Ego te absolvo
Diese
Stadt atmet Sünde. Sie dringt durch ihre Poren wie der Geruch
von
Knoblauch und Tabak. Sie tropft von den Dächern und sammelt
sich in den
Straßen. Auch wenn der Regen noch so ungestüm
hernieder prasselt, mag er sie
nicht fort zu waschen. Die Bewohner dieser Stadt haben sich vom Herrn
abgewandt, dessen Diener ich bin und dessen Wort ich hier
verkünde. Manche der
Frevler kommen in meine Kirche zur Beichte und der Herr leiht ihnen
durch mich
sein Ohr. Sie bereuen und ihnen wird genommen ihrer Missetaten Last.
Was ich hier
tue, ist nicht
recht, denn es verletzt das Gebot zur Verschwiegenheit über
dieses heilige
Sakrament. Und doch kann ich nicht anders als aufzuzeichnen der
Lästerlichen
Taten, die begingen eine der Todsünden, deren es sieben sind
an der Zahl. Der
Herr möge mir diese Verfehlung vergeben, soll sie doch dazu
dienen, seine
Geschöpfe zu warnen vor des Teufels dunkler Macht.
Der
Dämon, der Giacomo
heimsuchte, war „Luzifer“ genannt. Er
verführte ihn zur Hochmut, auch als Stolz
oder Eitelkeit bekannt. Als Giacomo im Beichtstuhl niederkniete, war er
edel
gewandet. Seine Stimme war erst fest, wie die von jemandem, der es
gewohnt ist,
Befehle zu erteilen, später wurde sie leiser.
Giacomo
wurde
als Kind
einfacher Eltern geboren, und in ebensolchen Verhältnissen
wuchs er auf.
Allerortens herrschte Mangel, Mangel an ordentlichem Schuhwerk, Mangel
an
Schulmaterialien, auch Mangel an Essen. Giacomo war es gewohnt, dass
sein Magen
knurrte. Seine Schulkameraden verspotteten ihn, weil er die Kleidung
seines
älteren Bruders auftrug, was nicht zu übersehen war:
Die Hemdsärmel waren zu
lang, die Hosenbeine umgestülpt, manche Flecken waren noch
sichtbar, Stoffteile
überdeckten Risse. Da legte Giacomo einen unseligen Schwur ab:
„Ich werde es zu
etwas bringen und ihr werdet vor mir kriechen.“ Ausgenommen
von dieser bösen
Prophezeiung sollte sein gleichaltriger Freund Luigi sein, der im
Nachbarhaus
mit seiner Mutter lebte, die taub war, und seinem Vater, der trank. Der
trank
und Luigis Mutter schlug, wenn er getrunken hatte. Die dann tierische
Laute von
sich gab unter seinen Fäusten. Die sich nie traute, die
Polizei zu rufen, aus
Angst vor noch härteren Schlägen. Wenn Luigis Vater
heimkam in der späten
Nacht, stank das Vorzimmer sogleich nach billigem Fusel. Und Luigi lag
im Bett,
schlafend, vorgetäuscht oder echt. Bei einem seiner seltenen
Besuchen in Luigis
Eltern´ Wohnung sah Giacomo zum ersten Mal Kakerlaken. Sie
flitzten über den
Küchenfußboden, wendig und zu schnell, um sie zu
erschlagen. Und im Keller, wo
verdorbene Lebensmittel lagerten, hausten Ratten. Als Luigis Mutter ihn
einmal
schickte, von dort Polenta zu holen, Giacomo war gerade bei ihm, um ihm
beim
Lernen zu helfen, kehrte er zurück mit einer frischen
Bisswunde am Arm. „Was
hat dich denn da gebissen?“, fragte Giacomo. Luigi antwortete
nicht. Eine Maus
konnte es nicht gewesen sein, die ist zu feige, als dass sie
beißt, ein
Katzenbiss ist runder, und für den eines Hundes war die Wunde
zu klein. „Es war
eine Ratte“, erklärte ihm Luigi.
Jahre
später, als sie sich wohl noch hie und da
trafen und sich besprachen, doch die Flüsse ihrer beiden Leben
bereits begonnen
hatten auseinanderzulaufen. Luigi hatte eine Lehre als Maurer
angefangen, so
geschickt er mit seinen Händen war, so schwerfällig
war er in seinen Gedanken.
Giacomo besuchte die Oberstufe eines katholisch geführten,
strengen und
angesehenen Gymnasiums. Besonders in Mathematik, Physik und Chemie tat
er sich
hervor, er hatte ein Gespür für Zahlen, und auch in
Musik. Er spielte das
elektrische Piano in einer Musikkapelle und für seine
regelmäßigen Auftritte
erhielt er eine nicht unbeträchtliche Anzahl an, damals waren
es noch Lire. Nun
war er gut angezogen und verströmte den Duft eines dezenten
Rasierwassers,
nicht den von Maschinenöl, der seinem Vater Marcello
anhaftete, wenn er von der
Schichtarbeit in der Fabrik nach Hause kam. Nachdem Giacomo maturiert
hatte,
studierte er an der örtlichen Fakultät Bauwirtschaft
und Ökonomie. Er erhielt
ein Begabtenstipendium, und mit dem Geld, das er zusätzlich
als Musiker
verdiente, konnte er es sich leisten, von zuhause auszuziehen. Anfangs
nahm er
sich nur ein Zimmer in der geräumigen Stadtwohnung einer
älteren Dame, doch
bald schon reichte ihm das nicht mehr, Klosett am Gang,
Gemeinschaftsdusche,
Küchenmitbenutzung. Er hatte einen gebrauchten
Fiat-Pritschenwagen erstanden
und verrichtete nebst seinem Studium gemeinsam mit zwei Helfern kleine
Handwerksarbeiten. Er war sehr fleißig und er lernte. Er
lernte, wie man Böden
betoniert, lernte, wie man Fassaden errichtet, wie man Fenster und
Türen
einsetzt. Er zog in eine kleine Mietwohnung, die er so geschmackvoll,
wie es
ihm seine Finanzen erlaubten, einrichtete. Er kaufte ein zweites
Nutzfahrzeug,
stellte drei neue Gehilfen ein. Er expandierte. Als er sein Studium
beendet
hatte, war er bereits ein stadtbekannter Bauunternehmer. Inzwischen
hatte er
geheiratet, Lucia, das schönste Mädchen, das er
kannte, und war Vater einer
Tochter und eines Sohnes geworden. Mit seiner Familie lebte er in einer
säulenbesetzten Patriziervilla in einem noblen Teil der Stadt.
Er arrangierte
sich, mit Behördenvertretern, die Geld haben wollten
für die Erteilung von
öffentlichen Aufträgen, mit Vereinigungen von
Kriminellen, die ebenfalls einen
Obolus forderten und auch bekamen, und dafür versprachen,
seine Geschäfte nicht
zu stören, mit Mitbewerbern, wenn es darum ging, die Preise
hoch zu halten. Aus
Giacomo war ein geschmeidiger Mann geworden. Zu seiner Ursprungsfamilie
hatte
er den Kontakt abgebrochen, er wollte nicht an die kärgliche
Zeit seiner
Kindheit und Jugend erinnert werden. Wenn seine Mutter Sophia anrief,
nur um zu
fragen, wie es ihm denn so ergehe, und seine Frau den Hörer
abhob oder eines
seiner Kinder, ließ er sich verleugnen, hieß es, er
sei nicht da. Er kaufte
sich einen Ferrari, den er perlmuttfarben lackieren ließ. Er
stellte zur Schau,
was er hatte. Teure Uhren, feinster Zwirn, Manschettenknöpfe,
Einstecktuch.
Seht her, ich bin jetzt wer! Eines Tages bat sein alter Freund Luigi,
zu ihm
vorgelassen zu werden. Sie hatten sich seit vielen Jahren nicht mehr
gesehen.
Luigis Frau war krank und er hatte drei Kinder zu versorgen. Er bewarb
sich um
eine Stelle als Maurer. Giacomo richtete ihm über seine
Sekretärin aus, er sei
in einer Besprechung. Der Personalleiter führte mit ihm ein
kurzes Gespräch.
Luigi wurde nicht eingestellt. Als er den Brief mit der Absage erhielt,
die
Frau war im Krankenhaus, die Kinder im Kindergarten und in der Schule,
nahm er
einen Strick und erhängte sich. Erst viel später
erfuhr Giacomo davon. Er hatte
es nicht erwartet, aber doch riss diese Nachricht seine Seele entzwei.
Er
besann sich des Spruches in der Heiligen Schrift, der da lautet:
„Weil der
Gottlose Übermut treibt, muss der Elende leiden.“
Und so kam er zu mir, als
reuiger Sünder.
„Ego
te absolvo“, sprach ich zu
ihm am Schluss, Gotteskind Giacomo, ich spreche dich los von deinen
Sünden. Der
Herr würde ihn empfangen in seinem Reich dereinst, denn
Giacomo tat nun Buße.
Nicht die Buße des Aufsagens von Gebeten, die ich ihm
auftrug, sondern die,
dass ihm Luigi erschien in seinen Träumen, am Strick baumelnd
und von Ratten zerfressen.
In
dieser Zeit
ist es schwer
geworden, den Verlockungen der Sünden nicht zu erliegen. Die
Welt ist eine
kleinere geworden. Es gibt Flugzeuge, Fernsehen und das
allesumspannende
Datennetz. Viele Gesetze wurden gelockert. Es fehlt an Respekt. Wenn
ich die
Messe lese, hebe ich des Öfteren die Hände in die
Höh und rufe: „Kehret nicht
ab vom Weg, den der Herr hat für euch bestimmt. Widersteht den
Versuchungen,
die wie Steine auf ihm liegen. Lasst Hilfe angedeihen den
Bedürftigen. Dann
werdet ihr eintreten in sein jenseitiges Land.“ Meine
Gemeinde hat an
Lebensjahren zugenommen. Wenn Junge zu mir kommen, sei es nicht aus dem
Wunsch
ihrer Eltern, wiegt die Schuld meist schwer, die sie in der Beichte bei
mir
abzuladen trachten. Wenn die alten Weiblein mich aufsuchen, ist es oft
nur, um
mit jemandem zu reden. Ihre Nachkommen haben sich von ihnen entfremdet.
Meist
sind es nur kleine Sünden, die sie mir vortragen. Huldigen sie
Mammon, dem
Dämon des Geizes, ist das häufig nur in geringem
Maße und dadurch oft
begründet, dass im Kriege sie aufwuchsen, wo es an allem
fehlte, und also
lernten, Zeitungen statt Klosettpapier zu verwenden, und somit auch zu
verstehen. Der Geiz ist eher den Älteren vorbehalten, Mammon
zeigt sich jedoch
auch in der Gestalt der Habgier, die gerade in letzter Zeit wird als
minder
verwerflich angesehen. Dennoch ist sie es. Was der Reiche nimmt, ist
von den
Armen. Der Reiche wird reicher und der Arme bleibt arm, wenn er nicht
sogar
noch mehr verliert.
