Fegefeuer
von Rihno Rhinozeros
"Das Feuer ist die
Jungfrau Mutter, und sie gebiert den unsterblichen Sohn;
welchen Sohn? - Das Licht.
Läuterung ist das Leben, und wir brennen; das Paradies kann die Flamme,
die wir ihm vorbereitet haben, in Licht verwandeln;
das ist seine Aufgabe."
(Nikos Kazantzakis, "Rechenschaft vor El Greco")
Der kretische Ikonenmaler Kyriakos Sapoutzakis wurde
in jüngster Zeit von geradezu übergroßer Schuld erdrückt; eine Schuld, die
zweifellos jenes Maß überstieg, das ein guter Christ zu ertragen imstande ist.
Letztens war alles übrige in den Hintergrund getreten. Da war dieses
zerfressende, zersetzende, gleichzeitig aber so unbestimmte Gefühl, sich allem
gegenüber schuldig gemacht zu haben, welches er nicht mehr loswerden konnte -
oder wollte!
Kyriakos Sapoutzakis fühlte sich - primär - seinem Talent gegenüber schuldig.
Zwar befanden sich über den ganzen orthodoxen Balkan verstreut seine - wie man
ihm bestätigte - großartigen Ikonenmalereien, doch schien ihm dies persönlich
nicht zu genügen. Und so setzte schon das nächste Gefühl von Schuld ein:
Durfte er, ein frommer, strenggläubiger Christ, denn überhaupt solche Gefühle
zulassen?! Hatte er nicht dieses gottgegebene Talent dazu zu verwenden, um
gottgefällige Werke zur Erbauung der recht-Gläubigen zu schaffen - und war er
dergestalt nicht schon überreich beschenkt worden? Machte er sich nicht
frevelhaften Übermutes schuldig, noch mehr zu wollen, sich nicht mit dieser
Gnade zufrieden geben zu wollen?
Andererseits hatte er oftmals seine wilden Träume, seine Visionen. In dunklen Nächten
fielen sie über ihn her, marterten ihn, quälten ihn mit ihren Teufelsstimmen:
"Mach doch mehr daraus! Wen interessieren schon deine Ikonen? Da hängen
sie in den Klöstern und irgendwelche dummen Mönche gehen achtlos daran
vorbei!" zischten sie.
Erschreckt wachte Kyriakos zumeist auf, um dann - endlich wiederum - in den
Schlaf zu fallen. In einen Schlaf, der dem Wahnsinn Tür und Tor öffnet: Er
sieht seine Ikonen in all den Klöstern und Kapellen - aber jetzt schenken ihnen
die Mönche ihre vollkommene Aufmerksamkeit - was heißt hier Aufmerksamkeit -
ihre Anbetung und Hingabe. Sie unterbrechen ihre frommen Gebete und versammeln
sich um Kyriakos' Heiligendarstellungen. Kyriakos ist dabei stiller Zeuge, ein
unsichtbarer Geist, der diese Szene beobachtet. Dann auf einmal - Gelächter,
spitze Aufschreie scheinbarer Entrüstung gepaart mit unverschämt geilen
Blicken. Kyriakos der Geist schwebt herbei, um all das aus der Nähe zu
betrachten. Aber - dreimal bekreuzigt - was muss er nur sehen? Seine Heiligen
und Christusse in obszönsten Stellungen. Abstoßende Darstellungen profanster
Dinge verkörpert von den Heiligsten der Heiligen.
Erneut fährt Kyriakos von seinem Lager auf: Oh mein Gott - was war das nur
wieder? Unruhig, voll quälender Zweifel und Schuld wälzt er sich auf seinem
Bett hin und her. Der Schlaf des Gerechten - längst dahin, nichts als Marter
und Pein. Das zog sich nun schon über Wochen. Aus Wochen wurden Monate und aus
Monaten Jahre. Wollte das nie mehr wieder aufhören? Wann würde er endlich
wieder seine Ruhe finden? War ihm nie mehr wieder stiller Friede vergönnt? Was
musste geschehen, oder was konnte er tun, um dies zu erreichen?
Aber all das sollte erst der Anfang sein.
