen ihn daher jetzt nicht mehr an. Er setzte sich wieder auf den Stuhl in dem Raum, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Achtung, Experiment im Gange! Bitte nicht eintreten“ befestigt war, auf dem Tisch stand der Wahrscheinlichkeitenwandler. Die Reisen mit diesem Gerät stehen wissenschaftlich über jenen zum Mond, und ich bin ihr Neil Armstrong, dachte Fred.

Er schaltete den Apparat ein. Die Luft um die Antenne knisterte. Er stellte den roten Balken auf 6. Der Laborraum verschwand. Die Reise begann. Der hohe Ton schwang. Der weiße Tunnel bildete sich aus, umgeben von Schwärze. Jetzt fiel Fred ein, was an Mary anders gewesen war: Nach der Rückkehr von seiner ersten Reise trug sie plötzlich eine Anstecknadel in Form der Flagge der Vereinigten Staaten, die sie vorher nicht an ihrem Laborkittel befestigt hatte. Vielleicht hatte er während des kurzen Trips an sie gedacht und dadurch hatte sich Marys Erscheinungsbild leicht gewandelt. Theoretisch war dies unmöglich, die Ausgangsposition sollte, muss konstant bleiben, darf auf keinen Fall durch die Reise beeinflusst werden. Aber wenn eine Reise in der Praxis die Theorie außer Kraft setzte und weitere Kreise zeichnete als angenommen? Dann wäre das, was Fred gerade tat, gefährlich. Er bewegte sich in rasender Geschwindigkeit durch den Tunnel. Es gab kein Zurück mehr. Fred sah sich selbst, wie er den Wahrscheinlichkeitenwandler mit beiden Händen festhielt. Ach was, beruhigte er sich, eine Anstecknadel, die vorher nicht da gewesen war, das ist doch eine Lappalie. Die Beschleunigung ließ nach. Fred und der Wahrscheinlichkeitenwandler standen bald still. Welche Variante würde sein Leben wohl genommen haben? Mit welchen Gedanken war er vor sechs Jahren beschäftigt gewesen? Fred wusste es nicht mehr. Der hohe Ton verebbte. Die Schwärze wurde durchscheinend und verschwand. Er war zuhause in der Blumengasse 17. Madeleine war da, Oscar war da, Marius war nicht da. Fred sah in seinem Zimmer nach. Das Zimmer wurde von Madeleine als Arbeitszimmer genützt, Marius gab es nicht. Freds Alter Ego suchte ein gebügeltes weißes Hemd, in der Hand trug er eine dezente dunkelblaue Krawatte. Er war in Eile, sein Blick ein gehetzter. Designer-Möbelstücke standen in den Räumen, das Haus verfügte über einen Anbau, der im ersten Stock als Wintergarten gestaltet war. Anscheinend hatte Fred ein Stellenangebot angenommen. Jetzt war mehr Geld da, dafür fehlte das geliebte jüngere Kind. Sie Sprache seines Alter Egos war eine der kurzen Sätze, Madeleine, wo ist dies, wo ist das? Madeleine wusste, ihr Mann war unter Druck, sie spielte das Spiel mit. Oscars Körperhaltung war seinem Vater gegenüber ablehnend, er sagte besser nicht, um ihn nicht zu reizen. Dies war das Leben im Hamsterrad des Erfolges. Fred war von Herzen froh, in Wirklichkeit bei seiner Firma, die unter staatlicher Aufsicht stand, geblieben zu sein. Hier brauchte er auch keine Krawatte.

Fred setzte sich im Wohnzimmer nieder und stellte den Wahrscheinlichkeitenwandler neben sich. Madeleine und Oscar gingen durch ihn durch. Unter ihm war ein Berberteppich, doch spürte Fred nicht seine Oberfläche, es war, als säße er auf Beton. Er war der Gast, den niemand bemerkte. Aus seinem Rucksack holte er ein verpacktes belegtes Brot und die Mineralwasserflasche. Er trank einige Schlucke, pellte die Alufolie ab und aß. Was geschähe, fragte sich Fred, wenn ich die Alufolie jetzt einfach liegenließe, wo würde sie sich dann tatsächlich befinden? Er packte sie in den Rucksack, ebenso die Mineralwasserflasche, er schulterte ihn. So long, ihr Unglücklichen, ich verlasse euch jetzt, dachte Fred. Er schaltete den Wahrscheinlichkeitenwandler ein, das übliche Knistern, der markante hohe Ton, Fred bewegte den Drehknopf, der weiße Tunnel in der Nacht ohne Sterne. Fred nahm die Hand vom Drehknopf, der rote Balken blieb bei 13 stehen. Schnell glitt er durch Welten von Gedankenmustern, die er nicht sehen konnte, dahin. Dahinter waren tausende Möglichkeiten seines jetzigen Lebens, wusste er, bessere, schlechtere?, in jedem Fall andere. Nun wurde seine Fahrt abgebremst. Durch die Finsternis schien das Bild einer Wohnung. Madeleine stand im Raum, gekleidet in ein dunkelgrünes Business-Kostüm, sie telefonierte, in ihren Gesichtszügen stand die Vorfreude, „ist gut, wir sehen uns dann nach der Arbeit“. Die Kinder existierten nicht. Freds Alter Ego lag in einem Krankenhausbett in einem eigenen Zimmer. Auf dem Nachtkästchen stand ein Beatmungsgerät, daneben stapelten sich Medikamentenschachteln. Es bewegte seine Extremitäten nicht, obwohl es munter war, sein Gesicht zeigte wohl Mimik, die Augen Traurigkeit. Fred rief sich einen Vorfall von vor vierzehn Jahren in Erinnerung, als er bemerkt hatte, wie ein Auto auf ihn zuschoss, und er blitzartig losrannte, das Auto ihn knapp verfehlte. In diesem Leben hatte ihn, so wie es aussah, das Auto erwischt. Madeleine besserte ihre Schminke auf, zog einen Mantel an und verließ die Wohnung ohne ein Wort der Verabschiedung. Nein, mit solch einer Frau will ich nicht zusammen sein, dachte da der reisende Fred.

