DER HOHE PREIS DER ALCHEMIE
(Fiktion)

von Rihno Rhinozeros

Alchemie:
1. vorwissenschaftliche Fase der Chemie
2. unwissenschaftliche Versuche, Gold herzustellen, Goldmacherei
3. schwarze Kunst.

 

...Er aber, lallend wie ein Trunkenbold,
lag über dem Geheimfach und begehrte
den Brocken Gold, den er besaß.
(aus: Der Alchimist von Rainer Maria Rilke)

 

Ist einer viel ´rumg´reist, hat g´lebet und viel g´sehn
so treibt ihn a Kraft, uns davon z´erzähl´n.
Und treibt ihn die Kraft, schreibt gar er a Buch
so reißt sich die Welt drum, als hätt´s danach g´sucht.
Wer aber dran glaubt, ist selber a Narr!
Und´s ist alles nit wahr! Und´s ist alles nit wahr!
(sehr frei, dafür aber in größter Dankbarkeit nach Johann Nepomuk Nestroy

 

 

Eine Fiktion

Mit stolz geschwellter Brust wählte Klaus Bauf, der Herausgeber eines Provinzkäseblattes mit dem Namen "Die Zeitung", die Nummer seines Redakteurs Andre Metz. Ein missvergnügter Metz hob ab.
"Der Herausgeber der großen Lifestylzeitschrift Klaus Bauf hat soeben das O.k bekommen für ein Gespräch mit dem weltberühmten argentinischen Millionenbestseller Pedro Cielo und greift befriedigt zum Hörer, um seinen besten Mann, Andre Metz zu informieren, dass Andre nun, sein großes Vorbild, höchstpersönlich interviewen dürfe. Jetzt hat es Andre Metz g´schafft!"......fantasierte Bauf, erstmals in seinem Leben außer sich geraten, wild vor sich hin. "
-Was das auch immer zu sein oder zu werden vorgibt, - es ist schlecht, furchtbar geradezu, meinte Andre Metz bitter.
Der Herausgeber, ob seiner misslungenen literarischen Fantasie gekränkt, wollte Metz diesen Triumph nicht weiter gönnen und befleißigte sich wieder seines wohlbekannten seriösen - wie er das selbst zu nennen pflegte - Tonfalls, um Metz zu informieren, dass er tatsächlich Pedro Cielo interviewen dürfe.

Pedro Cielo war anläßlich der Österreichpremiere seines verfilmten - natürlich - Megasellers mit dem Titel "Auf Traumpfaden" mit dem wirkungsvollen amerikanischen Filmtitel:"On paths of dream" auf Einladung des größten österreichischen Privatsenders "IMTV" nach Wien gekommen, um den Film einem ausgewählten Publikum von 500 Leuten zu präsentieren, und um seine Leser und die, die es noch werden wollten, kennen zu lernen, in diversen Buchhandlungen Bücher zu signieren, und als krönenden Abschluss eine Vespermeditation in der stimmungsvollen Atmosfäre der Votivkirche zu verrichten.

Der Film, eine Hollywood-Produktion, hatte bereits nach wenigen Wochen in den USA alle Rekorde gebrochen und es wurde schon spekuliert, dass er locker mit Kalibern wie "Ben Hur" würde mithalten können. Die Story packend, der lebensphilosophische Anspruch mitreißend - ist eigentlich sehr einfach zu erzählen: Ein Mann in den besten Jahren, mit durchaus schönen beruflichen Aussichten, verliert eines Tage alles, was sein Leben bisher ausmachte, findet aber dafür zu sich selbst. Und so bricht er auf, um seinen Schatz zu suchen. Den findet er zunächst natürlich nicht, dafür aber seinen Meister, der ihm, - langer Rede kurzer Sinn - als Erkenntnis auf den Weg mitgab, seinen Träumen zu folgen, die ganz tief in seinem Inneren versteckt seien. Vermochte er sie an die Oberfläche zu bringen, könnte er seinen Schatz finden. Gold und Edelstein säumen bisweilen seinen Weg, dann aber auch bittere Armut, und er verliebt sich natürlich - unzählige Male, aber er muss ja weiter, darf nicht ruhen! Ziellos irrt er in der Welt umher und kommt bis in die Sahelzone und dort offenbart ihm Gott (mittels weißer Vogelfeder!), er müsse das Buch mit den weißen Seiten finden. Neuerlich zieht er umher, sieht aber nur sein Ziel, nicht aber seinen Weg und kann trotz größter, ja übermenschlicher Anstrengung, Gottes Auftrag nicht erfüllen. Völlig verzweifelt ob seines Versagens hadert er mit der Welt, mit sich und Gott. Als er aber eines Tages von seinem Gram ablässt und völlig leer die Welt betrachtet, offenbart sich ihm der göttliche Funke - und in diesem Moment ( es ertönt im Film das imposante "Hallelujah" aus dem Schlusschor von Händels "Messias"), - ein mächtiges Hallelujah der Erkenntnis und jetzt, göttlicher Liebe und Wohlgesonnenheit gewiss, versteht er endlich, was Gott von ihm wollte:
Er selbst sollte DIESES Buch schreiben, mit seinem nunmehrigen Wissen sollte er es füllen.
Für diesen Film hatte Hollywood wirklich keinerlei Kosten und Mühen gescheut. Nichts war zu teuer, nichts zu aufwendig. Unterirdische Sprengladungen, die aber garantiert umweltfreundlich gewesen wären, wurden gezündet, um Sandstürme auszulösen. Zu guter Letzt wurde die Sahelzone sogar künstlich begrünt und angeblich auf Cielos Drängen hin, den Nomaden nach Drehschluss sogar kostenlos weiter zur Verfügung gestellt.

