Kantine, Maria und mehr

"Machen wir uns nichts vor", sagte Laupmann und begann augenblicklich damit. Er erzählte zum hundersten Male (mindestens!) die Geschichte von Maria, die er seinerzeit - Laupmann wählte den Ausdruck: 'zu meiner Zeit' - in Madrid kennengelernt hätte. Ich wusste aus den vorangegangenen Wiederholungen und der ersten Darbringung der Story, dass Maria "ein geiles Stück" gewesen sei und "voll Temperament, das kannst Du Dir nicht vorstellen, Junge". Folglich hörte ich nicht zu.

Laupmann hatte es vor Jahren, damals handelte es sich noch um seine Zeit, nach Madrid verschlagen. Als Ingenieur hatte er dort an einem defekten Motor oder ähnlichem sein Wissen zur Behebung von Fehlern einsetzen müssen. Der Aufenthalt beschränkte sich auf 12 Stunden. Das wusste ich von Schulz aus der Disposition. Er hatte es mir schon vor Monaten "im Vertrauen" erzählt. Laupmann flunkerte. Außerdem stahl er mir meine Zeit. Ich war untröstlich. Was sollte ich tun. Vom Kantinentisch unter einem schnell durchschaubaren Vorwand aufzustehen, erschien mir unhöflich und meine Reputation als guter Zuhörer zu gefährden. Sitzen zu bleiben war eine Qual.

Der Kantinenbetreiber oder sonst wer hatte die Blumen auf den Fenstern ausgetauscht, auch fiel mir auf, dass ein neues Bild an der Wand zwischen den Klotüren (Herren und Damen) hing. Ich freute mich über meine Wahrnehmungen. So blieb die Zeit, die Laupmann mit Maria verbrauchte nicht ungenutzt.

Elsa, etwas ältlich, Anlagenbuchhaltung, schien sich zu verändern. Ich hatte mich bereits am Montag über sie gewundert, wusste jedoch nicht, was meine Verwunderung hervorgebrachte. Jetzt fiel mir auf, dass sie ihre merkwürdig hellen, eine falsche und billige Jugendlichkeit suggerierende Kleider gegen schwarze Sachen getauscht hatte, die ihr eine vornehme Hülle boten. Sie selbst wirkte jünger und - tatsächlich - grazil. Vielleicht hatte sie einen Liebhaber. Ich gönnte es ihr und freute mich einige lange Sekunden über das neue Glück in ihrem Leben. Dann kam mir der Gedanke, es könne sich auch um einen Todesfall handeln. Damit wollte ich nichts zu tun haben und wandte meiner Aufmerksamkeit ganze Kraft Manni zu, der einer mir unbekannten Tätigkeit im dritten Stockwerk nachging (dort waren mehrere kleine Abteilungen untergebracht). Manni aß Apfelkuchen und las Zeitung. Ich vermute, dass sich meine Beobachtung etwa eine Minute dort verhielt, dann wanderte sie weiter zu Paula (Zonen-Paula nannten wir sie, die aus Sachsen-Anhalt zu uns Gestoßene). Sie gefällt mir. Zonen-Paula ist ein geiles Stück. Ich nahm mir fest vor, sie gelegentlich anzusprechen und auszuhorchen. Vielleicht lebt sie allein.

"Sie hat geheult, wie ein Schlosshund" hörte ich Laupmann sagen. Auf diesen Satz war ich geeicht. Er bildete den ersehnten Schluss von "Maria". Das Stück war zu Ende. "Ja, manchmal..." sagte ich. Ich sage das immer, wenn Laupmann "Sie hat geheult, wie ein Schlosshund" sagt. Ich wüsste nicht, wie der Satz zu Ende zu bringen wäre. Allerdings besteht dazu auch keine Veranlassung. Er reicht trotz seiner tiefen Sinnlosigkeit völlig aus.

Laupmann erhob sich vom Kantinentisch, nahm sein Tabellet und ich beobachtete ihn dabei, wie er es in das dafür vorgesehene Regal schob. Dann stand auch ich auf. Bei den Fahrstühlen sahen wir uns noch einmal an. Laupmann fuhr abwärts, ich nach oben.

Bevor ich mich über meine Arbeit machte, suchte ich die Toilette auf, ging in die letzte Kabine und befriedigte mich selbst, während ich mir vorstelle, was ich mit Zonen-Paula erleben könnte. Ich spritzte in eine Lage Papier, spülte es hinunter, und ging zu meinem Schreibtisch.

Ich bin ein glücklicher Mensch. Ich bin ein glücklicher Mensch.


(Leander Sukov)