Wieder überwand er die verschiedenen Grenzen der Wahrscheinlichkeiten. Nun war Fred den Sog des Tunnels schon gewöhnt. Er stellte den roten Balken auf 19. Schlimmer als seine letzte Situation gewesen war, könnte es ja kaum noch kommen. Und es wurde klar besser, das konnte Fred sogleich erkennen. Sein Alter Ego lebte in einem abseits gelegenen Haus im Hügelland. Es trug vollen Bart und schulterlanges Haar. Eine helle Frauenstimme in einem fremden, aber ihm vertrauten Dialekt rief: „Schatz, cremst du mir bitte den Rücken ein?“ Er folgte dieser Stimme, die er kannte, die ihm früher viel bedeutet hatte, ins Schlafzimmer, wo sie lag, schlank und jugendlicher wirkend, als sie an Jahren war, nur mit einem roten Höschen bekleidet: Gundi. In Freds realem Leben hatte er sie vor siebzehn Jahren für Madeleine verlassen. Gerade wollte Freds Alter Ego sich für den Anfang an Gundis Rücken zu schaffen machen, da quengelte eine Kinderstimme: „Mama, Papa, ich hab Hunger.“ Es war ihr beider Sohn, „Manni“ genannt, das ist kürzer als Manfred, er sah aus wie Gundi, nur als Bub und in klein. Der Fred dieses Lebens bereitete ihm Cornflakes zu. Manni freute sich über die Aufmerksamkeit, die er bekam. Gundi hatte sich auf den Rücken gedreht. Noch aus der Erinnerung wusste der reisende Fred, wie wundervoll und fest ihre Brüste waren, und in der Wirklichkeit jenes Lebens waren sie immer noch top in Form. Hinter dem Fenster sah Fred Wiese und die Bäume des Waldes. Wäre es möglich gewesen, vielleicht wäre er hier ausgestiegen und hätte sein Alter Ego durch sich selbst ersetzt, Gundis Sex Appeal knisterte fast noch mehr als die Luft um die Antenne des Wahrscheinlichkeitenwandlers beim Einschalten, doch er hatte diese Option nicht eingelöst, sondern auslaufen lassen. Fred aß und trank von seinen Vorräten im Rucksack, er beobachtete Manni und fand es schade, dass in seinem gewählten Leben kein Platz für ihn war. Freds Alter Ego ging zu Gundi ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Fred spürte, wie er auf sein Alter Ego eifersüchtig wurde. „Aber das bin doch ich selbst“, sagte er sich, „irgendwie ist es doch so: Ich bin er, aber er ist nicht ich.“ Er war bemüht, die Situation philosophisch zu sehen, nur war es in der Realität solcherart, dass der Fred dieses Lebens Spaß hatte und der reisende Fred nüchtern im Sinne der Forschung unterwegs war.

In jedem Fall wollte er nicht länger stören, er schaltete den Apparat ein und machte sich auf den Weg. Diesmal verfolgte er 24 Jahre zurückliegende Gedankengänge, die sein Leben in eine andere Richtung gelenkt hatten. Als er in dem Tunnel zur Ruhe gekommen war und seine Sicht sich klärte, bewegte sich der andere Fred, hager und trainiert, einen gewaltig großen Rucksack auf dem Rücken, auf einem schlammverkrustetem Fahrrad, bepackt mit Satteltaschen, über einen lehmigen Weg dahin. Seine Augen waren hell und klar, trotz der Strapazen schien er wie von einem inneren Licht durchleuchtet. Der Fred dieser Welt war alleine im Sinn von keinem Menschen an seiner Seite zu haben, doch fühlte er sich eingebettet in der Vegetation und inmitten großer und kleiner Tiere. Das war so eine Idee von ihm als jungem Mann gewesen: eine Fahrradtour alleine um die ganze Welt und dabei die schnelllebige Zeit zu entschleunigen. Fred bewunderte sein Alter Ego. Auch diese Facette der Persönlichkeit steckte in ihm, noch immer, doch mittlerweile unter einer dicken Schickt Erde vergraben.