Eines Tages - in einer für ihn ruhigeren Fase - als er wieder ein wenig zu sich
gefunden hatte - wohl auch dadurch bedingt, dass sich ihm die Möglichkeit zu
einer Ausstellung seiner Werke in einer bedeutenderen Galerie in Wien bot,
lernte er den einflussreichen Kunstmäzen Jan Varga kennen. Jan Varga zeigte
sich von den technischen Fertigkeiten in den Darstellungen von Sapoutzakis zunächst
sehr beeindruckt, wiewohl er selbst allerdings nicht viel mit den christlichen
Motiven anfangen konnte - zuviel Schuld, schlechtes Gewissen stecke darin.
“Sie wissen doch gewiss, was ich meine!" sagte Varga oftmals zu Kyriakos,
den solche Aussagen wie gut gesetzte Schläge in die Magengrube trafen.
“Aber hervorragend gearbeitet, excellent, Meister!" gab Jan des öfteren
in mehrdeutigem Ton von sich.
Am Beginn ihrer Bekanntschaft hatte sich Sapoutzakis nach dem geheimnisvollen
Fremden erkundigt und in Erfahrung gebracht, dass es sich um einen der
bekanntesten und bedeutendsten Kunstsammler und Förderer handelte. Abgesehen
davon faszinierte irgendetwas an Vargas Wesen den kretischen Heiligenmaler und
ließ ihn nicht mehr los. Andererseits spürte Kyriakos im Zusammensein mit
Varga zugleich auch etwas Kaltes, Gefühlloses, um nicht zu sagen,
Unmenschliches. Schon allein die Tatsache, dass Varga einerseits die Heiligen
von Kyriakos ziemlich egal zu sein schienen, er aber dabei immer wieder das
Talent von Kyriakos lobte, ließen Varga Sapoutzakis noch unverständlicher und
undurchsichtiger erscheinen.
Varga und der Kreter trafen einander des öfteren - Sapoutzakis natürlich auch,
weil er sich finanziell von der Bekanntschaft mit Varga etwas erwartete -
weitere Vernissagen, neue Bekanntschaften eben und außerdem Beruhigung seiner
ohnehin angegriffenen Nerven, zumal es ja - unglaublicherweise - schien, als würde
er mit seiner Ikonenmalerei nicht nur sehr leicht zufriedenzustellende
Geistliche beglücken können, denen es ja im großen und ganzen um die bloße
Darstellung sakraler Inhalte ging, sondern irgendwie auch die Welt der
wirklichen Kunst - und dieser Jan Varga konnte der Schlüssel zu dieser Welt
sein.
Was Jan Varga allerdings an Sapoutzakis faszinierend finden konnte, dies entzog
sich - noch – Kyriakos’ Beurteilung.
Nach einigen Monaten, in denen Varga tatsächlich einige Vernissagen ermöglicht
hatte, ereignete sich im Zuge eines gemeinsamen Mahles folgendes: Kyriakos,
gutgelaunt und optimistisch, labte sich an Wein und Fleisch und schwärmte dabei
von einer Ausstellung seiner Ikonen in der erhabenen Atmosfäre der größten
Basilika der Orthodoxie, der Hagia Sofia in Konstantinopel, die ja schon seit
langem sowieso nicht mehr Gotteshaus sondern eine Art Museum darstellte.
Nachdem sich Varga das alles ruhig und geduldig angehört hatte und dabei wohl
dosiert höflich mit dem Kopf nickte (obgleich er gelegentlich seine Stirn in
Falten legte - ein Umstand der Kyriakos in seiner Euforie entging!) ergriff
Varga bei der nächsten - bei der einzig möglichen - Gelegenheit das Wort:
“Nun, mein lieber Kyriakos! Was Sie da von sich geben, sind ja schöne
Fantasien - wären Sie ein Schriftsteller, würde ich Ihnen raten, das alles
aufzuschreiben - so viele skurrile Einfälle - aber was hat das alles mit der
einzigen wahren Kunst zu tun? Mit der Kunst nämlich - und ich spreche, wenn ich
von Kunst rede, nur von dieser Art, die frei von Zwängen, frei von jedweden
moralischen Kriterien, frei von jeglicher Absicht - dergestalt ihre makellose
Schönheit zu entfalten imstande ist, verstehen Sie mein Freund?“
Natürlich verstand ihn Kyriakos nicht - oder nicht wirklich. Freilich setzen
diese Worte allerdings die Hebel an den richtigen Stelle an. Denn war es
Kyriakos nicht öfters selbst bewusst geworden, dass das, was er malte, von den
Einfällen her betrachtet, weit unter seinen Möglichkeiten blieb. Gutes
Handwerk - das war aber schon alles. Und hatte nicht auch seine nächtlichen -
später sogar schon täglichen - Dämonen genau an der gleichen Stelle ihre
feuchtkalten Finger in die schmerzenden Wunden Kyriakos' gelegt?