Es darf nicht verhehlt werden, dass Andre Metz - trotz allem - Cielo sehr schätzte und von gefährlicher Verehrung gar nicht weit entfernt war. Insbesondere der spirituelle Zugang in Cielos Büchern schien Metz sehr entgegenzukommen, da er von vielen anderen Wegen zur Erleuchtung, der noch einfachste zu sein schien - wenn aber auch nicht ganz ungefährlich: Bei einer Übung nämlich, in der es darum ging, dem Tod ins Antlitz zu blicken, um ihm so seinen Stachel zu nehmen, holte sich Metz beinahe den Tod, als er im Wienerwald, nahe Hütteldorf, liegend, in der Vorstellung des Lebendig-Begraben-Werdens zwar keiner Visionen ansichtig wurde, dafür aber einiger kräftiger Regengüsse, die ihn bis auf die Haut durchnässten und er sich dermaßen verkühlte, dass schon eine bleibende Bronchitis befürchtet werden musste.
Recht bald darauf überkamen Metz erste Zweifel, und er stellte letztendlich doch die verschiedenen Übungen ein. Mit der Zeit verlor er zwar das Interesse an Cielos spirituellen Übungen, nicht jedoch den Spaß an Cielos literarischen Einfällen, und weil er gut erzählte Geschichten schätzte, blieb sein Interesse an Cielo am Leben. Nun, da ja jetzt außerdem Gelegenheit bestand dem Magier auf den Zahn zu fühlen, willigte Metz dann doch relativ rasch ein, das Interview mit Cielo zu führen - und irgendwo schwang da auch ein klein wenig bei Metz die Hoffnung mit, im Zuge dieses Gesprächs seine Zweifel an der Methodik Cielos zerstreuen zu könne, um so endlich wiederum ruhigen Gewissens Cielos Weg aufnehmen zu können.

Just an jenem Tag als sich Metz ernsthaft an die Vorarbeit seines Interviews mit Pedro Cielo machte, nahm sein Freund Jan Varga nach Monaten des Schweigens mit Andre Metz wiederum Kontakt auf. Varga war offensichtlich bestens informiert, als er meinte, dass Metz jetzt wohl viel zu tun habe.
Jan Varga, Großimporteur von Flügeln und anderen Musikinstrumenten, daneben noch Künstler aber auch Kritiker, hatte Andre Metz bei einer Zugfahrt nach Athen kennen gelernt. Varga schätzte an Metz besonders dessen theatralisches Talent, mit dem er Szenen des täglichen Lebens ausarten lassen konnte. Doch selbst im größten Exzess schaffte es Metz immer noch irgendwie, die letzte Kontrolle über seine Inszenierung zu bewahren.
Metz seinerseits achtete den strengen, fast schon großinquisitorischen Kulturgeschmack Vargas und dessen angemessene rationale Betrachtungsweise der Welt .
Auf jener besagten Reise nach Athen gelang es beispielsweise Metz sogar, das doch sehr unfleischliche Thema des Papstes bei einem romantischen Abendessen mit zwei Holländerinnen dergestalt auf die Spitze zu treiben, dass im Laufe des Abends bereits bei der bloßen Erwähnung des Pontifex Maximus durch Metz den beiden Niederländerinnen dermaßen die Schamesröte ins Gesicht schoss, dass man hätte glauben können, Metz hätte soeben die größte Zotte von sich gegeben.
Varga, der die beiden ursprünglich für ein sexuelles Abenteuer vorgesehen hatte, und der jetzt sah, dass an diesem Abend wohl alles, nur jedoch kein Sex zu erwarten war, machte sich natürlich nicht das Geringste daraus, sondern - ganz im Gegenteil - genoss königlich diesen absurden Abend und vermochte in seinem Genuss Metz zu noch verrückterer Hochleistung aufzustacheln.
Trotz des gegenseitigen guten Einvernehmens zwischen Metz und Varga beschränkten sich ihre leibhaftigen Treffen auf einige Male im Jahr, doch hielten sie ihren Kontakt mittels telekommunikativer Kommunikation aller Art - Handy, Fax, E-mail und gelegentlich auch Telepathie - aufrecht.

Metz berichtete also Varga von seinem Interview mit Pedro Cielo und wunderte sich nicht weiter, dass Varga gerade noch mit dem Namen des argentinischen Bestsellerautors etwas anfangen konnte, jedoch nichts von ihm gelesen hatte. So war er eben dieser Jan Varga.
Metz hegte beinahe den Verdacht, dass es gerade die Millionenauflagen von Pedro Cielo waren, die Varga vom Lesen seiner Werke abhielten, beziehungsweise wäre es auch durchaus möglich gewesen, dass Varga, wenn er tatsächlich auch schon etwas von Cielo gelesen hätte, es wohl dem Freund gegenüber bestritten hätte - aus vorauseilender Skepsis derartigem Kommerz gegenüber.
Jan die Nervosität des Freundes erkennend, versuchte den angespannten Vorbereitungen von Andre eine andere, eine spielerische Richtung zu geben. Man diskutierte über Literatur im Allgemeinen, die Romantiker im speziellen - und bewegte sich rasch rückwärts und war flugs bei der platonischen Ideenlehre zwischengelandet, um wiederum Bodenhaftung mit dem eigentlichen Thema, dem Interview mit Cielo zu bekommen.
Varga und Metz kamen nach stundenlanger Diskussion überein, Cielo die Diskussion über das platonische Höhlengleichnis und die Bedeutung von selbigem in seinem Werk zu ersparen und ließen es bei den übrigen anderen, nicht minder brisanten, doch ihnen , alles in allem, immer noch sehr harmlos scheinenden Fragen, bewenden, und machten noch kurz einen möglichen Termin für ein Treffen aus, der in neun von zehn Fällen ohnehin kurz zu vor storniert werden würde.