Der Rad fahrende Fred verschwand im Abendrot. Der andere Fred, schon erschöpft und ausgelaugt, unternahm noch eine letzte Reise in eine weitere Wahrscheinlichkeit, er ließ den roten Balken bei 29 stehen, als er sechzehn gewesen war und die Welt in ihrer vollen Blüte ihm noch offen gestanden war. In der Bremsperiode überlegte sich Fred, was er zu sehen erwartete, vielleicht sich selbst als Lektor in dem lärmenden Büro eines Kleinverlages, geknechtet von einer Chefin, die niemals zufriedenzustellen war. Er schrieb damals Gedichte, von denen er drei auch veröffentlichte, und er wollte innerhalb des Literaturbetriebes später arbeiten. Denkbar wäre auch, dass er jetzt als reisender Techniker tätig wäre. Seine Entwicklung hatte damals erst richtig begonnen, tausende unterschiedliche Lebenswege könnte er beschritten haben. Nun stand Fred still. Die Schwärze war verschwunden, doch der Himmel, den er sah, war nicht durchscheinend, in ihm hingen Nebelwolken. Auf der Erde lag Laub, in den Ästen der Bäume saßen Vögel. Kaum ein Laut war zu hören. Er stand vor einem schwarzen Grabstein: Alfredo d´Urso, 22.02.1965 – 28.10.1988. Neben der goldenen Inschrift war ein Bild von ihm eingelassen.

Fred hatte eigentlich vor der langen Rückreise noch jausnen wollen, doch inzwischen war ihm der Appetit vergangen, lediglich trank er die Mineralwasserflasche leer. Er hatte genug gesehen, und der Wahrscheinlichkeitenwandler hatte bewiesen, dass er tadellos seinen Dienst verrichtete. Fred wollte zurück in sein altes Leben mit Madeleine, Oscar und Marius. Das war seines, das füllte er mit seiner Präsenz aus. Er schaltete den Apparat ein, knistern, der Ton erklang. Er stellte den roten Balken auf 0. Der weiße Tunnel erschien, umgeben von Dunkelheit. Diesmal zog es ihn in die andere Richtung. Lange, lange war er unterwegs, Er saß im Schneidersitz. Er war das Schiff zwischen den Wahrscheinlichkeiten, und das Schiff war sein eigener Leib, in der Verbindung von Körper und Geist. Zwischen allen nur denkbaren Alternativen seines Daseins war er auf dem Weg zu jenem, das er tatsächlich führte. Er durchschnitt die Lebensblasen, er war auf dem Heimweg. Der Sog ließ etwas nach, Fred wurde langsamer, langsamer, bis er schließlich stehenblieb. Die Schwärze lichtete sich. Der Laborraum, er war zurück.

Roger und Dave, seine Kollegen, die den Laborraum von hinter der verspiegelten Scheibe im Auge behielten, sahen plötzlich Fred verkrampft wieder auf dem Stuhl sitzen, den Wahrscheinlichkeitenwandler festhaltend. Sie betraten den Raum, um Fred zu begrüßen. Fred fiel auf, dass ihre Laborkittel nun blau statt vor der Reise weiß waren, Roger hatte nun einen Vollbart und Dave braune statt blaue Augen. Er erstattete ihnen Bericht, von der veränderten Realität erwähnte er nichts. Danach untersuchte ihn ein Arzt, der ihm unbekannt war, aber der ihn mit: „Hi Freddie, endlich wieder da“, empfing. Er hatte dieselben physischen Werte wie vor der Reise, nur war er sehr, sehr müde. Er ließ sein Auto stehen und nahm ein Taxi nach Hause. Grundsätzlich bleibt die tatsächliche Welt auch nach der Rückkehr von einer Reise mit dem Apparat statisch, überlegte er, doch die Gedanken während der Reise können Wechsel hervorrufen. So wunderte Fred sich nicht, als das Taxi vor der Blumengasse 17 hielt und dort nicht mehr seines und Madeleines Einfamilienhaus stand, sondern ein Wohnblock. Er läutete bei „d´Urso“, niemand öffnete. Er holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, der für die Haustür passte, nahm den Lift in den vierten Stock, ein weiterer Schlüssel entsperrte die Wohnungstür. In der Zweizimmerwohnung waren nur seine Sachen. Er machte das Licht an, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich damit auf die Couch vor dem Fernseher, den er über die Fernbedienung einschaltete.


(Johannes Tosin)