Gummibärchenmanie oder die Frage: Ist das schon Rinderwahn?
Wenn Säuglinge wüssten, was sie im Leben einmal erwartet, gäbe es wahrscheinlich
Massenselbstmorde noch vor Erreichen des Krabbelalters. Nichts gegen das
Krabbbelalter. Von allen Stadien des Lebens ist es immerhin jenes, das einen
zumindest haltungsmäßig auf Späteres vorbereitet.
Diese Einleitung soll jetzt keinen herunterziehen, sondern für das Folgende den
passenden Groove bereitstellen. Also konkret: Warum heißen Weingummi Weingummi?
Hat nix mit Stimmungsschwankungen zu tun, sondern mit Wein, besser bekannt als
Lethe, der Trank des Vergessens. Also Schwamm drüber.
Weingummis sind rot, und Kinosessel meistens auch, wenn auch orangiger. Nehmen
wir einmal an, man sitzt im Kino, nascht Weingummis, trinkt dazu ein Glas
Rotwein und schaut sich Krzystof Kieszlowskis "Rot" an, ein Film, der
quasi die kinematographische Version von Weingummi ist, oder Wein oder von der
Farbe verweinter Augen. Nehmen wir nun weiter an, Sie vertragen keinen
Weingummi, entwickeln darauf eine Allergie und die Augen färben sich rot: Ist
das nun Weinen oder Weingummifolge oder einfach nur Zufall? Wenn Sie bis jetzt
weitergelesen haben, ist das nun Folgende wichtig für Sie.
Kürzlich, als ich am Markt vor dem Obststand stand, fiel mir ein, dass meine
Lieblingsfarbe eigentlich Lila ist. Ich konnte mich nicht entscheiden, worauf
ich Lust hatte, und da entschied ich mich für die Farbe und kaufte dunkle
Weintrauben, Pflaumen, frische Feigen und Blaubeeren, alles von annähernd
gleichem Blaulila, und was die wirklich haargenau gleich hatten, war diesen
samtigen hellen Schimmer Blau, als hätte der Himmel auf sie abgefärbt.
Seltsam. An dem Wochenende aß ich mit Genuss alles, was lila war, und es wurden
wolkenlose Tage mit einem Himmel von genau der Farbe. All das ist ein Geschenk
und stimmungsaufhellend zur Potenz, aber bestimmt kein Zufall. Irgendwo gibt es
einen Gott, der will uns etwas sagen, oder zumindest fragen, warum es keinen
Weingummi von der Farbe gibt.
Wenn man einmal auf das 21. Jahrhundert zurückblicken wird, wird man davon
sprechen, dass Millionen und Abermillionen von Menschen auf Gummibärchen
umstiegen, und das solange, bis der Markt für Gummibärchen immer enger wurde
und zusammenbrach. Was in Holland vor 200 Jahren der Börsencrash der
Tulpenspekulanten, wird bei uns einmal der schwarze Gummibärchenfreitag werden,
an dem wir nichts mehr drollig Süßes zum Kauen und Lutschen haben. Der Tag
also, an dem wir ins Krabbelalter eintreten.
Meine Freunde essen alle das Gelatinezeug, das aus dem feinen Bindegewebe
zwischen Rinderhaut und Rindfleisch hergestellt wird. "Rinderwahn",
dichtete Max Raabe, "wer weiß denn, wo die Rinder warn?" Ja, der
Nachschub geht zu Ende, Gelatine wird rar, schrieb kürzlich eine Tageszeitung.
In den Neunzigern waren es Aktien, heute sind es Gummibärchen, die wir
brauchen, und die den Bach runtergehen. Wir werden alle zu Säuglingen, und wenn
wir nicht an Bärchen lutschen und uns dabei Rinderwahn holen dürfen, droht
Massenselbstmord, aus gegebenem Anlass, siehe oben. Oder ist die Fresssucht
schon ein untrügliches Symptom von BSE-Befall? Ich kann das nicht sachlich
beurteilen, ich bin selbst Betroffener.
Ich kenne ganze Familien, die fahren in größere Städte eigentlich nur mehr,
um sich im Gummibärenladen einzudecken. Früher ging man dort ins Kino, oder hängte
in Bars ab. Heute werden Gummibärchen geholt und dann geht es ab nach Hause
aufs Sofa, mit einem satten Plumps in die häusliche Depression. Man hat ja ein
Gegengift: Gummibärchen, in immer wieder neuen Sorten, scharf, extrascharf, mit
Ingwer oder Kardamom oder Melisse, bei Schlafstörungen. Haben auch einige,
obwohl bei Säuglingen ja eher selten.
Am Besten sind die Weingummis. Man kaut einen Gummi, dann trinkt man einen
Schluck Rioja und ist irgendwie Beides: Baby und cooler Mittvierziger. Danach
ist einem etwas schlecht, was ein klasse Gefühl ist. Man fühlt sich wieder
richtig jung wie damals, als man das Zeug noch gefressen hat, als es nichts
Besseres gab. Man hatte keine Ahnung, wie mies die Sache werden würde. Wir sind
die erste Generation seit dem Tulpenwahn in Holland, der man die Rente geklaut
hat.
(Berndt Rieger)