Das Rotorblatt, die Sekretärin und der Tourismusmanager
Ich treibe im Meer, halte mich an
einem Rotorblatt fest. Der Hubschrauber geriet in Turbulenzen, der Pilot verlor
die Kontrolle über ihn. Er konnte ihn nicht mehr in der Luft halten. Der
Hubschrauber stürzte in sich beschleunigendem Fall ab. Kurz vor seinem Aufprall
an der Wasseroberfläche gelang es mir, eine der Seitentüren zu öffnen. Ich
sprang. Ich schlug mit den Füßen voran gegen das Wasser, an dem der Hubschrauber
zerschellte. Der Pilot starb über den Steuerknüppel gebeugt, bis zu seinem Ende
hatte er versucht, den Hubschrauber wieder hochzuziehen. Die Wucht des Schlages
gegen den Widerstand des Wassers riss den Leib meines mexikanischen
Geschäftspartners entzwei. Die Leiche meiner Sekretärin schwimmt bäuchlings
liegend unweit von mir. Wrackteile liegen verstreut. Sie füllen sich mit Wasser
und sinken. Der Sturm peitscht die Wellen hoch. Das Rotorblatt und ich fahren
sie hinauf und wieder herunter. Bis zum nächsten Land sind es wohl mehr als
hundert Meilen. Der am Körper meiner toten Sekretärin verbliebene rechte Arm
berührt mich. Sie hieß „Gail“. Vielleicht kann sie mir noch zu etwas nütze sein,
denke ich, wenn auch nicht mehr zum Arbeiten oder für außereheliche
Vergnügungen. Ich löse meine Krawatte und nehme meinen Gürtel ab. Den Gürtel
schlinge ich um ihren Hals. Mit der Krawatte verbinde ich den Gürtel und das
Rotorblatt. Ich hörte Gail noch schreien, als ich aus dem Hubschrauber sprang.
Sie hatte nicht mehr die Zeit, es mir nachzutun. Es ging alles so schnell.
Die
Sonne steht schon tief am Himmel. Wir wollten zum Abendessen dort auf der Insel
sein, wo der Mexikaner seine Ferienanlage der gehobenen Kategorie besitzt,
besaß, er ist nun ja tot, er nannte sie „Hazienda de los Flores“. Wir wollten
uns besprechen. Ich liefere ihm die Touristen und er macht mir für eine nahezu
hundertprozentige Auslastung im Gegenzug ein gutes Preisangebot. Es hätte eine
Win-win-Situation werden können. Das war der Plan gewesen.
Das Meerwasser ist
warm, wir sind hier ja in Äquatornähe. Das Blut in Gails malträtiertem Körper
ist mittlerweile glücklicherweise gestockt, doch die Gefahr eines Haiangriffes
ist immer noch hoch genug. Ich nehme mein Mobiltelefon aus der Hosentasche und
sehe auf das Display. Es ist blank. Aus reiner Gewohnheit stecke ich es wieder
ein, obwohl es höchstwahrscheinlich funktionstüchtig bleiben würde. Ich halte
Ausschau nach einem Boot. Der Horizont besteht nur aus Meer. Die Leuchtraketen,
die sich im Hubschrauber befunden hatten, sind mit ihm untergegangen. Das Meer
ist unbändig. Die Wellen kommen in schneller Folge. Das Meer ist gierig. Es will
mich essen. Die Wolken schieben sich eilig ineinander und bilden in Kürze eine
schwarze Decke. Große Regentropfen fallen, erst nur wenige, doch bald im
Stakkato. Ich muss trinken, denke ich, wenn ich leben will, muss ich trinken.
Ich recke meine linke Hand aus dem Wasser und forme sie zu einer Schale. Im Nu
ist sie voll. Ich trinke aus ihr, um am Leben zu bleiben. Inzwischen ist der
Himmel dunkel. Meine Beine schmerzen, es scheint aber nichts gebrochen, sie sind
wohl nur geprellt. Ansonsten bin ich unverletzt. Meine Arme sind schon schwer.
Ich lege mich so weit es möglich ist, dass es nicht sinkt, über das Rotorblatt.
Ich schließe die Augen und falle alsbald in einen gnädigen Schlaf.
Im Traum
erscheinen mir meine Frau und meine Tochter. Wir sind in unserem Haus in
Florida, wohin wir auch in Wirklichkeit vor Kurzem gezogen sind. Meine Frau
Maria kocht. Ich trete auf sie zu und streiche über ihre Wange. Sie fährt
unbeirrt fort in einer Pfanne zu rühren. Unsere Tochter Sabrina schaukelt im
Garten. Ich öffne das Fenster und rufe ihr zu: „Komm rein, Kleines, gleich gibt
es was zu essen.“ Die Schaukel schwingt hoch, auf der Sabrina sitzt und lacht,
und wieder nieder, und wieder hoch und wieder nieder. Sie nimmt genauso wenig
Notiz von mir, wie es Maria getan hat. Hinter den Palmen, die auf unserem
Grundstück stehen, erstreckt sich das Meer. Es hat sich gerade zur Flut
ausgebreitet. Seine niedrigen Wellen rollen gemächlich auf den Sandstrand zu.