Von
Mammon
besessen war Davide,
der ganz in Schwarz gekleidet war, als er zu mir kam. Das Schwarz
jedoch trug
er nicht als Zeichen der Trauer, sondern weil er dies als modisch
empfand. Er
sah jünger aus als er war, seine Falten waren
geglättet. Seine Schuhe waren
unziemlich teuer und seine Hände manikürt. War er
wirklich bereit, Reue zu
zeigen ob seines liederlichen Lebenswandels? Zu Beginn seines
Erzählens war ich
mir nicht sicher, doch in seinem weiteren Verlauf wusste ich, er war
es. Davide
stammte aus Friaul, wo die Berge schroff sind und die Flüsse
nur Rinnsale in
gewaltigen Betten. Er ergriff den Beruf seines Vaters, der Schneider
war. Von
klein auf half er in seinem Atelier. Die Näherinnen wussten um
seinen Sinn für
das Schöne und ließen ihn Knöpfe aussuchen
und Stoffe bestimmen. Er stellte
auffällige und passende Variationen von Farben und Materialien
zusammen. Es
bereitete ihm viel Freude, insbesondere Frauen gut aussehen zu lassen,
obwohl
sein körperliches Interesse mehr galt dem eigenen Geschlecht.
So gewann er
viele Kundinnen aus besseren Kreisen. Seine Fertigkeiten wurden
weiterempfohlen. Er konnte sich vor Aufträgen kaum retten.
Nachdem sein Vater
in Rente gegangen war, übersiedelte er nach Mailand, die Stadt
der alta moda,
und nannte sich nun „Designer“. Er entwarf
Kollektionen anstelle von
Einzelanfertigungen. Er schneiderte nicht mehr selbst, sondern verlegte
sich
auf das Zeichnen von Entwürfen, in dem er sich als sehr
kunstfertig erwies.
Bald schon defilierten Mannequins von bekannten Agenturen für
sein Haus. Vor
den Schauen wurden sie aufwändig zurechtgemacht, von
Stylistinnen geschminkt
und die Nägel lackiert, der Friseur hieß jetzt
„Hairdresser“, was bedeutete,
dass er war dreimal so teuer. Davide war in der Glitzerwelt angekommen,
wo
wichtiger ist der Schein als das tatsächliche Sein. Die
Mannequins waren so
knochig wie langbeinig und sie hatten stets blendende Laune zu
versprühen, wenn
sie auf den Laufsteg traten. Dem wurde nachgeholfen mit fingerdicken
Straßen
von Kokain, und dazu tranken die Frauen Champagner. In dieser Branche
sei dies
gang und gäbe, und Davide, Mensch vielerlei Laster, naschte
gern mit. Geschickt
gliederte er sich ein in diese Gesellschaft, die vor
Oberflächlichkeiten nur so
strotzte und er lernte, und das sehr rasch, dass Geld Macht bedeutet.
Und davon
konnte er nie genug kriegen, von der Macht, die des Geldes bedarf. Also
raffte
er zusammen, wessen immer er habhaft werden konnte, wenn es
günstig zu erstehen
war. Mittlerweile war er ein weit über die Grenzen des Landes
bekannter
Modeschöpfer geworden, was ihm erlaubte, die Preise
für seine Kreationen sehr
hoch anzusetzen. Die auch bezahlt wurden, gerne von älteren
wohlhabenden
Männern, die sich erhoffen, somit die Liebe von attraktiven
jungen Frauen
erkaufen zu können, was natürlich ein Trugschluss
war, denn bestenfalls gab es
dafür seelenlose Körperlichkeit, zu einem horrenden
Gegenwert. Häufig war
Davide bei Auktionen zugegen, wo er günstig Häuser
ersteigerte, deren Besitzer
zwangsexekutiert wurden. Manche der Häuser richtete er instand
und veräußerte
sie gewinnbringend weiter. Er war ein so gewiefter
Geschäftsmann wie begabter
Künstler. Er sammelte antike Uhren und legte sich einen
stattlichen Keller zu von
erlesenen Weinen. Er kaufte einige Oldtimer-Wägen, mit denen
er Rennen fuhr,
hinauf die Serpentinen der Berge und wieder hinunter, mit Lederhelm und
Motorsportbrille, an seiner Seite zumeist eine seiner Modelle. Er hatte
keine
Beziehungen zu den Frauen, sie waren nur Beiwerk, um andere neidisch zu
machen.
Und das mit Erfolg. Um seine Triebe zu befriedigen, nahm er sich
Männer, kaum
älter als zwanzig. Meist waren das einige seiner Dressmen. Im
Pool seiner im
griechischen Stil gehaltenen Villa, die ihm als Firmensitz diente,
badeten sie,
nackt. Von seinem Arbeitsraum aus sah er ihnen durch Panoramafenster
zu. Wer
ihm besonders gefiel, den ließ er über seinen
Assistenten zu sich bringen. War
er ihm zu Willen, durfte er am kommenden Tag über den Laufsteg
flanieren.
Davide wurde nicht glücklich dabei, doch sonnte er sich in
seinem
Einfluss,
daran, etwas zu bewegen. Seine Freundesschar war zahlreich, so
zahlreich wie
die eines erfolgreichen Mannes, die keinen Wert hat und von ihm
abfällt, wenn
sein Stern am Sinken ist. Speichellecker, Bücklinge, die
taten, was immer er
von ihnen verlangte. Davide war nicht so naiv, um über diesen
Umstand nicht
Bescheid zu wissen. Daher trachtete er stets, seinen Besitz zu mehren.
Hohe
Gehälter wollten gezahlt werden, um seine Lakaien
gütlich zu stimmen, und
Geschenke, um Liebhaber jung an Jahren an sich zu binden. Er wurde
rücksichtsloser in seinem Geschäftsgebaren. Er trieb
Konkurrenten in den Ruin,
indem er prominente Anwälte beschäftigte, die vor
Gerichten ihre Behauptungen
durchzusetzen vermochten, sie stählen seine Schnittmuster oder
verletzten
sonstwie seine Rechte. So charmant er zu seinen Kunden war, so
aufmerksam den
Wünschen der seiner Mode tragenden Damen und ihrer
männlichen Gönner, so
erbarmungslos gegenüber seinen Mitbewerbern war sein
Verhalten. Sie hassten ihn
dafür aus tiefsten Herzen. Je älter er wurde, desto
mehr besaß er an geldwerten
Mitteln, doch das Glück kam ihm abhold. Denn das Wohlbehalten
seiner Geschicke
war eines auf Sand gebaut, die die erste Flut des grimmigen Meeres
schwemmt
hinfort. Dies wurde ihm klar vor Augen geführt, als sein innig
verehrter Vater
in seiner Heimat starb und nur wenige aus dem Dorf zu seinem
Begräbnis
erschienen. Wohl waren es so einige, die gekommen waren in schwarzen
Anzügen
und selbigfarbenen Krawatten, doch waren das jene, die von seinem Geld
abhingen, und ihre Beileidskundgebungen waren nicht echt. Da beschlich
Davide
die Einsicht, die falsche Abzweigung genommen, den Weg, den der Herr
ihm
vorgezeichnet hatte, verlassen zu haben und sich auf einem Pfad zu
befinden,
der ihn geradewegs in die Arme des Antichristen geleite. Er tat gut
daran,
meine Nähe zu suchen und seinen mannigfachen Sünden
abzuschwören. Als er den
Beichtstuhl verließ, war er weit weniger stolz und
dafür erhellt von des Herrn
Gnade. Erst war es der Anfang, doch wenigstens hatte er erkannt die
Schändlichkeit seiner Taten und würde sich nun in
mehr Demut üben, statt in
Pracht zu schwelgen. Sein Haupt war gesenkt, als er wieder ging. Hatte
er
wieder zu seinem Herrn gefunden? Jedenfalls hat er seine
Sünden bereut, derer
die schwerwiegendste war, das er „eilte, reich zu
werden“, wie Salomo
verkündete.
Wahrlich,
kann
ich sagen, diese
Welt ist eine unbarmherzige geworden, in der der weniger mit
Geistesgaben
Befähigte muss härter um sein Brot arbeiten, als dies
früher war der Fall. Die
Götzen sind allgegenwärtig, die heutzutage angebetet
werden. Die Verlockungen
sind größer und die Sündhaftigkeit tiefer.
Wer nun zu seinem Herrn sich
bekennt, gilt alt altbacken, als nicht recht fähig, sein
Diesseits zu
bewältigen, dessen Wert gemessen wird an der Anzahl von
Gütern. Es ist der
immerwährende Tanz und das goldene Kalb, um viele derer,
begleitet von
Ausschweifungen, die als zeitgemäß gelten, als
Zeichen eines „Ich kann mir das erlauben,
denn ich bin oben und du nicht“. Stets predige ich, dass es
vonnöten ist,
diesem Treiben Einhalt zu gebieten, sich in sich zu kehren und
achtzugeben,
dass der den Menschen gottgegebene Funken nicht erlischt, doch immer
weniger
sind es, die meinen Worten lauschen, und die es doch tun, verstehen
mich oft
nicht. Meine Position ist heut eine mindere geworden, meine Stimme hat
geringeres Gewicht. Und doch will ich denen, die an mich als Vertreter
des
Herrn glauben, sein ein guter Hirte, der sie führt zur
Erkenntnis und in die
Gefilde des Lichts. Glaubt mehr, ihr Gotteskinder, und hinterfragt
weniger,
beliebe ich zu verkünden, denn bloß der Glaube
knüpft das Band, das sich in
selbstloser Liebe wiederfindet.
Die
nächste Todsünde ist eine
weitverbreitete, man ist sich ihrer Schwere heute kaum mehr bewusst.
Auch mir,
ich muss es gestehen, flüsterte ihr Dämon Asmodeus
ihre Verlockungen ins Ohr.
Ich gab ihnen auch nach, in den Zeiten, als ich noch war ein junger
Mann.
Nachdem ich mich für das Wirken eines Priesters entschieden
hatte, entsagte ich
ihren, so schwer es mir auch fiel. Da ich selbst gelegentlich, wenn
auch
selten, diesem Laster frönte, bringe ich etwas an
Verständnis gegenüber
demjenigen auf, der diese Sünde begeht. Ich denke, als Diener
seines Herrn ist
es auch wichtig, sich den gegenwärtigen Gegebenheiten
anzupassen, sonst
erscheinen die Predigten wie ein Relikt aus der Vergangenheit, das
heutzutage
keine Gültigkeit mehr besitzt. Wenn Burschen im Beichtstuhl
niederknien und
berichten, sie trieben Onanie, soll ich ihnen erzählen, sie
würden davon
imbezil und erlitten Rückenmarksschwund? Das glaubt nun
niemand mehr. Dennoch
bleibt die Wollust eine schlimme Sünde, die sich nicht nur
darauf beschränkt,
mit dem Körper der Triebe Verlangen zu stillen, die der Geist
erweckt. Sie
äußert sich auch allgemein in Genusssucht und in
ausschweifendem Gebaren. Denn
nicht soll es sein, wie der Prophet Jesaja einst verkündete:
„Wiewohl jetzt,
siehe, ist´s eitel Freude und Wonne, Ochsen würgen,
Schafe schlachten, Fleisch
essen, Wein trinken und ihr sprecht: „Lasset uns essen und
trinken, wir sterben
doch morgen!““ Zwar bin ich der Meinung, dass das
diesseitige Leben ist mehr
als eine Vorbereitung auf das jenseitige, doch sollte man stets walten
lassen
Maß und Ziel.