Urplötzlich schien jenes zarte Fleisch, das Sapoutzakis verzehrte, zu Aas zu
werden, der erlesene Wein, der soeben noch seine Kehle hinuntergeflossen war, zu
galligem Gift.
Er betrachtete Varga ängstlich aus den Augenwinkeln heraus. Nach seinem
treffenden Einwurf war selbiger verstummt und widmete sich seinerseits mit großem
Genuss Fleisch und Wein. Vom Schein der Kerzen, die auf der Tafel standen, war
nur eine Hälfte seines Gesichtes beleuchtet; jetzt erst fiel Kyriakos auch
Vargas eigenartige Augenbraue auf, an der widerspenstig ein langes Haar
herauswuchs. Plötzlich fröstelte es Kyriakos ein wenig und, unsichtbar für
Varga, kreuzte er zur Abwehr des Bösen Zeige- und Mittelfinger unter dem Tisch.
“Mein Lieber, Sie nehmen ja gar nichts mehr zu sich! So essen und trinken Sie
doch weiterhin mit gutem Appetit. - Ich wollte Sie ja nicht -", und plötzlich
legte er eine Pause ein, um hernach laut und schaurig aufzulachen, und sich eine
Zigarette anzuzünden, "- erschrecken - kam in den Sinn, aber wurde dann
verworfen!“
In Kyriakos Kopf dröhnte dieser eigenartige letzte Satz, dieser furchtbare
Satz, dieser grauenhaft unpersönliche Satz - "kam in den Sinn und wurde
verworfen " - so als handelte es sich hierbei nicht um ihn, um diesen
Varga, sondern als würde er in belanglosem Plauderton von jemand anderem
sprechen.
Unheimlich - dachte Kyriakos und dachte sogleich mit liebevoller Zuneigung an
seinen Christus am Kreuze. Doch auch dieser konnte ihn nicht wirklich beruhigen,
ganz im Gegenteil, und zu seinem Erschaudern fuhr Varga fort:
“Es ist schon wirklich ein Kreuz mit Ihnen, mein Lieber! Da hat einer solch
ein Talent, und was führt er damit auf? Er malt die Heiligen und den Christus
in sämtlichen Stellungen"- bei dem Wort Stellungen lachte er kurz
und wild auf und fügte dann, leiser werdend, hinzu - "Stellungen wäre ja
immerhin schon etwas, wenn es wenigstens "Stellungen" wären - auch
Sie verstehen doch sicherlich, was ich damit meine!“
Da saß er nun, der Dämon aus jenen Träumen, vor ihm - in Fleisch und Blut und
trank roten Athoswein. Ungeheuerlich!
“Hören Sie Kyriakos! Es mag Sie schockieren - denn Sie sind ja ganz
offensichtlich ein gläubiger Mensch - anders wäre ja das alles nicht erklärbar
- vielleicht, nein, - ganz sicher sogar, steckt da darüber hinaus auch ein großer
Anteil an Unbewusstheit in Ihnen!" meinte Varga und klopfte Sapoutzakis
dabei gönnerhaft auf die Schulter.
“Mir scheint fast, als hätte ich Sie jetzt bei was ertappt, so wie Sie mir
dreinschauen!" lachte Varga, als er Kyriakos immer bleicher werden sah.