Nachdem sich Metz nach dem Gespräch mit Varga sehr gut gefühlt hatte und konzentriert arbeiten konnte, kam am Abend vor dem Interview wiederum eine gewisse Unruhe auf, und tatsächlich läutete dann das Telefon und am andern Ende raunte ihm der Herausgeber Bauf verschwörerisch zu, dass er jetzt gerade mit Cielo in einem italienischen Lokal in der Innenstadt sei und Metz anbot, ebenfalls in das Lokal zu kommen, wenn er Lust dazu hätte. Metz überlegte kurz und dachte an die vielen und zumeist unnötigen Leute, die ein solcher Mann anzieht. In diesem Augenblick sagte Bauf, dass gerade der Uraltbürgermeister und seine Gattin Cielo um ein Autogramm gebeten hatten und natürlich auch erhielten. Andre dachte, dass es draußen kalt sei und der Gedanke an ein vorzeitiges Treffen mit dem “großen Vorbild” wurde geradezu verschwindend unbedeutend. Als Bauf dann so en passant Andre fragte, ob er etwas gegen eine Vorverlegung des Interviewtermines hätte, weil ihn Cielo darum gebeten hätte, und er natürlich diesem, seinem Wunsch entsprechen wollte, sah sich dann Metz doch veranlasst, die ganze Sache selbst in Augenschein zu nehmen. Metz überlegte nur kurz und wußte, dass sein erster Auftritt bei Cielo richtungsweisend für das morgige Interview sein würde und entschloss sich, dem Mann gleich auch rein äußerlich einen Schuss vor den Bug zu geben. In das überfeine Innenstadtlokal - fast schon kitschig, so fein, - trat Andre Metz also mit seiner braunen Lederjacke, Jeans, aber sehr eleganten Schuhen.
Natürlich wurde von einem weiß-livrierten Kellner sofort versucht, diesem kleidungsmäßigen Affront Metz entgegenzutreten, indem er Metz hinterhältig an der Tür aufhielt, um ihm seine Hilfe anzubieten. Doch Metz wehrte souverän ab, und preschte vor, dem Kellner vorbeieilend zurufend, er suche jemanden - und das alles in englisch. Der Weiß-Livrierte blieb einfach zur Salzsäule erstarrt stehen.
Klaus Bauf gab sich verhalten erfreut, Metz zu sehen und stellte ihm diesen Herren und diesen Frauen " soundso" vor. Metz, der dieser Situation das Sahnehäubchen aufzusetzen gedachte, gab sich seinerseits mit seinem vollen akademischen Titel aus.
Der Meister selbst, umgeben von Frauen, die ihn anhimmelten, trank roten Wein und plauderte angeregt mal in die Richtung, mal in jene und nahm natürlich abseits vom Epizentrum weiblichen Interesses keine Notiz von Metz. Auch ein Gespräch Andres mit einem anwesenden "68-er" des vorigen Jahrhunderts, der den Autor angeblich gut kannte, konnte nur begrenzt mit neuen, ganz zu schweigen interessanten Informationen aufwarten. Nun sah Metz seine Zeit gekommen, wartete den richtigen Moment ab (als die Anhimmlerinnen eine kurze Verschnaufpause eingelegt hatten!) um beim Meister vorstellig zu werden. Ein von Andre dabei fast umgestoßener Servierwagen mit erlesenen Rotweinen und vielen teuren Weingläsern hätte beinahe ein zusätzliches spannendes Moment ins Spiel gebracht, doch das ganze wäre dann wohl zu sehr ins Slapstickartige ausgeartet und das wollte Metz nicht - noch nicht!
Dann wurde Andre Metz, Cielo als der Journalist vorgestellt, der ihn morgen interviewen würde.
Cielo wirkte müde. Er schüttelte Metz kraftlos die Hand und wollte die Sache schnell hinter sich gebracht wissen. Er fragte Metz deshalb sofort, ob die Verschiebung in Ordnung ginge. Metz stimmte höflich zu. Da Cielo offenbar die alte journalistische Weisheit kannte, dass man aus der Größe der Auflage einer Zeitung zugleich auch den Interviewer einschätzen konnte, antwortete Metz auf die Frage Cielos nach der Auflage seiner Zeitung mit einer Zahl, die Cielo keine wirklichen Aufschlüsse liefern konnte und prüfte dabei mit einem Blick in einen ihm gegenüber an der Wand montierten Spiegel, ob seine Pose auch stimme. Das Bild, das sich Metz bot, gab ihm recht, sich gut zu fühlen. Cielo hingegen hatte den Eindruck, dass von Metz nichts wirklich Beruhigendes ausging, verbarg jedoch diesen Eindruck, indem er nahezu hysterisch übertrieben ausrief, dass ihm dieser höfliche Mann, - auf Metz deutend - , das Leben gerettet hätte, weil er einer Verschiebung des Interviewtermines zugestimmt hatte. Die Anhimmlerinnen schmolzen wiederum um die Wette. Andre Metz aber verabschiedete sich von Cielo lachend mit der Bemerkung, dass er sich morgen auf eine Großinquisition gefasst machen könne. Cielo lächelte gequält.

Nach diesem Abend waren natürlich keineswegs Metz Zweifel an der Art und der Größe Cielos magischer Fähigkeiten beseitigt - im Gegenteil - zusätzliche Abgründe an Fragen taten sich auf, und so suchte ein unruhiger Metz Trost und Rat in Carlos Castanedas "Reise nach Ixtlan". Endlich war er eingeschlafen. Aber die er gerufen hatte, die Geister, ward er so schnell natürlich nicht los und sie verfolgten ihn bis in seine Träume. Dort war er plötzlich in der Pampas mit Cielo , als seinem spirituellen Führer, unterwegs. Und Cielo lehrt Metz das Exerzitium des Schmerzes. Irgendwas aber war durcheinander geraten, stimmte einfach nicht. Anstatt nämlich , dass sich Cielo - wie es das Exerzitium vorschrieb- bei jedem niederträchtigen und sündigen Gedanken, der ihm kam, eine goldene Nadel in das eigene Nagelbett des Daumens bohrte, verwendete er dazu das Fingerbett von Metz, der in seinem grauenhaften Martyrium am End´gar nach Drogen schrie.

Am nächsten Morgen erwachte Metz einerseits ein wenig müde, andererseits stellte er beim Aufstehen fest, dass ihm in der Nacht tatsächlich eine Lösung für seine Zweifel an Cielo eingefallen sei: Er wollte erst dann an Cielos Weg glauben, wenn er auch an ihm die Wundmale des Schmerzes sehe.