Und
doch gibt es auch sie, die
Wollust in ihrer reinsten
Form, als
fleischliche Begierde, die dem einen Freude bereitet und des anderen
ist sein
Leid. Der Mann, der diese Missetat begangen hatte und mich aufsuchte,
um von
ihrer Schändlichkeit reingewaschen zu werden, ist kein
Unbekannter in dieser
Stadt, darum nenne ich ihn „Luca“, obschon sein
Name anderslautend ist. Auf
Zeitungsbildern sieht man Luca oft in meiner Kirche die Messe
besuchend, doch
in Wahrheit war er selten nur mein Gast. Luca ist Vertreter einer
christlich-sozialen Fraktion und buhlt damit um Wählerstimmen.
Mir soll es
recht sein, wenn ich dadurch an Öffentlichkeit gewinn, ich
weiß, auch Eitelkeit
ist eine schwere Sünde, doch bin auch ich nicht ganz von ihr
gefeit. Nie würde
ich mir anmaßen, ich sei unfehlbar, drum taugte ich auch
nicht zum Nachfolger
Petri. Diesmal waren keine Kameras zugegen, als Luca in den Beichtstuhl
trat.
Sein Antlitz war soll Sorge ob seiner Lasterhaftigkeit. Er suchte die
Nähe
seines Herrn, dass dieser ihm vergebe die wahrliche Liederlichkeit
seiner Tat.
Er begann stockend, dass er eine Frau habe, die er liebe und um keinen
Preis
verlieren wolle, ganz anders, als er sich bei seinen Auftritten in der
Menschenmenge gewohnt präsentierte. Sogleich spürte
ich, dass der, der da vor
mir kniete, der wahre Luca ist, als reuiger Sünder, und nicht
der, der
politische Ansichten verkauft. Er traf das Mädchen erstmals im
Hause eines
Waffenfabrikanten. Gedehnt und von langen Pausen unterbrochen sprach er
zu
Anfang, er tat sich schwer, sich mir zu offenbaren, dann schleuderte er
zwischendrin Sätze nur bruchstückhaft aus seinem Mund
heraus, als wollte er
sein Bekenntnis möglichst schnell hinter sich bringen. Und ich
staunte nicht
schlecht, wusste ich doch nicht, dass solche Verquickungen zwischen
Wirtschaft,
Halbwelt und Politik tatsächlich bestanden, ich hatte sie
stets für Gerüchte
gehalten. Luca hatte seinem Chauffeur freigegeben und war selbst
gefahren. Er
hatte den Dienstwagen im Innenhof geparkt, er war von der
Straße aus nicht ersichtlich.
Luca hatte für den Fabrikanten, der sich um Embargos nichts
scherte und seine
tödliche Ware auch in Krisengebieten verkaufte, Lobbying
betrieben, und er war
gekommen, um seinen Lohn dafür zu kassieren. Er sei beileibe
nicht der Einzige
seiner Zunft, der solche Dienste gegen bare Münze leiste,
versicherte Luca mir.
Er speiste mit dem Fabrikanten, Reis und Hummer und
Meeresfrüchte. Neben seinem
Gedeck lag ein Kuvert prall gefüllt mit Hundert-Euro-Scheinen.
Dazu tranken sie
Portwein und Chianti und später Cognac. Die Gattin des
Fabrikanten war nicht
zugegen, Kinder hatte Luca nie dort gesehen, vielleicht gab es keine,
oder der
Fabrikant hielt sie bewusst fern, um sie zu schützen.
Dafür saßen vier Damen an
einem Tisch. Der Fabrikant winkte sie her. Sie nahmen Platz auf einem
Sofa Luca
gegenüber. Sie waren sehr verschiedentlich. Gemein war ihnen
lediglich, dass
sie alle spärlich bekleidet waren. Eine war groß mit
einem eher herben Gesicht,
blonden Haaren und langen Beinen, schon ein wenig älter,
dafür sicher sehr
erfahren. Eine andere kleiner mit schwarzer Kurzhaarfrisur, in etwa
Mitte
zwanzig, mit üppigem Busen und einem ebensolchen Po. Die
Dritte war eher
androgyn, sehr schlank, mit Haaren braun wie Augen, von nicht leicht zu
schätzendem Alter, womöglich Anfang
dreißig. Die Letzte war mehr Mädchen noch
als Frau, ihr Haar war rötlich lang und Sommersprossen
bedeckten ihre nahezu
elfenbeinweiße Haut. Was in ihrem Ausschnitt zu sehen war,
würde noch reifen.
Sie war die Einzige, die Luca nicht direkt ins Gesicht blickte.
Sicherlich noch
nicht lange war sie in diesem Metier tätig. „Wie
heißt du?“, fragte sie Luca.
„Valentina“, kam zur Antwort. „Setz dich
doch zu mir, Valentina“, sagte Luca,
„oder hast du etwa Angst?“ Das Mädchen,
das sich „Valentina“ nannte, lächelte
unsicher, sie schien nicht so recht zu verstehen. Lucas Hand machte
eine
einladende Bewegung. Etwas umständlich stand sie auf und
setzte sich an Lucas
rechte Seite. Ihre Heimat war nicht die seine, sie lernte Lucas Sprache
erst.
Sie war barfüßig und trug ein knappes Kleid, das
weiß war und grün wie auch
ihre Augen. Ihr Mund war voll und sehr rot geschminkt. Huren
küssen nicht,
dachte Luca, doch Valentina tat es doch, nachdem sie sich in eines der
Schlafzimmer im Haus des Fabrikanten zurückgezogen hatten und
sie sich vor ihm
entblößte. Ihr ranker Körper wirkte, was
sie gewiss nicht war, jungfräulich. Im
Spiel der Sinne vergaß Luca die Dekaden, die zwischen ihnen
lagen. Als sie sich
wieder anzog, fragte Luca sie nach der Nummer ihres Mobiltelefons. Sie
gab sie
ihm. „Bitte ruf nicht du
mich an,
warte, bis ich mich
melde“, sagte ihr
Luca beim Abschied. „Ja sicher“, entgegnete sie und
lieh ihm nochmals ihren
Mund, auf dass er ihn küsse. Nicht er war der Jäger. Sie war die Jägerin und hatte
ihn eingefangen mit einem
Schmetterlingsnetz. Immer wieder rief er sie an, immer
häufiger wurden ihre
Treffen. Seiner Frau gab er vor, er hätte berufliche
Verpflichtungen, Politik
betreiben und Geschäfte machen in steter
Verschränkung, von seinen sündigen
Geschäften wusste Annabella, von seinem restlichen Treiben
hatte sie nicht den
Schimmer einer Ahnung. Zunächst fuhr er mit Valentina zu
einfachen Pensionen
auf dem Land, wo er weit mehr zahlte als den üblichen Preis
für eine
Nächtigung, um sich des Schweigens des Inhabers zu versichern.
Selten blieben
sie länger als einige Stunden. Zusätzlich zu ihrem
Schandeslohn erbrachte er
Valentina kostbare Geschenke, Fußkettchen, Armreifen,
Colliers und Ringe und
dergleichen mehr. Schließlich sorgte Luca für die
Miete einer kleinen Wohnung,
in der er Valentina unterbrachte, auch für die Einrichtung
stellte er sämtliche
Mittel bereit. Nach jedem Akt, der für ihn einer der Liebe
war, für sie einer
der bitteren Notwendigkeit, schmolz die Zahl seiner Lebensjahre wie Eis
in der
Sonne. Als er sie einmal fragte: „Wie alt bist du denn
eigentlich?“, erwiderte
sie ihm: „Neunzehn, bald schon werde ich zwanzig.“
Glaubte Luca ihr, oder
glaubte er ihr nicht, ich weiß es nicht. Von ihrer Gestalt
her mochte sie kaum
älter als fünfzehn sein. Ich denke, es spielte
für ihn keine wichtige Rolle.
Eines Nachts, er lag gerade mit Annabella im Bett, läutete
sein Mobiltelefon.
Die anrufende Nummer war unterdrückt. Luca nahm das
Gespräch an. „Du
Hurensohn“, erschallte eine Stimme mit einem harten
östlichen Akzent, „du weißt
wohl nicht, wie alt Valentina ist, nicht? Sie ist erst
vierzehn.“ Luca
entgegnete nichts, er ging rasch ins Bad. „Ich will dir eine
Chance geben, du
Bastard“, fuhr die Stimme fort, „gib mir 100.000
Euro und ich halte den Mund.“
Luca atmete schwer, er hatte begriffen, fragte nur: „Wann und
wo?“ „Morgen um
zehn Uhr nachts in Valentinas Wohnung“, war die Antwort. Luca
besorgte das Geld
von einem in einem Zwergstaat gelegenen ihm gehörenden
Nummernkonto, dessen
Existenz Annabella nicht bekannt war. Er übergab es dem Mann,
der klein war und
muskulös und goldbehängt. Valentina saß
daneben und sagte zu Luca: „Du bist
doch ein echter Idiot.“ Plagten ihn nun Gewissensbisse und
seines Herzens
schiere Not, dass er mich aufsuchte und mir dies erzählte,
oder war er wirklich
gewillt, den rechten Weg des Herrn wieder zu beschreiten und der
Sündhaftigkeit
wieder abzuschwören? Ich will zweiteres als Wahrheit erkennen,
denn ich will
das Gute in des Herren lehmgeformten Geschöpfes sehen, doch
meine Stimme hat
Luca verloren, jemanden wie ihn wähle in Zukunft ich
sicherlich nicht.
Wir
sind
dekadent geworden.
Unsere Lebensführung ist vergleichbar mit der des
spätrömischen Reiches, nur
technikgläubig scheinbar fortschrittlicher. Die alten Orgien
sind nun Partys.
Aus Wein, Weib und Gesang wurde, Sex, Drugs and Rock
´n´ Roll. Die
Arbeitszeiten werden ständig verkürzt, ohne dass der
allgemeine Wohlstand in
unseren Breiten eklatant leidet. Wohl sind erste Welle der Krise
ersichtlich,
doch es wird noch dauern, bis sie sind hoch getürmt. Die
Bequemlichkeit hat um
sich gegriffen. Wir haben nun viel freie Zeit, die wir doch nicht
nutzen, um
uns mit des Herrn Wunsch an uns auseinanderzusetzen, dass wir nur seien
ein
Glied in dieser Welt, wenngleich das einzige vernunftbegabte, doch wir
treiben
es, wie es uns gefällt, behaften uns mit Sünden
mannigfacher Art. Sagt mir, wer
ist denn heute noch bereit, die Heilige Schrift zu lesen und sie
für sich zu
deuten? Wer hält sich unbedingt an des Herrn Gebote? Wer
lauscht noch seinem heilsbringendem
Wort? Die wenigen, die dem Herrn noch folgen, gelten gemeinhin als
blauäugig
naiv und als nicht gegenwartsbezogen. Den Zeitgenossen des
Mittelalters, das
auch das dunkle wird genannt, gälten wir heute als Riesen,
denn klein war
damals ihr Wuchs, doch sind wir es nur an des Leibes Gestalt, nicht von
unseres
Geistes Sinnen und Trachten. Was dennoch einen Funken der Hoffnung in
mir
entzündet, ist, das eine namhafte Zahl von bedeutenden
Wissenschaftlern,
vorrangig Mathematikern und Physikern, an die Existenz eines
überirdischen
Wesens glaubt, manche nennen es „Gott“, da in ihren
Berechnungen zu viele
Variablen fehlten, als dass sie zu einem Ergebnis kämen, das
erkläre die
Gesetze der Himmelsmechanik. Auch wenn das All war zu Beginn
bloß ein Ball von
unendlicher Dichte und unfassbarer Temperatur, wer bewirkte, dass
dieser
auseinandertrieb und uns Myriaden von Sonnen schenkte? Und was war
vorher
gewesen? Nur durch die Anwesenheit unseres gütigen Herrn
lassen sich sämtliche
Theorien zur Entstehung der Welt schlüssig beweisen. Der
Gedanke seiner Händen
Schöpfung widerspricht nicht den Naturgesetzen. Er macht diese
erst möglich.