“Da nehmen Sie eine Zigarette und machen Sie sich nichts weiter daraus!“
Kyriakos rauchte schweigend und fühlte sich dabei aber von Vargas stechendem,
ganz offenbar wissendem Blick durchbohrt. Varga ließ etwas nach und schenkte
sich noch Wein nach, um aber sogleich wieder die peinigende Schraube anzuziehen.
“Dieser rote Wein, dieser Lebenssaft, dem Blute gleichend, ist wirklich
herrlich, köstlich! Wollen Sie auch davon trinken?“
Innerlich tief erschüttert nickte Kyriakos ihn an und ließ sich nachschenken.
Er trank, und tatsächlich schien es ihm, als würde der Rebensaft leicht
metallisch, eben nach Blut schmecken!
Nach einer Pause:
"Also verehrter Kyriakos! Um was geht es schlussendlich? - Es ist doch völlig
gleichgültig, ob ich nun Sie verzeihen doch - kopulierende Heilige darstelle
oder meinetwegen auch zutiefst in Reue (er räusperte sich bei diesem Wort ganz
leicht, aber doch hörbar, und grinste hierauf ein wenig!) versunkene Heilige -
wenn sie nur, ja wenn sie nur das alles mit vollkommener Leidenschaft machen -
was immer sie auch tun mögen - die Heiligen - und natürlich auch all die
anderen. Es mit ganzer Inbrunst tun und man das auch sehen kann!
Verstehen Sie mich jetzt, was ich meine!“
Kyriakos war viel zu entsetzt, um darauf etwas Sinnvolles antworten zu können.
Varga ließ ihn zappeln, ließ Kyriakos ins Bodenlose fallen, um ihn dann -
endlich - zu erlösen.
"Vielleicht begreifen Sie es besser, wenn ich mit einem christlichen
Begriff operiere! Also was auch immer getan, geschaffen wird, kann nur dann
wahrhaft vollkommen sein, wenn es aus ganzer Seele geschieht",
meinte Varga gnädig zum Abschluss, der wie es Kyriakos schien, aus Mitgefühl für
Kyriakos heraus, wiederum etwas Menschlicheres angenommen hatte. Kyriakos
blickte ihn an und fand ihn jetzt geradezu rührend menschlich - es schien fast,
als wäre der Dämon der vorigen Minuten nie existent gewesen.
Sicherheitshalber entschuldigte sich Kyriakos für seine geistige
Halsstarrigkeit und empfahl sich. Beim Verlassen des Restaurants wagte er dann
doch, noch einen Blick auf Varga zu werfen. Beruhigt stellte er fest, dass er -
immer noch - menschliche Züge hatte.
Kyriakos ging in sein Atelier, trank hintereinander drei große Gläser Wasser
und ließ sich dann erschöpft auf einem alten Fauteuil nieder. Ihn fröstelte
noch mehr, er aber führte das auf die unwirtlichen klimatischen Bedingungen in
diesem Land zurück - so wollte er sich zumindest glauben machen.
Irgendwann war er eingeschlafen und neuerlich quälten ihn seine Geister.
Tausende Fratzen, höhnisch lachende Heilige und sogar ein Christus schienen
sich über ihn zu amüsieren. Als er - wie schon so oft - auch von erotischen
Visionen heimgesucht wurde, war man ihm gnädig und er erwachte. Er setzte sich
auf und rieb sich die Augen, und plötzlich dachte er wieder an Varga. Dann
stand er auf und betrachtete seine "neuesten" Heiligen, anschließend
ging er hinüber zum mild lächelnden Christus. Ein Kampf in seinem Inneren
tobte - sollte er oder sollte er nicht?! Außerdem war da noch Jan Varga, dessen
Zuwendungen sowohl geistiger als auch materieller Art er doch nicht verlieren
wollte. So nahm er ein Stück Grafit und versuchte aus der Erinnerung heraus,
die wüsten Traumbilder aufs Papier zu werfen. Anfangs gelang es ihm auch ganz
gut. Doch nach und nach fühlte er sich immer schmutziger dabei. Er betrachtete
das Bild, das er soeben gemalt hatte, diese aufs Papier gebrachten Obszönitäten
und ihm schauderte davor. Erschreckt vor sich selbst wich er zurück und ließ
sich erneut in den Fauteuil fallen. Tränen der Wut und der Scham rannen ihm über
seine Wangen, und dann stürmte er zu diesem Bild, riss es herunter und
zerfetzte es in Stücke. Christus, sein Christus aber lächelte immer noch mild!