Eine andere Fiktion

Der Tag des Interviews schien insgesamt nichts Gutes zu verheißen. Als Metz nämlich, begleitet von seiner Frau, ins Hotel Triest zum Interview kam, war der Herausgeber Klaus Bauf natürlich schon längst zugegen und seine Miene schien Besorgnis widerspiegeln zu wollen. Der Autor sei vom Signieren seiner Werke müde. Nicht genug dessen, stellte Bauf einen ganzen Turm von Cielos Bücher zum Unterschreiben auf den Tisch. Metz zog sich daraufhin in die Toiletten des Hotels zur Meditation und einigen Yogaübungen zurück, und nachdem er schon leicht zu schwitzen begonnen hatte, beendete er seine Einstimmung, wusch sich das Gesicht und blickte dabei auf Bilder vom Hafen von Triest. Nur ganz kurz bedauerte er, dass die Zeit als Triest noch bei Österreich war, schon längst und auf diese Weise unwiederbringlich vorüber waren.
In der Lounge empfing ihn ein noch besorgterer Bauf und überbrachte Metz die Nachricht, dass Cielo soeben auf sein Zimmer gegangen war und um weitere zwanzigminütige Verschiebung des Gesprächs gebeten hatte. Metz innerlich schon etwas missgestimmt, fragte seine Frau, was denn in seiner Abweseneit los gewesen wäre. Sie meinte nur, dass Cielo einen Blick in den Interviewraum geworfen hätte, sie gesehen und dabei etwas ängstlich gewirkt hätte. Metz, der seine Frau und ihre zum Teil verblüffenden magischen Fähigkeiten kannte, war darüber nicht weiter verwundert. Irgendwann erschien dann der Meister, flankiert von seiner deutschen Verlegerin und wankte gezeichnet zum Interview. Heute war er offenbar noch erschöpfter als gestern Abend im Lokal.
Wie man sich denken kann, wurde das Interview zum unprofessionellsten, was die Publizistik seit ihrem Bestehen als Wissenschaft hervorgebracht hatte. Und dennoch, entbehrte es auf seine Art nicht einiger interessanter Aufschlüsse.
Cielo bat eindringlich seine Verlegerin bei dem Interview dabei zu sein, da er sich so, wie er meinte, sicherer fühlte.
Als Metz Cielo im Speisesaal des Hotels, in dem das Gespräch letztlich geführt wurde, die Frage stellte, ob er sein Leben als eine Art “Entwicklungsroman” im Stile eines Wilhelm Meister von Johann Wolfgang von Goethe empfinde, wurden Tische gerückt, klirrten auf einmal Gläser und zerbrachen schließlich auch noch Teller. Plötzlich war es totenstill. Cielo lachte kurz auf, dann verhaspelte er sich beim Wort Goethe, sagte Go....Goe.., lachte noch einmal, verschluckte sich dabei und musste husten (fast klang der Husten so, als wäre Goethe ihm schon allzu staubig gewesen), um endlich zu sagen, er halte es mit Harry Miller.
Dann herrschte bei ihm sichtbare - Erleichterung darüber, dass endlich sein Risotto mit Artischockenherzen aufgetischt wurde.
Lustlos stocherte Cielo in seinen Artischockenherzen herum und machte sich dabei an Metz Aufnahmegerät zu schaffen, um es abzudrehen. Während der Mahlzeit war das Eis zwischen dem Interviewer und dem Künstler völlig zugefroren. Beim Essen hatte Metz auch Gelegenheit auf die makellosen Hände von Cielo zu achten. Von Wundmalen war keine Spur!

Als es zur alles entscheidenden letzten Frage kam, entwickelte sich die Angelegenheit fast noch zur Burleske. Metz meinte nämlich, dass er - bei allem Respekt Cielo gegenüber-, doch noch die Frage nach Dichtung und Wahrheit - vor allem in Cielos spirituellen Aussagen- stellen müsse. Cielo, der aber offenbar nicht näher auf dieses Thema einzugehen gedachte, flüchtete sich seinerseits in die Aussage Metz, die des Journalisten Respekt Cielo gegenüber betraf. Cielo wiederholte nämlich ironisch zweimal hintereinander die Worte: " bei allem Respekt". Als er das noch einmal tun wollte, ließ Metz die Zügel endgültig schießen und riss sich die Maske der scheinbaren Höflichkeit runter: Er legte sein Haupt ein wenig schief und stimmte in jedes Wort Cielos deutlich sprechend ein - "bei allem Respekt, selbstverständlich", meinte Metz und lachte herzlich aber ungestüm. Auch Cielo lachte, doch wie es schien, ein wenig pikiert. Die anwesende Verlegerin mahnte daraufhin zum Abbruch, - der Kaffee war ja schließlich schon lange ausgetrunken ,- auch das Mineralwasser, und so einigte man sich gezwungenermaßen rasch darauf, dass das meiste ja doch Fiktion sei. Als Metz feststellte, dass ihm Cielo unbemerkt wieder das Tonbandgerät abgestellt hatte, kam ihm dann auch noch das platonische Höhlengleichnis in den Sinn. Wenigstens hatte Metz durch dieses Gespräch doch die Fessel seiner Verblendung Cielo gegenüber lösen können, und Metz erkannte endlich, welches Schattenbild er für die Realität gehalten hatte. Cielo seinerseits reagierte auf diesen interessantesten, jedoch leider nicht aufgezeichneten Teil des Gesprächs, mit gespieltem Bedauern, wobei ihm in Wirklichkeit die Erleichterung über dieses “Missgeschick”sehr wohl ins Gesicht geschrieben stand. Dieser Umstand verlieh Cielo neue Energie und er verabschiedete sich von Metz mit dem erneuten Hinweis auf dessen Höflichkeit.
Metz seinerseits konnte nicht umhin, dies mit einem ebenfalls übertriebenen englischen "-of course" - zu quittieren, sich zu verabschieden und von dannen zu gehen.

Draußen erwartete ihn schon der Herausgeber Bauf, voller Gier nach der zu erwartende schriftliche Ausbeute des Interviews mit dem Millionenstar. Metz, der nach diesem Gespräch keinerlei Absicht hatte, noch irgend ein Wort über Cielo zu verlieren, warf Bauf ein Zitat von Laotse vor die Füße, mit dem Bauf naturgemäß nichts anfangen konnte, und er deshalb - vorsichtshalber - Metz - zumindest jetzt einmal in Ruhe ließ.