Offenherzig
gesprochen, kann
ich mancher Art von sündigem Treiben in
begrenztem Ausmaß an Erkenntnis nachvollziehen. In diesem
bestimmtem Falle
meine ich das des Zornes, weniger das seine frevlerische Wirkung
ausübend zu
entfachen, als vielmehr sein Gefühl in mir zu spüren.
Mag es mir auch Ungemach
bereiten seitens meiner im Glauben verbundenen katholischen
Würdenträger, ich stehe
dazu, dass ich den Unmut meiner in den Suren des Korans ihre Erhellung
findenden Brüder und Schwestern denen gegenüber, die
ihnen rauben wollen ihrer
Erden Öl und sie als steinzeitlich bezeichnen, einiges
abgewinnen kann. Nicht
finde ich es recht, dass diese Wut sich entlädt in
Anschlägen mit Sprengsätzen
geführt, denn meist sind die, welche am unmittelbarsten
darunter leiden, jene,
die es am wenigsten haben verdient, doch findet die Furie der
Anhänger der
Lehre vom flammenden Schwert, die nicht anders als wir Christen auch
Kinder
Gottes sind, gegen manche Mächte des Westens auch in meinem
Denken Platz. Nur
sollten sie ihre Muezzins nicht so laut rufen lassen, und wenn sie die
Anhängerschaft zu Taten der Vergeltung verlangen, sich von
ihnen abkehren. Die Schar
derer, die leben, wie es dem Propheten Mohammed gefiele, ist inzwischen
zahlreicher als die von uns Katholiken, und ihr Glauben ist fester. Sie
respektieren die Gebote, die ihnen ihre Religion auferlegt, strenger.
Meine
geistlichen Kollegen mögen mich rügen, wenn ich laut
es ausspreche, also
schreibe ich es leise: Die Glaubensgemeinschaft des Islam kann uns
Katholiken
in ihrer Fürchtigkeit vor dem Herrn durchaus als Vorbild
dienen. Ihr Zorn ist
mir begreiflich, doch ist er mir zu jäh. Er mündet in
Vergeltungssuch und in
der Bedürftigkeit, Rache zu nehmen. Dieser
Überschwang des Herzens vermag auch
verführen zu sündhaften Handlungen, nicht nur
Güte wohnt inne im Herzen,
sondern auch Ingrimm und Hass. „Wenn ihr zürnt, dann
lasst euch von eurem Zorn
nicht zu Unrecht verleiten. Räumt ihn aus, ehe die Sonne
untergeht“, steht
sinnigerweise geschrieben in der Heiligen Schrift. Doch wenn Satan, des
Zornes
Dämon, zu einem Menschen spricht, dann werden seine Taten
nehmen einen sündigen
Verlauf.
So war es
Massimo ergangen.
Sogleich, als ich ihn sah, erkannte ich, dass er ein Gescheiterter war.
Er hatte das Gesicht eines Trinkers, aufgequollen, von teigigem Teint,
unzählige
Äderchen waren bläulich geplatzt. Seine
Hände zitterten leicht, wie Laub im
Wechselwind. Die Kleidung, die er trug, war einfach, das Sakko an den
Ärmeln
abgestoßen, die Schuhe waren ausgetreten, er hatte sie frisch
geputzt,
wenigstens sie sollten glänzen, wenn schon seine Seele es
nicht mehr tat. Er
habe lange gezögert, den Weg zu mir anzutreten, begann er,
doch schließlich
habe er sich dazu aufgerafft, um die Last seiner Sünden
abzustreifen und seinem
Herrn Ehrerbietung zu erweisen. Massimos Vater richtete sich selbst,
als der
noch ein Kind war. Seine Mutter versank in schweren Trübsinn
und konnte nicht
mehr recht für ihn sorgen. Sie gab ihn zu ihrer Mutter, die
damals war eine
boshafte und harte alte Frau, die enttäuscht war vom Leben.
Massimo wuchs unter
ihren Schlägen und andauernden Kränkungen auf. Er
versuchte vieles, um ihre
Zuneigung zu erlangen, doch ohne jeden Erfolg. Die Wohnung war winzig.
Massimo
hatte keinen eigenen Raum, er schlief im Wohnzimmer. Das Geld war
knapp.
Spielzeug, und das nur wenig, bekam Massimo nur an seinen Geburtstagen
und zu
Weihnachten. Seine Kleidung erhielt die Großmutter
größtenteils geschenkt. Auch
wenn eine Kugel Eis billig war, für ihn war sie teuer. In der
Grundschule fiel
dies kaum auf, denn da hatten seine Kameraden Pausenbrote mit, so auch
er, doch
nach dem Unterricht in der Mittelschule, die er danach besuchte, es war
eine
bessere mit höheren Anforderungen, denn Massimo hatte einen
hellen Kopf, gingen
seine Kameraden gelegentlich zu eine der Piazze, um eine Cola zu
trinken und um
ein Panino zu essen, und er konnte sie nur begleiten, wenn ein andrer
für ihn
zahlte. Seine Schulkameraden trugen Markenkleidung und
erzählten von den
Berufen ihrer Väter, die hoch honoriert waren und meist auch
der Gesellschaft
dienlich. Massimos Gewand war schäbig und er hatte keinen
Vater mehr. In der
Oberschule dann wurde diese Diskrepanz eklatant. Nun ging er auf eine
technische Gewerbeoberschule, er hatte die fixe Idee, später
einmal sich ein
eigenes Auto zu bauen. Seine Kameraden waren zumeist
schnöselig,
Fabrikantensöhne zuhauf, die später die Firma ihrer
Väter erbten. Im ersten
Jahr lernte Massimo noch fleißig, denn der Unterrichtsstoff
interessierte ihn,
doch dann wurde es ihm zu wenig an Freude, tagsüber in der
Schule zu sitzen,
abends die Hausübungen zu machen und des Nachts zu lernen.
Jahrelang würde dies
noch so weitergehen. Es fehlte ihm an süßen
Genüssen. Manche seiner Kameraden
hatten Freundinnen, sie fuhren mit Vespas umher, waren in der
beginnenden Nacht
häufig in Lokalen anzufinden. Massimo hatte all das nicht. Er
hatte nur die
Schule und sonst keinen Spaß. Nicht länger wollte er
der Plebejer unter
Patriziern sein, er wollte auch gehören zu ihrem Kreis, und
das nicht erst in
ferner Zukunft, sondern schon bald. Er fing an, dem Unterricht
fernzubleiben
und seine Tage auf den Piazze zu verbringen, vornehmlich an dem, wo die
zentrale Busumsteigestation sich befand, da traf er auf andere
jugendlich
Enttäuschte, die Bier aus der Dose tranken, Wein aus der
Flasche und im
nahegelegenen Park Haschisch rauchten. Bald schon war er einer von
ihnen
geworden. Die Busse brachten ständig neue Gesichter, alte
Gesichter, junge
Gesichter, Gesichter, die Abwechslung suchten und Vergnügen.
So traf er auf
Alfonso, der des gleichen Alters war wie er, dem langweilig war und der
Abenteuer suchte. Alfonsos Eltern besaßen ein
platzfüllendes Haus, das etwas
schrullig anmutete, da ein Architekt es geplant hatte, der seine Sache
nicht
richtig verstand, inmitten eines weitläufigen Gartens in einem
der besten
Viertel der Stadt, der von Kirschbäumen bewachsen war und
solchen mit Äpfeln
und Birnen. Alfonsos Vater besaß eine Handelsfirma, der er
auch vorstand. Er
wollte, dass Alfonso ihm nachfolge, doch dem mangelte es an Interesse,
er
schrieb lieber Gedichte, manche zeigte er Massimo, die waren nicht mal
so
schlecht. Massimo konnte ihm bieten, wonach ihm der Sinn stand, Joints
rauchen,
Musik hören, nicht nur Bier und Wein, sondern auch Cocktails
trinken. Massimo
sorgte für die Zerstreuung, für die Alfonso hatte das
Geld. Er nahm ihn mit zu
sich nach Hause. Alfonsos Zimmer erschien Massimo riesig, im Garten
stand ein
Tischtennistisch und seine Mutter war blond und sah aus wie eine
Göttin. Das
Wichtigste jedoch war: Alfonso hatte eine Schwester, die hieß
„Stella“, was
nicht sehr passend war, denn sie war das Gegenteil von hübsch.
Sie war gerade
ein Jahr jünger als Alfonso, ihre Beine waren voller schwarzer
Haare, sie
wusste um ihre Hässlichkeit und redete daher nicht viel.
Massimo erkannte seine
Chance. Er umwarb sie und schließlich wurde sie schwach. Ihre
Eltern hatten
nichts gegen diese Beziehung, vielmehr waren sie froh, dass Stella wenn
schon
nicht einen Standesgleichen, dann besser irgendjemanden gefunden hatte.
Massimo
hielt sich an sie und unterdrückte sein Grausen, wenn sie mit
ihm Liebe machen
wollte. Er gab die Schule auf. Bald zogen er und Stella in eine
Wohnung, die
ihr Vater nicht für sie mietete, sondern gleich auf Stellas
Namen kaufte. Er
stellte Massimo als Bürokraft ein, der war ja nicht dumm, nur
ungelernt.
Massimo erledigte den Telefondienst und übernahm Arbeiten, mit
denen die
Sekretärinnen ihn betrauten. Währenddessen
absolvierte Alfonso die Schule und
maturierte, um danach Handelswissenschaften, er hatte sich besonnen und
betrieb
die Schreiberei nur noch nebenher, an der hiesigen Universität
zu studieren.
Die Jahre kamen, die Jahre gingen, aus Massimo war ein Rezeptionist und
Bürodiener geworden, Alfonso hatte sein Studium bald schon
beendet. Massimo
wusste, er bräuchte eine Absicherung und hatte sich darum
stets bemüht, Stella
ein Kind zu zeugen, doch dieser Segen wollte sich nicht einstellen,
Massimos
Mühen waren umsonst. Die Konjunktur ebbte ab, die
Geschäfte der Firma liefen
schlechter. Der Vater zog sich zurück in die Pension und
Alfonso, der
mittlerweile akademische Weihen erhalten hatte, übernahm die
Firmenleitung. Er
war nun nicht mehr so unbedarft wie früher, er führte
die Firma mit harter
Hand. Bald schon erkannte er, dass Massimos Stelle eine nicht notwenige
war.
Und Stella wollte unbedingt Kinder, die Massimo ihr nicht konnte
bescheren. Sie
sah zwar nicht gut aus, doch ihr Vater hatte ihr Besitztümer
überschrieben und
leistete ihr eine monatliche Zahlung, darum hatte sie Geld. Dieser
Umstand
sprach sich herum und sie brauchte nicht lange, um einen neuen Mann zu
finden.