Sie führen Muscheln mit sich und Schnecken. Ich beschließe, einige von ihnen zu
sammeln. Ich gehe zum Strand. Vor mir liegt das Blau des Meeres. Ich drehe mich
um. Unser Haus ist verschwunden. Anstatt seines ist auch hinter mir Meer. Ich
blicke nach links, da ist Meer, ich blicke nach rechts, da ist Meer. Ich stehe
auf einer Sandbank. Die Sandbank zieht sich unter meinen Füßen weg, bis diese
keinen Halt mehr finden und ich schwimme. In meinem Traum gibt es nur noch Meer.
Ich erwache. Auch in Wirklichkeit gibt es nur noch Meer. Es ist die Nacht von
Freitag auf Samstag. In meiner Firma weiß niemand von dem Termin. Als der
Mexikaner anrief und mich kurzfristig treffen wollte, war die Arbeit meiner
Mitarbeiter für diese Woche schon beendet und die Büros bis auf Gail und mich
unbesetzt. Ich rief Maria an und erzählte ihr lediglich, eine unerwartete
Verabredung sei dazwischengeraten, ich bliebe über Nacht vor Ort und käme erst
morgen, jedoch sagte ich ihr nicht, wo ich mich befände, Maria erfragte es auch
nicht. Sie ist dergleichen gewöhnt. Ich verrichte eine fordernde Arbeit, ich bin
Managing Director und Inhaber eines Reiseunternehmens. Die Firma habe ich selbst
aufgebaut. Ich bin gelernter Tourismuskaufmann. Nach meinem Schulabschluss
begann ich bei einer großen Spedition zu arbeiten. Binnen kurzer Zeit brachte
ich es, mit ausgefahrenen Ellbogen, bis zum Leiter meiner Abteilung. Ich erfuhr,
dass ein Reisebüro, das sein Geld in erster Linie mit Busreisen machte, in
finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Dessen Besitzer war schon älter und
arbeitsmüde, sein Sohn wollte es nicht weiterführen, es lag ihm nun mehr daran,
in Ruhe Golf zu spielen als den sinnbildlichen Karren, der im Schlamm steckte,
wieder flottzukriegen. Ich suchte ihn auf und machte ihm ein Kaufangebot für
sein Unternehmen. Seinen Preis setzte ich bewusst niedrig an, um dem Besitzer
die Freude zu bereiten ihn hinaufzutreiben. Schließlich trafen wir uns bei einer
Summe, die ihm einen entspannten Lebensabend ohne Geldsorgen ermöglichte und für
mich eine leistbare war. Die Kredite, die ich damals zur Finanzierung des Kaufes
aufgenommen hatte, sind mittlerweile zurückgezahlt. Ich benannte die Firma in
„Sun Travel“ um und verlegte mich auf Flugreisen. Ich erzielte gute Preise bei
Airlinebetreibern, indem ich ihnen fixe Kontingente abkaufte. Ich suchte gezielt
nach Hotels, die schlechter ausgelastet waren als ihre konkurrierenden an
derselben Location, oft waren sie es nur wegen Kleinigkeiten, eine schäbige
Rezeption, keine Zahlungsmöglichkeit mit Kreditkarten, eine fehlende
Online-Präsenz. Es waren genügende, die ich fand, und ich verfuhr nach demselben
Muster, niedrige Preise für eine Masse an Übernachtungen. „Sun Travel“ florierte
wie eine Orchidee im Tropenregen. Ich baute ein neues Headquarter dank des regen
Zustroms von Touristengeldern, ich stellte neue Leute ein, darunter Gail, die
lange blonde Haare hatte und blaue Augen und Brustimplantate, deren Leichnam nun
reglos wie eine Boje neben mir an das Rotorblatt befestigt schwimmt. Früher
verschiffte ich Waren und jetzt Menschen. Für mich persönlich ist der Transport
der Menschen das weit einträglichere Geschäft. Manche meiner Kunden sind jetzt
gerade im Flugzeug unterwegs zu ihrer Destination, andere schlagen sich beim
Buffet die Bäuche voll oder vögeln mit ihren Freundinnen. Ich hingegen bin nur
noch damit beschäftigt, mich über Wasser zu halten und den Sonnenaufgang noch zu
erleben.