Es sollte nicht verschweigen werden, dass Metz dieses doch recht eigenartige Interview nicht ganz so kalt ließ, wie er es auch Bauf gegenüber dargestellt hatte. Er wählte deshalb die Nummer von Jan Varga, der sich sofort danach erkundigte, ob es einen veritablen Skandal gegeben hätte und bei den ersten Andeutungen Metz doch ein wenig enttäuscht zu sein schien. Den Wunsch nach einem detaillierten Bericht vorgebend, schlug Varga ein Treffen noch am selben Abend vor. Metz meinte, dass er - wenn Varga nach den ersten Schilderungen überhaupt noch Lust verspürte - außerdem noch zwei Freikarten für die Meditationen Cielos in der Votivkirche besitze. Varga war zur Überraschung Metz gar nicht abgeneigt, mit ihm zu Cielo in die Votivkirche zu pilgern, um sich selber aus nächster Nähe über diesen Mann ein Urteil zu bilden.

Als Metz zum vereinbarten Rendezvous mit Varga ins Cafe Maximilian eilte, herrschte tief mittelalterliches Wetter: Es regnete in Strömen, und der Dom zu Votiv ragte wie ein drohender Zeigefinger in den wolkenverhangenen Himmel. Ein Wetter, wie es auch Hollywood zur Darstellung des Mittelalters als dunkle Epoche der Menschheit nicht besser hätte hinbringen können. Im Cafe Maximilian traf Metz auf einen durchaus gut gelaunten Varga, der sich herzlich freute, seinen Freund nach Monaten wieder zu sehen. Man plauderte zunächst über dies und jenes, dabei beobachteten die beiden das schon vorfreudig erregte “Meditationspublikum” Cielos. Einmal noch hatte Metz einen kleinen Moment der Schwäche, als er sich über Cielo und das Interview mokierte. Varga verlieh darauf seinerseits der Hoffnung Ausdruck, das Gespräch mit Cielo möge Andre zumindest soweit aus der Ruhe gebracht haben, dass es ihm zu einem interessanten, demaskierenden Artikel gereiche.
Metz fiel es wie Schuppen von den Augen und gleichsam von einem trefflich angebrachten Schlag wiederum in sein Zentrum gebracht, begriff er, trank wohlgelaunt seinen letzten Schluck Rotwein aus, und dann pilgerten sie in die Votivkirche.

Die Votivkirche war für derartige Events geradezu prädestiniert und hatte schon einiges mitmachen müssen: So zum Beispiel die diversesten Werbeplakate an den Gerüsten, die zur Restaurierung der Kirche dienten, und mit einiger werbetechnischer Fantasie musste man sich nur noch die Gerüste wegdenken und man hätte das perfekte Werbeplakat kreiert: Reizwäschewerbung am Kirchendach.
Der Sponsor dieses Meditationsabends, der österreichische Privatsender IMTV seinerseits hatte werbewirksam innerhalb und außerhalb des Domes - und da es sich nur um eine Fernsehstation handelte und nicht um Wäsche - sogar an der Kirche direkt - große und einprägsame Plakate mit ihrem und Cielos Namen anbringen lassen, auf dass niemand vergesse, wem er diese mögliche spirituelle Erleuchtung zu verdanken habe.

Varga und Metz betraten Sankt Votiv und mächtige Barockakkorde lagen schwer wie Weihrauch in der Luft. An der Orgel saß Robert Schuster, ein erfolgreicher zeitgenössischer österreichischer Schriftsteller, der für seinen “Bruder im Geiste” - auf gekonntes Betreiben von IMTV hin und selbstverständlich unentgeltlich - aufspielte. Ebenso unentgeltlich wie das ganze Schauspiel in der Kirche, was IMTV doch wenig geschmackvoll mit dem Aufdruck: ”Eintritt frei” auf den Eintrittskarten zum Ausdruck brachte. Nicht unentgeltlich waren allerdings die Werke der beiden Künstler, die gut sichtbar auf einem Büchertisch beim Ausgang ausgestellt worden waren. Metz wollte sich ein paar Exemplare nehmen, da er doch annehmen konnte, dass in der Kirche wohl nichts verhökert werden dürfe, wurde aber eines Besseren belehrt, wobei sich der Verkäufer anzumerken beeilte, dass ein Drittel des Erlöses der Votivkirche zugute käme.

Einbrechende Nacht, vom Wind flackernde Kerzen, Orgelklänge, die ans Jenseits gemahnen, Versuch der mystischen Atmosphäre - und dann tritt Pedro Cielo ans Rednerpult. Einen Moment lang herrscht weit gebannteres, denn andächtiges Schweigen. Dann hub er an. Mit leiser, mit eindringlicher und gleichzeitig in tiefe Hypnose versetzender Stimme zog er die Massen von über Tausend und einem Besucher in seinen Bann. Gläubig lauschte das Volk seinen Worten und hing schwer an seinen Lippen.
Varga und Metz standen zunächst auch scheinbar andächtig irgendwo in der Nähe des Ausganges, doch nach und nach überwältigte sie, die unbändige Lust von den Worten Cielos abzuschweifen.
Als Cielo vom Teilen der Seelen sprach, hatten sich Varga und Metz schon anderen Interessen zugewandt. Während nun Varga die Heiligen aus Stein der Votivkirche zu betrachten begann - wobei es ihm besonders die Statue von Maria von Guadeloupe angetan hatte - teilte sich Metz Aufmerksamkeit während bigotter Worte und Töne zwischen den schönen Beinen einer Südamerikanerin und seiner Vorstellung, dass Robert Schuster vielleicht einmal ein Werk für Orgel und Solostimmen - eine Art Kantate- schreiben würde, auf, wobei die Solostimmen durchaus auch von denn Spice Girls hätten übernommen werden können und der Gipfel des ganzen, sozusagen die dreisteste Ausgeburt seiner Phantasie, wären die Wiener Sängerknaben gewesen. Bei diesem Gedanken schauderte Metz ein wenig und er stelte fest, dass es nun an der Zeit gewesen wäre, dass Cielo seine Predigt beendet. Die Leute hatten ihren Abraham - a - Santa- Clara, Metz die Beine der schönen Südamerikanerin und Varga seine steinernen Heiligen gehabt.
Da sich Varga und Metz über diese Inszenierung ohnehin schon ein ziemlich klares Bild machen konnten und von da an wohl nur mehr Wiederholungen des ewig Gleichen zu erwarten waren, beschlossen sie Sankt Votiv den Rücken zu kehren.