Dieser war wohl viele Jahre älter als sie, doch sah man es ihm
nicht an. Ihm
war klar, worauf es ankam, und das Glück war ihm beschieden.
Stella wurde von
ihm schwanger. Ihr heimliches Verhältnis ließ sich
nun nicht mehr verbergen.
Sie trennte sich von Massimo, sie trug ihm schlichtwegs auf, sie war
nicht
gerade geschickt im Umgang mit Gefühlen, die gemeinsame
Wohnung binnen kurzer
Zeit zu verlassen. Nun sah auch Alfonso keine Notwendigkeit mehr, ihn
länger zu
beschäftigen. Massimo zog in etwas, was mehr ein Loch war als
eine Wohnung. Um
seine Schwermut zu bekämpfen, begann er Bier und Magenbitter
zu trinken,
anfangs nur wenig, doch es wurde täglich mehr. Zorn stieg in
ihm auf, gar nicht
auf Stella, die hatte er nie hoch geachtet, aber auf Alfonso, der wohl
der
Geschäftsführer der Firma war, doch nicht ihr
Besitzer, der war sein Vater.
Alfonso war mittlerweile verheiratet und Vater zweier Kinder. Und
Massimo, der
wusste von Verfehlungen von Alfons Seiten, von Seitensprüngen
mit
Prostituierten, von illegalen Preisabsprachen mit Konkurrenten, von
unversteuerten Geldern, die er nach Liechtenstein transferierte, von
gelegentlichem Kokainkonsum, wenn er sich schlecht fühlte. Er
tat alles, um
Alfonso zu schaden, setzte jeden Hebel, dem er habhaft werden konnte,
in
Bewegung. Er rief Alfonsos Frau an und berichtete ihr in allen
Einzelheiten,
welchen Genuss dieser bei anderen Frauen verspürt hatte und
welche Dienste sie
für ihn geleistet hatten. Er meldete sich bei der
Wirtschaftspolizei, beim
Finanzamt und beim Drogendezernat. Wenn diese Stellen seinen
Behauptungen
keinen Glauben schenken wollten, legte er die Anonymität ab
und nannte seinen
Namen, so voller Hass war er und gierig nach Rache. Alfonso erlitt
nicht so
viel Unbill, wie es angemessen gewesen wäre. Meist gelang es
ihm sich
herauszureden, die Vorwürfe seien haltlos und es fehle an
Beweisen. Er kam
ziemlich ungeschoren aus dieser misslichen Situation heraus, zahlte
lediglich
einige zehntausend Euro an Steuern nach, nur seine Frau wusch ihm
ordentlich
den Kopf, doch auch seine Ehe hatte weiterhin Bestand. Massimo hingegen
fiel
dafür tiefer und tiefer, er hielt sich mit
Tageslöhnerdiensten als Tankwart,
Putzhilfe und Tellerwäscher über Wasser, bis er
schließlich überhaupt keiner
Tätigkeit mehr nachgehen konnte, da er bereits zu schwitzen
begann nach einer
Stunde ohne Alkohol und seine Hände unkoordinierte Bewegungen
vollführten. Ein
von Vergeltungssucht zerfressener Mann, der nun zu mir beichten kam. Da
er Reue
zeigte, erlöste ich ihn im Namen des Herrn. Seine Gnade
möge ihm zugetan sein,
dem Fehlgeleiteten, dem, der schon verloren hatte, bevor er hatte
gespielt.
„Wer
unter euch ohne Sünde ist,
der werfe den ersten Stein“, beliebe ich den
Gläubigen zu vermelden. Kaum einer
sündigt nicht, und das täglich, und eine
Sünde kommt selten allein. Häufig sind
sind sie miteinander verwoben, Zorn geht ein mit Neid, Hochmut kommt
des
Öfteren mit Geiz, Wollust schließt gelegentlich Gula
mit ein, im Sinne der
Maßlosigkeit. Wir Kinder Gottes sind seinem Ebenbild nicht
gerecht, so
vollkommen er ist, so unfertig sind wir. In dieser materialistischen
Welt, in
der wir angelangt, wird sein Wort nicht mehr gern gehört. Was
als Sünde er
bezeichnet, ist heute geradezu Etikette. In besonderem Maße
trifft dies auf die
Habsucht zu. Die Werbung uns vermittelt, was dein Nächster
besitzt, soll auch
sein das Deine. Der Wert der Menschen wird an ihrem Besitz und ihrem
Einkommen
gemessen. Verdienst du viel, wird dich der Bankangestellte mit
freundlichen
Worten umgarnen. In meiner Kirche und jeder anderen mir bekannten ist
das
anders, jeder Betende hat denselben Stellenwert. Was zählt,
ist seine
Wohlerzogenheit, seine Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit zu
lieben, seinen
Nächsten und den Herrn, ohne dafür Liebe zu
verlangen. Der Gottgefällige gibt,
was er hat, bis er steht mit leeren Händen da. Dafür
sei ihm die Zuneigung
seines Herrn beschieden und die von Warmherzigen. Der Herr ist in
allem, in
jedem Staubkorn und in jedem Stern, er ist unendlich klein und er ist
unendlich
groß. Nicht umsonst hat er uns ausgestattet mit Vernunft. Wir
sind die
Einzigen, die ihn können begreifen. Manchmal denk ich fast, er
war schon müde,
als er hat uns erschaffen. Zunächst war ja alles noch in
Ordnung gewesen, doch
als Eva aß vom
Baum der Erkenntnis, ging der Ärger
richtig los.
Menschen
essen,
Tiere fressen,
das ist der Unterschied. Der Verfall an Sittlichkeit mag man gut an der
Kultur
des Essens bewerten, zu viel, zu schwer, zu fett und heutzutage zu
„schnell“,
was den Hunger stillt nur für kurze Zeit. Die
Völlerei ist nicht nur sündhaft,
sie ist auch ganz profan ungesund. Sein Dämon Beelzebub hat
nun leichtes Spiel.
Der Herr der Fliegen, so klein er auch sei, ist gar ein
Mächtiger in des
Teufels zahlreicher Schar. Die Gefräßigkeit hat
geschaffen einen profitablen
Wirtschaftszweig, der insbesondere für Frauen, wenn der Sommer
ist im Anzug,
Programme bereitstellt bestehend aus Leibesübungen und
Diäten gegen bares Geld.
Was sie dadurch an Leibesfülle verlieren, nehmen sie
später zumeist wieder zu.
Beelzebubs Süßholzgeraspel verleitet nicht nur zu
frevelhaftem Verhalten, es macht
auch dick. So rate ich meiner Gemeinde zu beherzigen des
Lukas´ Spruch, der da
lautet: „Hütet euch, dass eure Herzen nicht mit
Völlerei, Trunkenheit und den
Sorgen dieses Lebens beschwert werden.“ Beherzigten ihre
Mitglieder diese
Worte, würde nicht nur ihr Leben ihnen leichter fallen,
sondern auch ihr
Gewicht.
Diesmal
war es
eine Frau, die
bei mir erschien, um ihrer Sünde abzuschwören. Sie
war zwar zu dick, Beelzebub
hatte sein Werk an ihr gründlich verrichtet, doch ihr Gesicht
wies auf eine
selten vorkommende Ebenmäßigkeit. Sie war eine
Schönheit, immer noch. Ihr Name
war „Giulia“. Sie ging einer Arbeit als Lehrerin in
einer Grundschule nach und
sie lebte in geordneten Verhältnissen. Ihr Ehemann Alessandro
war Monteur und
daher viel auf Reisen und selten zuhaus, Giulias Liebe zu ihm erfuhr
dadurch
jedoch kaum eine Minderung und sie hielt ihm die Treue, obwohl sie so
manches
Angebot erhielt, das sie jedes Mal ausschlug. Der gemeinsame Sohn
Lorenzo war
im Alter eines Heranwachsenden. Giulia zeigte mir ein Foto von ihm, das
sie in
ihrer Brieftasche verwahrte. Er sah aus wie seine Mutter, das gleiche
dunkle,
dichte, gekräuselte Haar, die gleichen braunen Augen, derselbe
wellige Mund.
Lorenzo ging in die Schule, seine Noten waren nun schlechter als
früher, denn
jetzt interessierte er sich mehr für andere Dinge, mit
Freunden ins Kino gehen,
Mädchen aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten. Was ihm
seine Jugend
versprach, wollte er für sich verwenden. Er half aber auch in
der
Schulbibliothek, las viel und schrieb spannende Geschichten. Er
hätte weit
ungünstiger sein können für Giulia, als es
um sie stand. Wenn da nur nicht
diese vermaledeite zügellose
Esserei gewesen wäre.
Giulias Redefluss, der
hörbar der erfahrene war einer Frau, die von berufswegen viel
sprach, rann
nicht mehr so gleichmäßig dahin, als sie von ihren
eigenen Belangen erzählte,
Stromschnellen waren zeitweilen ihn ihm drin, dann wieder stand das
Wasser
ihrer Worte fast still. Den wenigsten fällt es leicht, ihre
Missetaten dem
Herrn zu offenbaren. Doch tun sie es, damit er vergibt ihnen ihre
Schuld.
Giulia war stets beschäftigt, sie verrichtete ihre berufliche
Arbeit, sie holte
Lorenzo von der Schule ab, kochte und lernte dann mit ihm,
kümmerte sich um den
ganzen Haushalt, auch wenn im Haus Reparaturen anstanden, leitete sie
diese in
die Wege, wenn sie sie nicht gleich selbst erledigte. Alessandro war ja
meist
nicht zugegen. Um dieser andauernden Belastung gewachsen zu sein,
aß sie, und
das meistens nachts. Sie stand vom Schlaf auf, noch traumverloren, ging
in die
Küche und suchte nach Lebensmitteln, die möglichst
süß den Gaumen ausfüllten.
Waren keine solchen Leckereien im Haus, stopfte sie sich Haselnusscreme
oder
bloße Marmelade in den Mund. Überall lagen
angebrauchte Löffel verstreut. Den
Ameisen war das eine Freude. Sie kamen in langen Straßen, um
die Speisereste
wegzutragen. Giulia hatte dann noch mehr Mühe, da sie die
Ameisen wieder aus
dem Hause schaffen musste. Ihr Körper dehnte sich und wurde
schwabbelig.
Besonders sommers schämte sie sich seinetwegen.
„Nächsten Sommer werde ich
wieder meine alte Figur zurückhaben“, sagte sie sich
daraufhin zum Trost. Sie
bemühte sich darum, sie strengte sich wirklich an, schmolz der
Schnee im Garten
und ging der Winter zur Neige, schrieb sie sich in Fitnessstudios ein
und
probierte alle nur erdenklichen Diäten. Sie nahm wochenlang
nur weißes Brot und
Milch zu sich oder ausschließlich Kartoffeln,
tagsüber, oder sie aß Trennkost,
jedem Versprechen der Erlangung von Schlankheit schenkte sie Glauben.