Das Meer ist nun schwarz wie auch der Himmel. Es hat zu regnen
aufgehört, der Sturm ist weitergezogen. Das Meer hat wieder zur Ruhe gefunden.
Die Sterne scheinen klar und hell, der Erdtrabant zeigt eine fast volle Rundung.
Ich habe die Schönheit des Nachthimmels niemals so beachtet, seit ich ein Kind
war, wie jetzt. Unter mir ziehen Fischschwärme vorbei, ich sehe sie nicht in der
Dunkelheit, doch sie berühren meine Beine. Es ist sehr still. Die einzigen
Geräusche sind das Rauschen des Meeres und der tote Körper von Gail, der
„platsch“ macht, wenn eine Welle ihn erfasst, ihn etwas hochzieht und wieder
fallen lässt. Ich war der Geistesgegenwärtigste von uns vieren, ich erkannte die
Gefährlichkeit der Situation als Erster, reagierte planmäßig und unverzüglich.
Ich lebe und die anderen drei sind tot. Ich bin das Alphamännchen unter der
Affenherde. Wenn alles glatt gegangen wäre, hätte ich mit dem Mexikaner fein
gespeist, wir hätten eine Übereinkunft getroffen und sie anschließend mit
Champagner und Tequila begossen. Dann wäre ich mit Gail im Bett gelandet. Ich
glaube nicht, dass Gail besonders viel für mich übrig hatte, aber es war
praktisch mit ihr, sie stellte kaum Ansprüche und sie war ständig verfügbar. Ich
denke, sie sah den gelegentlichen Sex mit mir einfach als Teil ihres Jobs, für
den ich sie dafür sehr gut entlohnte. Die eine Hand wäscht die andere,
wahrscheinlich war das die Basis unserer Beziehung, die ja doch eine
hauptsächlich berufliche war, mit den gewissen Extras halt, Gail war fix beim
Arbeiten und eine blendende Organisatorin.
Was wohl Maria gerade tut?
Wahrscheinlich liegt Sabrina bei ihr im Bett, das ist meist der Fall, wenn ich
über Nacht nicht zuhause bin, Maria hält sie fest umschlungen und beide
schlafen. Wenn ich morgen abends nicht daheim sein werde, was durchaus möglich
ist, wird sie mich anrufen. Meine Mailbox wird automatisch angehen. Sie wird
eine Zeitlang auf meinen Rückruf warten, dann wird sie sich telefonisch an Neil
wenden, meinen Buchhalter, mit dem ich in einer Altherrenmannschaft
gelegentlich, man sagt hier „Soccer“ spiele, Neil steht mir in der Firma am
nähesten, er ist von Anfang an dabei, wir waren früher miteinander befreundet
und sind es jetzt, Chef ist schließlich Chef, und der bin ich, und den
Untergebenen nennt man heute „Mitarbeiter“, das ist Neil, fast noch immer. Neil
weiß auch nichts über meinen Verbleib, er wird Maria nicht weiterhelfen können.
Maria wird daraufhin die Polizei einschalten. Nur, wo sollen die mich suchen?
Falls ich mit heiler Haut davonkomme, lasse ich das nächste Mal wenigstens einen
Spickzettel mit meinem Aufenthaltsort auf meinem Schreibtisch liegen.
Immer schon liebte er das Meer. Er war in Kärnten geboren, sein Vater ging
später nach Deutschland, um dort zu arbeiten, die Mutter und er zogen mit. Seine
vertraute Gegend war während der Schulzeit die niedersächsische Heide. Er
erinnerte sich an alte, freistehende Bäume, die Misteln trugen, an die
Schneckenhäuser, die er vom Boden der Felder auflas, welche die Bauern in Brand
gesetzt hatten, um sie fruchtbar zu halten. In den Ferien fuhren seine Mutter
und er zur Großmutter in Klagenfurt, mit der er Schwarzbeeren sammelte am Kreuzbergl, die er anschließend mit viel Zucker aß, im Herbst sammelten sie
Tschurtschen für den Herd in Großmutters Küche. Im Sommer war er mit seinen
Eltern fast täglich im Strandbad. Er fuhr Schlauchboot mit anderen Kindern, er
war der „halbe Deutsche“, wegen seiner Hochsprache. Später zogen sie nach Wien.