Schnell suchten sie das Weite auf und begannen ein wenig zu traben, um diese mittelalterliche Schwere loszuwerden. Als Vorwand diente ihnen die Strassenbahn, die sie noch zu erwischen suchten, und die ihnen natürlich vor der Nase davonfuhr.
Varga und Metz sagten nichts, da ihnen klar war, dass sich nach alldem doch Worte erübrigt hätten. Nach langem Schweigen meinte Varga schließlich nur, dass ihm nach derart ungefiltertem Kommerz nun sehr nach Filter dürste, und er bat deshalb Metz um eine französische Filterzigarette. Beide rauchten sie dann schweigend, lachten dann aber jäh und fast gleichzeitig bestens gelaunt auf und stiegen in die Straßenbahn ein, um zu Vargas Wohnung zu fahren.

 

Die letzte Fiktion

Sie sprachen aber: Herr,
sieh, hier sind zwei Schwerter.
Er aber sprach zu ihnen:
Es ist genug.
( Lukas 22:38 )

 

Varga, Metz bisweilen bis ins eremitenhafte gehende Lebensweise kennend, hatte beschlossen des Freundes - wie ihm schien - sehr interessanten Tag in interessanter Gesellschaft ausklingen zu lassen und hatte deswegen auch seinen aramäischen Freund, Farag, einen geselligen und geschichtenreichen Mann, eingeladen. Sie berauschten sich alsdann am Leben und am Wein und sangen Losbehymnen auf den Orient, die orientalische Gastfreundschaft und natürlich auch auf das alte, biblische Volk der Aramäer. Zu vorgerückter Stunde nahm das Trinkgelage platonische Züge an und man plauderte angeregt über antike Götter und Reinkarnation, wobei man den meisten der griechischen Göttern einen alles in allem doch recht armseligen persönlichen Reifegrad einräumte. Als sie sich gerade dem Thema der Wiedergeburt und Seelenwanderung widmeten und sie beispielsweise darauf zu sprechen kamen, dass ein Aas im Vergleich zu einem Stein wohl etwas geradezu lebendiges sei, läutete es an der Tür und Jan Varga wusste sofort, von wem dieses Klingeln stammte: Es war der einbeinige Freund Jans, dessen Besuch zu jeder möglichen und unmöglichen Tageszeit zu befürchten stand. Obgleich die Anwesenheit des Einbeinigen nicht unbedingt immer nur mit Unannehmlichkeiten verbunden sein musste, war sein Erscheinen an diesem Abend mehr als unpassend, zumal der Einbeinige an diesem Abend nicht wirklich in guter seelischer Verfassung war, sondern vielmehr vollkommen verwirrt zu sein schien.
Er schnitt zusammenhangslos ein Thema an, kam dann aber, - sobald sich jemand jedoch die Mühe machte, darauf einzugehen,- sofort mit etwas völlig anderem daher. Wie man sich denken kann , war es auf diese Weise doch recht schwierig mit ihm einigermaßen sinnvoll zu kommunizieren. Metz, der ihn zum erstenmal sah, wusste nicht recht, wie mit ihm umzugehen war, und das vor allem deshalb, weil ihn Varga - noch ehe der Einbeinige in Erscheinung getreten war- aufforderte, - den Einbeinigen, sollte er tatsächlich aufkreuzen, dominant zu behandeln. Metz wusste zwar sehr wohl, was Varga damit meinte, jedoch nicht in Bezug auf Einbeinige. Dem zufolge schwieg Metz ziemlich betroffen - weniger des Einbeinigen wegen, sondern vielmehr wegen der Beobachtung seiner Reaktionen durch Varga. Das Gerede des Einbeinigen war zwar tatsächlich jenseits von gut und böse, doch umso klarer war dafür sein Blick, der einen unverschämt ehrlich anstierte. Das nun folgende Schweigen, das höchstens von Jans in exakten Intervallen ausgerufenem Begehr, noch mehr von diesem Wein zu trinken, unterbrochen wurde, schuf eine Atmosfäre, in der der Einbeinige doch endlich einsehen musste, dass seine Anwesenheit nicht sonderlich erwünscht war, und so schlich er ins Nebenzimmer, ins Internet. Vom Einbeinigen hatten sie dann Ruhe und hörten schließlich überhaupt nichts mehr von ihm, - nur dann und wann, wenn er im Internet wiederum zuviele Fenster gleichzeitig geöffnet hatte, und der PC böse und unaufhörliche rasselte, und, um des erlösenden Ende des Rasselns willen, endlich abstürzte.