An
Neumondtagen fastete sie ausschließlich. Das Problem waren
die Nächte. Da
vermochte sie regelmäßig nicht, den Versuchungen zu
widerstehen. Der Tage Lohn
machten die Nächte wieder zunichte. Alessandro fielen diese
üblen Gewohnheiten
seiner Frau auf, er versteckte die Speisen, die Giulia besonders gerne
aß. Doch
nützte es herzlich wenig, denn wenn Giulia keine Schokolade
fand, dann aß sie
eben Nüsse. Sie konsultierte deswegen auch einen Arzt, der
ihren
Blutzuckerspiegel untersuchte, doch der erwies sich als normal. Als sie
einmal
einen Termin in ihrer Bank wahrgenommen hatte, stand eine Schale voller
Bonbons
auf dem Tisch ihres Beraters. Es war ein wichtiges Gespräch,
das sie führte.
Während sie sprach oder zuhörte, fischte sie
ständig neues Zuckerwerk heraus.
Als sie ging, war die Schale zur Hälfte geleert. Sie tat
vieles, um sich
Beelzebubs Einflussnahme zu entziehen, doch gar war er eine der vielen
Fliegen,
die nun die Küche bevölkerten, nebst Motten, die
auseinanderstoben, wenn man
die Kästchen öffnete, in denen Feigen und Datteln
lagerten, in seiner
leibhaftigen Gestalt. Die Knie taten ihr weh und die Hüften
und die Füße, wenn
sie im Unterricht nur wie gewöhnlich auf und ab ging. Schuld
dran war ihre
Fülligkeit. Sie dachte sogar an die Möglichkeit einer
Liposuktion. Jedes Mittel
wäre ihr recht gewesen, um sich selbst im Spiegel zu gefallen.
Trotz ihrer
barocken Maße war sie eine begehrenswerte und reizvolle Frau,
aber das sahen
zwar die Männer, doch nicht sie. Unternahm sie mit Alessandro
einen
Schaufensterbummel, wurde sie traurig, wenn sie all die schicken
Kleider sah,
die in ihrer Größe nicht waren verfügbar.
Bei jedem Geschäft verdüsterte sich
ihre Laune mehr. Sagte ihr Alessandro, sie sei bezaubernd und ihre
runden
Formen stünden ihr gar nicht so schlecht, was der Wahrheit
entspricht, auch ich
mag es zu bezeugen, vermeinte sie nur doppelzüngige
Schmeicheleien zu erkennen,
um sie zum Spiel der Körper zu verführen. Verlor sie
zwischendrin dann doch
etwas an Gewicht, waren stets scheinbar wohlmeinende Kolleginnen zur
Stelle,
die ihr rieten, beim Abnehmen achtzugeben, denn so litte das Gesicht.
Dabei sah
sie doch so fabelhaft aus, dass auch ohne Schminke sie konnte verlassen
das
Haus, und auch so war sie der hellste aller umliegenden Sterne. Sie
konnte sich
gut durchsetzen, sie war eine starke Frau, nur gegenüber den
Einflüsterungen
des Teufels zur Gefräßigkeit verleitenden
Dämons war sie machtlos. So was sie
denn in meine Kirche gelangt, suchend den Beistand ihres Herrn und
seiner Worte
Trost durch meinen Mund. Und ich tat, was sich meiner strenggenommen
eigentlich
nicht geziemte, ich machte ihr ein Kompliment. Was mag sie sich
daraufhin wohl
gedacht haben? Ein Mann Gottes, fürwahr, aber doch eben ein
Mann? Dies mag wohl
sein, denn als sie mich verließ, umspielte ein
Lächeln ihre Lippen.
Auch
ich bin
nicht gefeit vor
den Verlockungen der lieblichen Körperlichkeit. Manchmal
passiert es eben doch,
dass ich mich ihrer erinnere. Ich spüre nun des Herrn
strafenden Blick, doch
die Gedanken daran sind stets schön.
Unsere
katholische Lehre von
des einen einzigen Gottes bezeichnen nun viele als weltfremd und nicht
auf der
Höhe ihrer Zeit. Ich sage euch, sie nicht das Erste und sehr
wohl das Zweite.
Jene, die dies rufen, wollen nur verführen zu Habsucht,
Genusssucht, Maßlosigkeit
und Neid, und sie stellen diese dar als die neuen Werte. Die
Wirtschaftsordnung
baut zum guten Teil darauf auf, Konsumlust zu erwecken. Wer denn
außer wir
Vertreter dieser unserer Religion erhebt denn noch seine Stimme, um
diesem
Treiben Einhalt zu gebieten? Die Wirtschaftstreibenden unternehmen gar
vieles,
diese unsere gottesgefällige Stimme zu schwächen, sie
möglichst unhörbar zu
machen für eure lauschenden Ohren. Was früher war
schlecht, soll heut sein
recht. Kauft doch, ihr lieben Bürger, sammelt
Reichtümer an und gewährt euren
Herzen, dass sie sich verhärten, denn wer wenig besitzt, hat
es nicht besser
verdient. So sprechen ihre zahllosen Münder. So sprach auch
die Schlange
dereinst im Paradies. Manche meiner geistlichen Brüder werden
in Misskredit
gebracht, die Seiten der Zeitungen sind voll von Aussagen ehemaliger
Ministranten und Zöglingen, die von des Priesters Hand an
ihrer Hose berichten.
Wohl ist mir bekannt, dass manche der Wahrheit entsprechen, auch
Männer der
Kirche sind vor Verfehlungen nicht gefeit, doch diese Anschuldigungen
treten
auf mit immenser Wucht. Wir Geistliche werden als Lüstlinge
dargestellt, als
Sklaven unseres Fleisches. Seid ihr euch denn nicht dessen bewusst,
dass jeder
Journalist froh ist, wenn er hat ein Thema, über das er kann
schreiben? Bemerkt
ihr denn nicht, dass dies zum guten Teil sind konzertierte Aktionen, um
die
Gläubigen aus dem Schoße der Kirche zu treiben?
Was ebenfalls
Sorgenfalten auf
meine Stirn zeichnet, ist der wachsende Einfluss der Freikirchen. Sie
leisten
Versprechungen, die kein Gott kann je erfüllen. Sie betreiben
Ablasshandel, dem
unsere Kirche schon vor Jahrhunderten hat abgeschworen. Ihre
Anhänger verteilen
Broschüren, sie gehen von Haus zu Haus. Ich muss ihnen
zugutehalten, dass
wenigstens sie glauben an das Vorhandensein unseres einzigen Herrn und
dass
ihre Regeln oft sogar strenger sind als die unser katholischen Kirche.
Doch was
sie häufig nur begehren, sind eure geldwerten Mittel. Wisst
ihr denn wirklich,
ob die Kirche, für die sie um Kollekten bitten, jemals
tatsächlich wird erbaut?
Wer wahrhaft spürt des Herrn Allmächtigkeit, ihm
gewährt Ehrerbietigkeit und
ist bemüht, gemäß seinen Geboten sein
diesseitiges Leben zu fristen, der tut am
besten daran, in unserer Kirche das Heil zu erlangen, welches der Herr
ihm der
Tage und Nächte gnädig beschert.
Wir heutzutage
Geborenen waten
in Sümpfen von Sünden. Beginnt es zu regnen, bin ich
erfüllt von Angst, der
Herr möge gar nicht mehr wieder die Sonne am Himmel erscheinen
lassen. Stets
predige ich, verharrt nicht in steter Monotonie, erkennt die
Sünde also solche,
folgt nicht wie Ratten blindlings dem Flötenspieler,
öffnet eure Herzen und
lässt den göttlichen Atem hinein.
Als
einer der
mächtigsten
Einflüsterer dieser Moderne ist wohl Leviathan zu bezeichnen,
der Dämon des
Neides, der Missgunst und der Eifersucht. Er ist der, der den
Konsumenten lässt
kaufen, der düstere, der aus dem Wasser kommt. Seine Worte
sind von der
Temperatur eines guten Weines, von des Hades teuflischer Bedacht, und
sie klingen
süßer als türkischer Honig. Ihr, die ihr
diese Erde bevölkert, kommt nicht
umhin, sie in der Tage Verlauf ständig zu hören,
Leviathans Verführungskunst
ist seit Urzeiten gerühmt, doch seid euch dessen im Klaren,
dass wenn ihr ihnen
lässt folgen Taten, die ihm mögen gefallen, dies die
Abkehr von des Herrn
Wunsch an euch bewirkt. „Ein gütiges Herz ist des
Leibes Leben; aber Neid ist
Eiter in den Gebeinen“, sagte schon der Prophet Salomo, und
wie wahr, er hat
bis heute Recht.
Francesco,
mein
nächster auf
Abwegen Geratene, war den Verlockungen dieses Wasserdämons
verfallen. Sein Mund
war verkniffen und seine Augäpfel wanderten rastlos hin und
her. Er war ein
Getriebener. Neid isst die Seele. Bei ihm konnte man sehen, dass dies
ist
wirklich wahr. Seine Kleidung war korrekt, obschon sie den Eindruck
machte, als
sei sie nicht teuer, grauer Anzug von der Stange, aus unbehandeltem
Stoff,
weißes Hemd ohne Etikette, dunkelblaue Krawatte. Schmucklos
und unauffällig,
seinem Beruf entsprechend, der der eines Finanzbeamten war. Er war sich
seines
Unrechts bewusst. In höflicher Rede bat er mich, ihm die
Beichte abzunehmen,
denn er wolle Sühne zeigen und wieder des Herrn
schützende Arme um seinen Leib
spüren. Ich wies ihn an, im Beichtstuhl niederzuknien, auch
ich nahm darin
Platz. Er begann zu erzählen, für einen
Sünder wohl recht abgeklärt, in des
breiten Stromes ruhigen Flusses.
Francesco war
ein durchschnittlicher Mann, der mit einer durchschnittlichen Frau und
einer durchschnittlichen kleinen Tochter in einem durchschnittlichen Haus,
schon
recht weit auf dem Lande, welches er geerbt hatte, lebte. Keine
anmutigere Frau
hatte sich über einen längeren Zeitraum mit ihm
abgeben wollen, und auch keine
mit höheren Geistesgaben gesegnete. So hatte er mit Sara
vorlieb nehmen müssen.
Am besten an ihr gefiel ihm noch der Name. Er hatte sich einen Buben
gewünscht,
den er „Claudio“ genannt hätte, nach
seinem früh verstorbenen Vater, zu dem er
eine enge Bindung gehabt hatte, der mit ihm Fahrradausflüge
unternommen hatte,
mit ihm baden gegangen war, gemeinsam hatten sie am Strand Sandburgen
erbaut,
sie waren in Museen und Bilderausstellungen gewesen, und Vater hatte
ihm oft
aus Bilderbüchern vorgelesen, doch zur Welt kam ein
Mädchen, das sie auf den
Namen „Claudia“ tauften, als Kompromiss. Als
Francesco noch zur Schule ging,
wollte er später Carabiniere werden, denn das Wort eines
Carabiniere hat
Gewicht, einem Carabiniere macht man so leicht nichts vor, so fand er.