Und sie fuhren sommers öfters nach Lignano oder Bibione, wohnten in einem
Apartmenthaus. Da war endloser Sand, und das Meer war salzig und schmeckte nach
Ferien. Abends ging es ab auf die Vergnügungsmeile, Gelato essen und in
Spielhöllen Raumschiffe abschießen. Einmal auch nahm der Vater seine Mutter und
ihn mit auf eine Geschäftsreise in den ehemaligen Ostblock. In Polen standen in
seinem Gedächtnis überall Soldaten herum nachts, und es regnete. Sie blieben
einige Tage an der dalmatinischen Küste, da war der Strand felsig und das Meer
ungezähmter. Er legte sich auf eine Luftmatratze, mit der er zu einer kleinen
nahegelegenen Insel paddelte. Er erforschte sie, über seinem Kopf kreisten
Möwen, er fühlte sich wie Robinson Crusoe. Wenn sie dann die Heimreise antraten
und im Stau auf der Südautobahn steckten, wenn er die Gasometer sah, in deren
Nähe sie wohnten, im anmutslosen Wien der siebziger Jahre, wusste er, die Schule
würde bald wieder losgehen. Als er dann in die Pubertät kam, verkrachte er sich
mit seinen Eltern und zog mit sechzehn schon von zuhause aus. Über ein
Schüleraustauschprogramm kam er in die Vereinigten Staaten. Geplant war ein Jahr
gewesen, aus dem wurden alle seine zukünftigen. Er kam nur noch sporadisch
zurück nach Österreich. Als er beruflich bereits Erfolge vorzuweisen hatte,
reiste er eines Tages nach Klagenfurt, um seine alte Jugendliebe Maria zu
fragen, ob sie mit ihm gehen wolle. Sie wollte. Sie heirateten und sie folgte
ihm nach South Carolina, wo er damals noch bei der Spedition arbeitete. Sabrina
wurde erst ziemlich spät geboren. Sie war der letzte fehlende Puzzlestein zu
seinem Bild eines erfüllten Lebens.
Und jetzt war er wirklich in einer Lage, die
mit der von Daniel Defoes Geschöpf vergleichbar war, nur hatte er nicht einmal
eine Insel, sondern nur sein Rotorblatt und die tote Gail.
Das Meer war immer
gut zu mir, sollte es nun anders sein? Ich vertraue ihm. Es fing mich ja auch bei meinem Sprung aus dem Hubschrauber
auf und hat mich nicht mal dabei verletzt. Die am Meer lebenden Menschen weisen
ihm gerne den weiblichen Artikel zu, sie sagen oft „la mare“ statt „il mare“,
„la mer“ statt „le mer“. Auch für mich ist das Meer eine Frau, und immer noch
meine Freundin.
Der Mond wandert. Als ich noch zur Schule ging, glaubte ich, ein
Mann lebe auf ihm. Er wäre gleich einsam wie jetzt ich. Er könnte mir ein Boot
vorbeischicken, wenn es ihn gäbe. Aber es gibt ihn ja nicht. Ich bin die einzige
vernunftbegabte Lebensform in weitem Umkreis, rechnete man den Delfinen kein
Bewusstsein zu, die sich hier tummeln. Ich habe mal gelesen, sie retteten
Schiffsbrüchige, man könne sich an ihrem Rücken festhalten und sie trügen einen
an Land. Doch darauf will ich mich nicht verlassen, feste Erde schein mir zu
weit fern, und was täte ich, wenn mein Delfin beschlösse, lieber zu spielen? Mir
ist das zu unsicher. Ich bin ein rational denkender Mensch und die Vernunft sagt
mir: „Bleib bei deinem Rotorblatt.“
Die Amerikaner belieben ja, auf das Gesetz
der Fairness zu vertrauen. Wäre es fair, wenn ich nun stürbe? Habe ich allzu
viel falsch gemacht, Menschen in den Boden gestampft, ihre Schicksale vernichtet
und mich auf ihre Kosten bereichert? Nein, eigentlich habe ich das nicht,
abgesehen von Job Fights, doch die gelten nicht, die sind legitim. War ich
gezwungen, Mitarbeiter zu entlassen, war dies berechtigt und ich verabschiedete
sie stets mit einem freundlichen Wort, ich habe ebenso keine illegalen Geschäfte
getätigt, ich leiste auch Spenden, und das nicht nur, um Steuern zu sparen. Ich
bin ein gesetzestreuer Bürger. Ich gehe nicht mal bei Rot über die Straße.
Himmelherrgottnochmal, womit hab ich das verdient! Ich lege meinen Kopf auf das
Rotorblatt und denke, obwohl ich nicht denken will.
Die Zeit vergeht. Meine
Beine sind schon ziemlich taub. Die Haut an meinen Händen ist faltig vom Wasser.
Der Mond hat seinen Nachtspaziergang beendet. Es wird nur kurz grau und dann
gleich recht hell. Das war etwas, was ich immer vermisste in diesen Breiten, die
Sonnenauf-
Da sehe ich Gail an und ihre
totstarren Augen. Sie kann sie nicht mehr brauchen, aber mir sind sie dienlich.
Und das Fleisch an ihren Rippen werde ich essen, bevor es die Vögel tun.
(Johannes Tosin)