Weit nach Mitternacht erschien auch noch der Bruder Jan Vargas, Alexander Varga, der kommende Star des dramatischen Opernfaches, und ihm stand an diesem Abend eigenartigerweise der Sinn nach Gespräch. Der Aufhänger ergab sich schnell - Pedro Cielo und sein Film. Und dies sollte die fulminante Ouvertüre zu einem Auftritt von Alexander Varga sein: Er hatte Ausschnitte im Fernsehen gesehen, aber auf den Inhalt ging er eigentlich überhaupt nicht ein, sondern kam gleich auf den Schlusschor des zweiten Teils von Händels Messias, eben das Hallelujah, zu sprechen. Nun, er verstand nicht, dass eine solch kostenaufwendige Produktion, mit einem derart wichtigen Detail, so lieblos umgegangen sei, dass bei jenem besagten Hallelujah, anstatt der dargebotenen elektronisch erzeugten Blechbläser- und Solotrompetenstimmen, nicht echte Instrumente verwendet wurden. Er sei sich seiner Sache ganz sicher und verwies dazu auch noch auf einen anderen Film, nämlich jenen vom berühmten Kastraten Farinelli, in dem nicht wirkliche Kastraten zum Einsatz gekommen wären, sondern ebenfalls wiederum elektronisch synthetisierte Kastratenstimmenimitationen vom Band.
Das Thema der Kastraten fand großen Anklang und wurde ausgiebig in allen Einzelheiten erörtert. Dann fragten sie Alexander, ob er nicht auch etwas von diesem Wein möchte. Er aber lehnte dankend ab, indem er so nebenbei erwähnte, schon einige Bier getrunken zu haben - und bei ihm bedeuteten einige, schon eine recht ansehnliche Anzahl von Litern, die diesen stattlichen dramatischen Bass in keinster Weise zu affizieren vermochten - höchstens ein wenig, als er von den Kastraten auf einen anderen - wie er meinte - überflüssigen Film zu sprechen kam. Er handelte von zwei Lesben im Deutschland der NS-Zeit , wobei die eine natürlich Jüdin, die andere selbstverständlich Gattin eines hochrangigen deutschen Offiziers war. Seine kleine Erregung war ihm nicht weiter übel zu nehmen, zumal man zumindest nachvollziehen kann, dass derartige Themen einen Wagner´schen Wotan in spe nicht sonderlich zu begeistern vermochten. Da schon eher die Architektur. Es folgten zum Finale noch einige grandiose Anmerkungen zum Dom von Maria Taferl, und dann empfahl er sich und trat von der Bühne ab.

Um sich auch ein wenig bemerkbar zu machen, rasselte der Einbeinige wiederum ziemlich nervtötend mit dem PC. Jan stand dann auf und gab dem Einbeinigen militärisch kurze Anweisungen, - meistens musste er auch noch den Computer neu hochfahren und begab sich dann wiederum zu den anderen. Nach einem Moment der inneren Sammlung diktierte er dem Einbeinigen laut und deutlich das Wort "nschotschi", was einerseits den Namen der Schwester Winnetous,- jener Schöpfung eines alles in allem doch eher verwirrten deutschen Spätromantikers, mit Namen Karl May, darstellte, andererseits das Passwort von Vargas Computer.

Auch in dieser anscheinend zeitlosen Atmosfäre der Wohnung Vargas war mittlerweile doch auch der Morgen eingekehrt. Inzwischen hatte es der Einbeinige sogar geschafft, Jan doch schon ein wenig mit seinem ewig gleichen Rasseln anzuöden. So sprang Jan plötzlich auf, schüttelte sich , atmete tief aus und ging anschließend zum Schachbrett, um schnell noch einen Zug zu spielen, den er dann via Internet an seinen Freund, Friedrich Martin, den Professor für Mathematik, weiterleiten wollte.
Varga und den Mathematiker verband eine fast einjährig währende online -Schachfreundschaft, natürlich ohne sich in dieser Zeit nur ein einziges Mal in Fleisch und Blut getroffen zu haben.

Varga schien einen Moment lang, sein TV-Gerät enschalten zu wollen, zögerte dann aber und ging zu seinem Ehrbar-Flügel, um eine Mozartsonate kurz anzuspielen, dann aber die Schultern zu zucken - was auch immer er damit ausdrücken wollte. Daraufhin schloss er schnell wieder den Deckel des Ehrbars und schritt dann wortlos in die Küche, um frischen Kaffee zu kochen.

Auf einmal - vielleicht hatte sich jemand versehentlich auf die Fernbedienung gesetzt - ging das Fernsehgerät an. Man sah einen professionell mitfühlend dreinblickenden Fernsehsprecher, neben dem die Headline TERROR IN DER VOTIVKIRCHE ! prangte.
Mit einem leichten Vibrieren in der Stimme sprach der Mann aus dem Kasten:
" In der Votivkirche ereignete sich gestern im Zuge eines von IMTV organisierten Meditationsabends mit dem argentinischen Kultautor Pedro Cielo ein hinterhältiger Terroranschlag, dem der Erfolgsautor sowie auch sein österreichischer Kollege Robert Schuster zum Opfer fielen.
Da dieser Meditationsabend mit Cielo und Schuster exklusiv für IMTV aufgezeichnet werden sollte, existieren von diesem Verbrechen, das in seiner Art und Durchführung bis dato einzigartig ist, Bilder.
Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass diese Aufzeichnung für Kinder und Menschen mit schwachen Nerven nicht geeignet ist!"

Das erste, was einem in diesem Mitschnitt gezeigt wurde, war die gesteckt volle Votivkirche mit den andächtig Lauschenden. Dann kam ein Kameraschwenk und man sah zwei Männer, die den Dom vorzeitig verließen. Die beiden waren eindeutig als Varga und Metz auszumachen. Augenblicke später betrat ein Mann, der nach der Art seiner Aufmachung Jesus darstellen wollte, die Kirche und ließ sich in der letzten Reihe nieder, um Cielo und Schuster zu lauschen. Im Moment des Ausklangs eines der wuchtigen Akkorde Schuster, rief dieser Jesus laut in Richtung Cielo:
" Bist du nicht selber der Sarg voll bunter Bosheiten und Engelsfratzen des Lebens?"
Dann sah man ihn umdrehen und in Richtung Ausgang gehen. Als er jedoch der zum Verkauf angebotenen Bücher gewahr wurde, geriet er lautlos in Zorn, packte einen der schweren Kerzenständer und schlug den ganzen Tisch samt der Werke kurz und klein - und dabei nicht einmal die berühmten Worte nach Matthäus sprechend.

Das gebannte Volk, das sich bis zu diesem Zeitpunkt in Ermangelung anderer Attraktion von Cielo, dem Magier, hypnotisieren hatte lassen, wandte sich nun von ihm ab und Jesus zu.
Einigen Beherzten gelang es endlich Jesus zur Räson zu bringen und ihn aus der Kirche zu zerren. Cielo, zugegebenermaßen Profi, wusste dieses Ereignis geschickt für sich auszunützen, indem er während der ganzen Szene nach außen hin völlig gelassen blieb, dafür aber noch salbungsvoller, noch eindringlicher in seinem Sermon fortfuhr.