Ein
Carabiniere blickt streng und übt Macht aus, indem er zu
strafen vermag, und
der weiße Pistolengurt sieht doch so vornehm aus. Doch
für diesen Dienst,
erkannte er später schmerzlich, war er zu wenig sportlich,
seine Lungen fassten
nicht genug Luft und seine Beine waren nicht kräftig genug, um
allein den Teil
der Aufnahmeprüfung für die Akademie im Dauerlauf zu
bestehen. Wohl legte er
die Reifeprüfung ab, doch für ein Studium reichte
seine Gedankenkraft nicht. Er
fand eine Stelle als Sachbearbeiter in der Vertriebsabteilung einer
mittelgroßen Firma, die Spritzgussmaschinen und die
dazugehörigen Werkzeuge
erzeugte und in viele Länder dieser Welt verkaufte. Sein in
der Schule
gelerntes Englisch war leidlich, er hatte keine entsprechende
Ausbildung, daher
mangelte es ihm an technischem Geschick, in wirtschaftlichen Belangen
war er
bewanderter, er kalkulierte exakt die Gestehungskosten und erstellte
komplizierte Rückzahlungspläne, doch da er auch das
Zehn-Finger-Systems an der
Computertastatur nicht beherrschte, war sein Arbeitstempo zu gering, um
zeitgerecht die ihm übertragenen Aufgaben zu
erfüllen. Noch während der
Probezeit luden sie ihn zum Gespräch. Der Inhaber der Firma
war anwesend, der
Leiter der Personalabteilung und der des Vertriebes. Alle waren sie
gehüllt in
feinstes Gewand. Der Firmeninhaber trug gar Manschettenknöpfe
und ein
lilafarbenes Einstecktuch, Francesco wusste um seinen Maserati, der
direkt
neben dem Eingang des Firmengebäudes stand und um die
Sträuße von Rosen, die er
die Sekretärinnen besorgen ließ, um sie seiner
jeweiligen Geliebten zu
schenken. Die Anzüge aller dreien saßen auf
Maß, das Schuhwerk war dezent und
teuer. Sie hatten ernste Mienen aufgesetzt und eröffnetem ihm
ohne vieler
Umschweife, er sei den Anforderungen dieser Position doch
offensichtlich nicht
gewachsen und daher würden sie sich von seiner Person trennen,
heute sei sein
letzter Arbeitstag. Keiner rechte ihm zur Verabschiedung mehr die Hand.
„Euch
werde ich es noch zeigen. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon
habt“, dachte
Francesco bei sich, als er die gläserne Tür zum
Eintritt, der nun für ihn ein
Austritt war, hinter sich schloss. Diese Rachegelüste indes
vermochte er nicht
zu befriedigen, wohl wusste er von unsauberen Geschäften und
von Überweisungen
unversteuerter Gelder auf Bankkonten in Steueroasen, doch lagen ihm
keine Beweise
vor und so waren ihm die Hände gebunden. Die freie Wildbahn
des gierigen
Wirtschaftslebens war nicht das Richtige für ihn, das war ihm
klargeworden.
Einer von Francescos Onkeln war Beamter, und er riet ihm, sich bei der
Finanzverwaltung zu bewerben, die Arbeit dort sei zwar nicht allzu gut
bezahlt,
doch wäre es eine Stelle, die verspräche Sicherheit.
Francesco zögerte ein
wenig, er wälzte Gedanken, sich selbständig zu
machen, die er jedoch bald
wieder verwarf, denn es fehlte ihm nicht nur an Kontakten, sondern auch
an der
dazu erforderlichen Risikobereitschaft. Also, was bliebe ihm
übrig, er hielt
keine speziellen Fähigkeiten inne und sein Kopf war nur von
einem mittelmäßigen
Licht, er schrieb den Bewerbungsbrief. Sein Onkel intervenierte, und
sie
stellten ihn ein. Er war nun Finanzbeamter im örtlichen Armt,
versorgt, doch es
reichte nur für Ravioli und nicht für Krabben. Sein
Zuständigkeitsbereich war
jener der Steuerprüfung, vor allem bei Firmen, bei
Einzelunternehmungen bei
denen den Besitz innehaltenden Privatpersonen. Er teilte sich mit einem
älteren
Kollegen ein Büro, das war mit furnierten Spanplatten
eingerichtet, die
Jalousien waren schmutzig und die Fenster ebenso, sodass kaum je
Sonnenlicht
drang herein. Das typischste Geräusch war das Gluckern der
Kaffeemaschine,
gefolgt von dem leisen des Papierumschlagens in den Akten. Der Kollege,
der ihn
einarbeitete, gab ihm den Ratschlag mit auf den Weg, „es
gemütlich angehen zu
lassen, wir sind ja schließlich ein Staatsbetrieb“.
Eines Abends bei einem Kaffeehausbesuch
lernte er Sara kennen, sie saß verloren in einer Ecke und las
ein Modejournal.
Sie war zwar weder besonders attraktiv noch
übermäßig hellsichtig, doch war sie
die Beste, die ein Mann in seiner Position für sich gewinnen
könnte. Sie wurden
ein Paar, durchlebten auch sinnesfreudige Zeiten von Muscheln Suchen am
Meer,
von ausgelassenem nächtlichen Ausgehen und sich einen Schwips
antrinken, von
Almwanderungen und kristallklarem Wasser, mit dem aus Quellen sie sich
labten.
Sie schlossen den Bund der Ehe, doch mit den Jahren schwanden die
Farben und an
ihre Stelle setzte sich dumpfes Grau in verschiedenen Schattierungen.
Als
Claudia geboren wurde, war dies wieder ein Farbklecks, der aber bald
wieder
weggewischt wurde von dröger Monotonie. Im Amt durchforstete
Francesco
Steuererklärungen und die ihnen zugehörigen Berge von
Ordnern, er besuchte auch
die Firmen in deren Räumlichkeiten, um vor Ort die
Bücher zu prüfen. Und wenn
er dort in meist abgesonderten Kammern saß, die aus nicht
viel mehr als aus einem
Schreibtisch und einer Lampe bestanden, und er nicht mal ein Glas
Mineralwasser
annehmen durfte, um nicht als korrupt zu gelten, und wenn er ins Freie
sah und
dort den geparkten blankpolierten Lancia Thesis des Unternehmers
erblickte,
dann erinnerte er sich des Versprechens, dass er anlässlich
seiner damaligen
Entlassung gegeben hatte, und er fragte sich, warum er denn nur einen
von
Rostbeulen verunzierten Alfa 146 fuhr. Dann forschte er nach wie
besessen, er
rekonstruierte die Flüsse von Geldern, solange, bis er
Ungereimtheiten fand, er
blieb sogar auch ohne Überstunden zu verrechnen an dem ihm
zugeteilten Tisch
sitzen, er beantragte Verfügungen zur Öffnung von
Konten. Er wies den
Unternehmern Unrechenschaftsmäßigkeit nach. Er
ließ sie Steuern nachzahlen, war
es ihm möglich, zeigte er sie auch gerichtlich an. Er genoss
es, wenn die
hübschen jungen Sekretärinnen aufgebracht wie Wespen
durch die Büros schwirrten
und sich Sorgen um den Fortbestand ihrer Arbeitsplätze
machten. Er war der
Hecht im Karpfenteich. Sein letzter Fall, bevor Francesco sich zu mir
bemühte,
war die Prüfung der Einnahmen-Ausgabenrechnung eines
Hoteliers. Er mietete sich
inkognito ein, blieb zwei Nächte. Als er die Zahlung beglich,
erhielt er keinen
Nachweis ihrer. Nach Ablauf einer Woche kehrte er wieder, diesmal von
Amts
wegen. Er drehte die Bücher des Hoteliers vollkommen um, er
nahm seine
Geschäftstätigkeit regelrecht auseinander. Die Summe,
die er als
nachzuversteuernde errechnete, war eine horrend hohe. Der Hotelier war
nicht
nur gezwungen, den Konkurs anzumelden, er musste auch eine
Gefängnisstrafe
wegen Untreue antreten. Er verlor nicht nur sein Hab und Gut, sondern
auch
seine Freiheit. Was Francesco nicht gewusst hatte jedoch war, dass von
den
beiden Kindern des Hoteliers eines gelähmt im Rollstuhl
saß und das andere war
von Blindheit geschlagen. Vor zwei Jahren hatte er seine Frau, die an
Krebs
gelitten hatte, beerdigt. Die Kinder waren nun ohne ihren Vater und
wurden
fortan in einem schäbigen staatlichen Waisenhaus
untergebracht. Das stand eines
Tages in der Zeitung, die Francesco am
Frühstückstisch las. Er schämte sich und
vermeinte zu sehen des Herrn anklagenden Finger, der auf ihn gerichtet
war. Um
sich von seiner Seelennot zu erleichtern, sprach er nun zum Herrn durch
mein
Ohr. Der Hecht war nun am Angelhaken des Fischers, er lag im Trockenen
und
schnappte nach Luft. Doch er brachte Wasser, um zu überleben,
also vergab ich
ihm im Namen des Herrn und warf ihn somit wieder zurück ins
Meer.
So
viele Jahre
schon verrichte
ich mein Werk als Priester und die Zahl der Beichten, die ich bereits
abnahm,
kann sich messen mit der der Sterne in der Milchstraße, und
trotzdem geht es
mir nahe, was ich da höre, ich bewundere wirklich die
Güte des Herrn, dass er
all den Sündern vorbehaltlos vergibt, wenn sie nur bereuen.
Zum guten Teil
liegt es ja auch an der Menschen jetztwärtigen
Lebensführung, dass sie sich in
Sünden verlieren. Das Angebot ist schier
größer geworden, wie die Menge der
Waren in einem Kaufhaus. Alles geschieht schneller, alles geschieht
rascher,
allein das Tempo der Schritte der zur Arbeit Eilenden ist ein
beschleunigtes
gegenüber dem vor Generationen. Wir arbeiten mit Computern,
statt miteinander
in Kommunikation zu treten. Die Entfremdung voneinander steigt. Und der
lebendige
Mensch ist bald nicht mehr wert als die von Software abgebildete Figur.
Der
Herr hat keine eigene Facebook-Seite. Hätte er eine, wie viele
Freunde hätte er
wohl? Unsere Gedanken sind voll von Zahlenwerk und
Buchstabenkombinationen,
Bankomat- und Kreditkartencodes, Passwörter für das
Log-in zu Webseiten. Die
sozialen Netzwerke laufen der atmenden menschlichen Gemeinschaft den
Rang ab.
Wir sind ständig angespannt und fühlen uns so unter
Druck, dass wir dankbar
jede Abwechslung annehmen, die nur allzu oft eine mit Sünde
behaftete ist. Die
Lichter dieser Stadt sind der Nächten so hell, dass man viele
der Sterne, die
da sind, nicht mehr erkennt. Wie soll man denn Ruhe finden in der
allgemeinen
Hast? Mehr Kontemplation ist vonnöten, mehr Muße,
mehr Andacht. Kaum einer
nimmt sich noch die Zeit, mehrmals täglich zu beten. Immer
mehr werden es, die
nicht mehr gedenken des Herrn, die sich nicht scheren um seine Gebote
und in
Sünden schwelgen, die sie nicht als solche erkennen. Harre
ein, Mensch, und
besinne dich. Wer glaubst du denn, hat dich gemacht, wenn nicht der
Herr?