Dann hatte die Kamera geschwenkt und fing zwei in Arbeitskleidung gewandete, sogenannte einfache Menschen ein. Offenbar zwei Handwerker, die die Votivkirche restaurierten und noch eine Überstunde eingelegt hatten, traten aus der Sakristei in den Dom, wobei der eine auch einen Kübel mit sich schleppte.
Cielo darin bestätigt, dass seine Botschaft auch den einfachen Menschen zugänglich wäre, zeigte sich lächelnd erfreut, doch sein Lächeln erstarb sogleich, als er sah, dass der eine Arbeiter Cielos Gesicht trug - offenbar eine Maske(!?) - und der andere das Gesicht Schusters hatte, der sich just in diesem Moment zu einem furiosen Finale versteigen wollte. Die Handwerksburschen schritten gemessenen Schrittes auf die beiden zu.
Das Publikum war erstarrt und verzückt zu gleich .
Als Schuster an der Orgel gerade einige gewagte Dissonanzen einstreute, sah man - Dank IMTV- wie der falsche Cielo über dem Schriftsteller Cielo war, ihm das Maul bis zum geht nicht mehr aufriss, während ihm der Handwerks -Schuster eine siedend heiße, golden glänzende Flüssigkeit in den Rachen goss.
Der orgelnde Schuster, der völlig in sein Spiel versunken war, bekam nichts von alldem mit. Weder den kurzen Schmerzensschrei Cielos noch, dass sich der maskierte Cielo von hinten mit zwei zugespitzten Eisennachbildung von altertümlichen Griffeln an ihn heranmachte. Schuster der seines Mörders gewahr wurde, drehte sich einmal kurz um und blickte seinem Mörder in die Augen. Als er zur Kenntnis nehmen musste, dass es für ihn kein Entkommen gab, stürzte er sich heroisch in den Schlussakkord. In diesem Moment stieß ihm der Mörder-Cielo völlig kalt die beiden Dolche in die Rippen. Der Akkord wurde immer unschärfer, doch fast schien es, als würde sich Schuster gerade deswegen mit all seiner letzten, mit all seiner ihm noch verbliebenen Kraft, in diesen seinen letzten Akkord stemmen. Diese schaurig durch die Votivkirche hallenden Töne wurden von mal zu mal dissonanter, und erstarben jäh, als Schusters Körper tot vom Orgelbock klappte.
Die zwei Handwerker waren wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden.

Hier endete der Bericht und man sah wieder den TV-Sprecher:
" Nach diesen furchtbaren Bildern bin ich jetzt mit unserer Außenstelle verbunden und stelle gleich die Frage an Daniela Seidl, was die Hintergründe für diesen Anschlag sein könnten."

Eine plastisch perfekt geschönte Mittdreißigerin gab schneidig zerzaust von sich:
"Ja, es ist in der Ö1-Redaktion ein Bekennerschreiben eingegangen, indem die Rede von einer Organisation mit dem seltsamen Namen "Der große Mittag" ist. Ich zitiere wörtlich: Der Geheimbund "Der große Mittag" ist sich durchaus des schlechten Geschmacks seiner Vorgangsweise bewusst, wir geben jedoch zu bedenken, dass das Werk der Exekutierten dem guten Geschmack noch mehr Hohn spottete. Mit dem Tod ist darüber hinaus auch der zu bestrafen, der mit magischem Geheimwissen in verantwortungsloser Weise Schindluder treibt. Ihm wird das Richtschwert nicht erspart bleiben. Denn siehe er ist da, der große Mittag!"

Dann wieder der TV-Sprecher:
"Im Video war auch ein Mann zu sehen, der als eine Art Jesus von Nazareth, in der Kirche tobte".

Daniela Seidl darauf:
" Ja, dieser Mann wurde bereits von den Sicherheitskräften einvernommen. Auf die Frage nach seiner Identität gab er, Carlos Castaneda, an. Er hat diese Veranstaltung aus - wie er sagte- rein magischer Absicht besucht.
Die Polizei tappt aber vorläufig noch im Dunkeln, ob zwischen dem psychisch Verwirrten und den anderen beiden Terroristen eine Verbindung besteht."

Als dann allzu sehr ins Detail gegangen wurde, und sogar die Frage diskutiert wurde, woher die Terroristen soviel flüssiges Gold hergenommen hatten, sagte Farag, der Aramäer, dies seien die Auswüchse. Jan Varga stimmte dem vorbehaltlos zu, wenn auch möglicherweise ein ganz anderer Aspekt seine Zustimmung fand.
Dann aber wechselten sie das Thema und wandten sich wieder den Kastraten zu.

 

In einer seriöseren österreichischen Tageszeitung konnte man etwa eine Wochen später folgende kleinere Meldung lesen:
Eine Woche nach dem - offenbar kulturideologisch motivierten - Terroranschlag in der Votivkirche, dem der argentinische Bestsellerautor Pedro Cielo und der österreichische Erfolgsautor Robert Schuster zum Opfer fielen, gelangen dem Wiener Sicherheitsbüro die ersten Fortschritte. Nach eingehendem Studium der Schriften Nietzsches darf doch von einem Zusammenhang zwischen dem nervenkranken Mann und der Organisation ausgegangen werden, da sowohl die Worte des Mannes als auch der Name der Terrororganisation aus Nietzsches Hauptwerk, dem "Zarathustra" stammen.
Neuerliche Versuche, den anscheinend geistig Verwirrten zu verhören, blieben auch weiterhin erfolglos. Laut Angaben aus dem Sicherheitsbüro erweise sich der Mann nämlich als äußerst hartnäckig.
Ein interessantes Detail am Rande sei noch erwähnt: Es gebe aus dem Ausland anonyme Hinweise, dass es sich bei dem Ermordeten nicht um den "echten" Bestsellerautor Cielo, sondern um den ersten Geklonten mit Ablaufdatum gehandelt hätte. Der "originale" Cielo - was auch immer dies zu bedeuten habe - wäre noch am Leben!
Die österreichischen Sicherheitskräfte, die in Kooperation mit Interpol jeglichem Hinweis nachgehen müssen, können und wollen aber zum jetzigen Zeitpunkt keine näheren Angaben zu dieser Aussage machen!

Cumberland, Karsamstag 23:59,59 Uhr

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