Findest du nicht, dass du ihm dafür etwas schuldig bist, und
sei es auch nur
deiner hellsichtigen Gedanken Wahrhaftigkeit? Trachte danach, dich
seines
Ebenbildes als würdig zu erweisen und verschwende nicht die
Kraft deines
Geistes, die Spannung deines Fleisches an unsinnige Taten, die gar
frevlerisch
sein mögen. Der Herr sei dein Hirte, der dich geleite auf
Wegen, die mit deinem
Zutun werden führen zur Glücksseligkeit. Nur wenn du
ihm bereitest Gefallen,
wirst du nach deiner hiesigen Zeit eintreten in sein Reich. Wie viele
wenige
Jahre sind das doch gegenüber der unermesslichen Ewigkeit. Du
brauchst kein
Mobiltelefon, um zu deinem Herrn zu sprechen, es langt, einfach an ihn
zu
denken. Auch wenn deine Lippen sich nur tonlos bewegen, wird er jedes
deiner
Worte verstehen.
Nun
ist mein
Sündenkatalog bald
abgearbeitet. Nur eine der als die des Todes bezeichneten fehlt noch,
die sich
„Acedia“ nennt, die der Trägheit des
Herzens, worunter man Faulheit versteht,
aber auch Gleichgültigkeit. Ihr Dämon heißt
„Belphegor“, und er erscheint gerne
in der Gestalt einer jungen Frau. „Gehe hin zu Ameise, du
Fauler, siehe ihre
Weise und lerne“, sagt die Heilige Schrift. Belphegor
kümmert das nicht. Er
stellt das Schlaraffenland dar als dein Ideal, in dem unter schattigen
Bäumen
du sitzest und deinen Mund offenhältst, auf dass gebratene
Tauben hineinflögen.
Auch legt er Dunkelheit in deine Seele und macht schwer dein
Gemüt. So erhob er
seine lockende Stimme zu Paolo, der nun neben mir im Beichtstuhl
kniete. Seine
Worte trug ich weiter zum Herrn. Ich bin sein Ohr und sein Mund.
Ich sah Paolo
sofort an, dass er neu in der Stadt war, denn er trug einen dünnen Pullover
unter der Weste. Die Weste war sehr weit geschnitten, da er ein sehr beleibter Mann war,
spöttische Zungen würden gar sagen, er sei kugelrund
gewesen. Seine Heimat war
ein Bergbauernhof in der Emilia-Romagna. Er war der älteste
Sohn, hatte den Hof
jedoch nicht geerbt, denn Belphegor war ihm schon in der Jugend zur
Seite
gestanden, der Vater hatte davon gewusst, nicht zu verheimlichen war es
gewesen, dass Paolo Krankheiten vorgetäuscht hatte, um der
Arbeit auf den
Feldern und im Stalle zu entgehen, und nach seinem Tode fiel der Hof
seinem
jüngeren Bruder Gennaro zu. Wahrscheinlich war es so gut
gewesen, denn Paolo
hätte ihn wohl am Kartentisch verspielt oder in
Wirtshäusern durchgebracht oder
seinen Wert in die zarten Hände reizender Konkubinen gelegt.
Paolo war zeit
seines Lebens ein rechter Müßiggänger.
„Kommt der Tag, bringt der Tag“, war
seine Devise. Vielleicht hatte es damit begonnen, dass er seinem Vater
eröffnete, er wolle eine Lehre als Elektriker absolvieren, was
den Vater wütend
machte. Er ließ es nicht zu, Paolo sei dazu bestimmt, Bauer
zu sein, und damit
basta. Häufig beliebte Paolo zu klagen, er habe seinen
gewünschten Beruf nicht
ausüben dürfen und auch der Besitz des Hofes wurde
ihm verwehrt. Kann sein,
dass es noch früher geschah, dass er Belphegors
Drängen nachgab und ihm das
sein Rückgrat brach, als sie von der mittelgroßen
Stadt, Paolo war damals noch
keine zehn, in der sie geachtete Leute waren, ein Onkel hielt das Amt
des
Bürgermeisters inne, auf den Hof zogen, den der Vater erworben
hatte, denn ihn
dürstete nach eigenem Besitz, dessen Boden bestand aus mehr
Steinen denn aus
fruchtbarer Erde. Ab diesem Zeitpunkt jedenfalls lernte er in der
Schule nicht
mehr recht und fing stattdessen an, groben Unfug zu treiben. So
platzierte er
einen Spiegel unter dem Pult der Lehrerin und schrieb während
der ersten Pause,
in der die Lehrerin die Klasse verließ, die Farbe ihrer
Unterhose mit Kreide an
die Tafel, die nicht immer weiß war, sonst wäre es
ja auch kein Spaß mehr
gewesen. Wohl gab sich Paolo Mühe, in Hochsprache mit mir zu
sprechen, doch war
die breite Mundart des Volkes seiner Region nicht zu
überhören. Er war ein
Fremdkörper in dieser Stadt, er passte nicht in sie hinein.
Nicht nur, dass
seine Kleidung war unpassend und sein Dialekt war von weither, es
fehlte ihm
auch an Distanz. Hielt er sich in einem der zwei Dörfer zu
Fuße des Berges, auf
dem sein heimatlicher Hof befand, auf, kannte er alle und jeden, und er
pflegte, sie unaufgefordert anzusprechen, sich nach ihrem Befinden zu
erkundigen und schließlich selbst zu erzählen.
Selten waren sie in Eile, also
befassten sie sich mit ihm, und waren sie es manchmal doch, dann nahmen
sie
sich destotrotz die Zeit, wenigstens einige Worte mit ihm zu wechseln.
Hier in
der Stadt war dies nicht üblich. Doch dennoch redete er hier
ihm wildfremde
Menschen an, als wären sie langjährige Bekannte
gewesen. Auch als er in meinen
Gesichtskreis trat, sagte er: „Grüß Gott,
Monsignore, schön Sie zu sehen. Ich
habe da einiges auf dem Herzen, von dessen Last ich mich erleichtern
möchte.“
Ich war Paolo bis dahin noch niemals begegnet und ich weiß,
er meinte es nicht
so, doch ich fand sein Auftreten als wenig respektvoll
gegenüber mir als
Vertreter des Herrn. Ich bedachte ihn mit einem scharfen Blick und
Paolo wurde
sogleich noch kleiner, als er ohnehin schon war, doch zu seiner
Erleichterung
sagte ich dann: „Komm, mein Sohn, ich lade dich zur
Beichte.“ Während er nun
kniete und erzählte, merkte ich, dass seine Art war keine
unverfrorene, sondern
nur eine wenig glückliche. Von der Schwere seines Herzens war
des Anfangs
nichts zu bemerken, doch nun vermeinte ich sie geradezu an meinem
eigenen Leibe
zu spüren, das zentnerschwere Gewicht, das Paolo in die Tiefe
zog. Mal brach
seine Stimme, mal riss das Band der von ihm gesprochenen
Sätze. Seine
Unsicherheit war klar ersichtlich. Sein zur Schau gestellter
Übermut wich der
Verzweiflung, die ihm zueigene Erdverbundenheit als Knecht seines
Bruders der
Unruhe des Geistes. Belphegors Stimme weist auf viele verschiedene
Facetten und
Tonlagen. Acedia ist eine weitgespannte Sünde, jetzt traten
sie alle zu
derselben Zeit bei Paolo ein. Eine handwerkliche Fachausbildung blieb
ihm also
verwehrt, er wurde des Vaters Gehilfe im Sägewerk, die liebste
Arbeitszeit war
ihm jene der Pausen, und er half gezwungenermaßen bei der
Bewirtschaftung des
Hofes, wobei er stets eine Tätigkeit, die heute nicht
vonnöten war, verschob
auf morgen. Als der Vater starb, fehlte ihm endgültig eine
strenge Hand und er
verbrachte seine Tage im Bette liegend und fernsehend, zwischendurch
stand er
auf, um etwas zu essen. Kurzzeitig verdingte er sich als Bauarbeiter,
die Firma
baute Straßen in einem anderen Teil des Landes. Schaute der
Vorarbeiter weg,
legte Paolo die Schaufel gleich zur Seite. Eines Tages rief seine
Mutter bei
der Firma an, um Paolo etwas mitzuteilen, und da erfuhr sie, dass er
schon
längst nicht mehr für sie tätig war, statt
zur Arbeit zu gehen, hatte er sich
ein Zimmer in der nahen Stadt gemietet und, wenn die Mutter dachte, er
läge
müde im Bett in einem Lager am Rande der Baustelle, verbrachte
die Nächte in Gasthöfen.
Wobei Paolo sich gut auskannte, das war über den Wuchs der
Bäume, so arbeitete
er zeitweilig als Holzfäller für wohlhabende
Waldbesitzer, der Lohn war recht
niedrig, doch Kost und Logis waren frei. Einmal war einer seiner
Kollegen
unachtsam gewesen, hatte den Keil von der falschen Seite in den Baum
geschlagen, dieser fiel um und streifte Paolos Rücken. Er war
zwar nicht allzu
schlimm versetzt, doch es langte für eine Versehrtenrente. Nun
hatte er nicht
dessen viel, aber doch genug Geld, um denen ihm bedeutsamen
Wirtshausbesuchen
ständig zu frönen. War er jemandem nicht bekannt,
erzählte er ihm
abenteuerliche Geschichten über seine Person, er sei
Großgrundbesitzer und
verfüge über eine hunderte Hektar große
Eigenjagd. Kam er dann anschließend wieder
nach Hause, wurde aus seiner Fantasiewelt die wirkliche, in der er zu
nichts
nütze und lediglich geduldet war. Seine Mutter hielt stets
über ihn ihre
schützende Hand, womöglich nur deshalb, weil er ihr
ähnlich sah, vielleicht
erkannte sie auch die Versäumnisse ihres seligen Mannes,
Paolos Vaters, und
glaubte, Paolo darum ein sorgloses Leben nahezu frei von jeder Arbeit
ermöglichen zu müssen. Doch als die Mutter starb,
jagte ihn Gennaro vom Hof. Er
zog in diese Stadt, die für ihn zu groß war, die ihn
wohl schlucken würde, doch
nicht verdauend in sich aufnehmen, sondern ihn wieder ausspucken. Und
nun
kniete er und sprach zu mir von seiner Not. Die schlimm war und nagte
an seiner
Seele wie an einem Stück Brot.
Als er geendet
hatte, sprach
ich aus die Formel, nicht die des Zauberers, sondern die des
himmlischen Herrn:
„Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris et Filii et
Spiritus Sancti.“
Und noch während er das Haus des Herrn verließ, dass
ich mit meiner Kraft und
meinem Glauben ausfülle, hörte ich ihn das Ave Maria
beten, das zur Sühne ich
ihm auftrug: „Gegrüßet seist du, Maria,
voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht
deines
Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns
Sünder jetzt und in
der Stunde unseres Todes.“ Paolos „Amen“
erreichte nicht mehr mein Ohr, da war
die Tür zu meiner Kirche bereits wieder geschlossen. Wieder
hatte ich eine
Seele den Klauen des Teufels
entrissen.
Und zum Dank an den Herrn
sprach auch ich nun das Vaterunser: „Vater unser im Himmel!
Geheiligt werde
Dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf
Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere
Schuld, wie auch wir
vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in
Versuchung, sondern erlöse
uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und
die Herrlichkeit
in Ewigkeit.“ Ich endete mit dem „Amen“.
Welche Schönheit liegt doch in
diesen Worten und welche Pracht. Ich habe diesen nichts mehr
hinzufügen.
Übrigens, mein Name ist
„Gabriele“. Ich hoffe, ich bin ein
würdiger Statthalter seiner auf Erden.
(Johannes Tosin)