Die Wochen vergingen. Völlig verstört versuchte er Kontakt mit Jan Varga
aufzunehmen. Aber aus unerfindlichen Gründen konnte er ihn nicht erreichen.
Kyriakos Sapoutzakis' Verzweiflung wurde immer größer. Tagelang fastete
er und vertiefte sich ins Gebet. Er bat Gott um einen Fingerzeig, um einen
kleinen Wink, was er denn nun weiter machen sollte. Der völligen Entkräftung
nahe, begann er irgendwann wieder feste Nahrung zu sich zu nehmen: Etwas Brot,
ein paar Oliven, Feta und sogar einen Schluck Wein genehmigte er sich. Kyriakos
kaute und dachte an nichts. Draußen schien die Sonne - und endlich war auch in
diesem Land anscheinend der Frühling eingekehrt. Er öffnete das Fenster und
ließ ihn herein. Plötzlich frischte der Wind leicht auf. Vor sich hatte
Kyriakos die Heilige Schrift liegen, zu der er in den vielen vergangenen Tagen
Zuflucht genommen hatte. Eine Windbrise fuhr in die Blätter des Buches und
bewegte sie scheinbar zufällig hin und her. Der Maler folgte trägen Blickes
diesem Spiel des Windes. Dann ein neuerlicher, diesmal heftigerer Windstoß, und
so abrupt dieses Wetterfänomen eingesetzt hatte, so plötzlich war es wieder völlig
windstill. Noch einen abgekauten Olivenkern im Mund, holte Kyriakos die Bibel an
sich heran und blickte auf die Stelle, an der der Wind das Buch zuletzt
aufgeschlagen hatte: Es war jene Passage, in der kurz daruf eingegangen wird,
dass der Verräter Judas, der seinen Verrat nicht mehr ertragen konnte,
hinausging und sich erhängte.
Kyriakos stand dieses Bild plötzlich ganz klar und deutlich, in allen
Einzelheiten, vor seinem Auge. Er sah es! Er spuckte den Olivenkern auf den
Boden, nahm hastig einen Bleistift zur Hand und fertigte eine Skizze dieses
Bildes an: Judas, den Blick gen Himmel gewandt, aber nicht ganz, so als durfte
er es nicht wagen dorthin zu blicken, voller Schmerz und innerlichem Abscheu.
Aus diesem blauen Himmel, aus dem blauen Nichts gleichsam, hing der Strick, an
dem er sich sogleich würde aufknüpfen müssen. In der einen Hand die
Silberlinge, der Lohn des Verrates, die andere Hand fasste nach dem Strick. Das
war es! Kyriakos fühlte, als würde ihm eine unendliche Last abfallen. Mit
jedem Strich an seiner Skizze empfand er sich leichter. Innerhalb weniger
Minuten hatte er die erste Skizze fertig! Endlich - dem Himmel sei Dank - so
schien es, - nein -, war er sich sicher, stand er davor, sein Meisterwerk zu
schaffen. Ein Meisterwerk, welches ihn endlich nicht nur mit sich selbst sondern
auch mit Jan Varga (und fast war ihm das noch wichtiger!) würde aussöhnen können.
Von nun an lebte er nur noch für dieses sein Bild. Und hatte nicht Varga selbst
behauptet, dass egal, was es war, der Künstler nur darauf Bedacht nehmen müsse,
das Kunstwerk aus dem tiefsten, dem innersten Urgrund heraus zu erschaffen. War
dieses Motiv nicht Sapoutzakis Urgrund!? Das musste es doch sein, sein wahres
Meisterwerk und nicht all die albernen George, Nikolasse und milde lächelnden
Christusse! Wie von einem Dämon besessen arbeitete Sapoutzakis nunmehr Tag und
Nacht am "Verrat des Judas", wie er sein Werk nannte. Vierzig Tage
lang legte er den Pinsel nicht mehr aus der Hand, in diesen vierzig Tagen wurde
er selbst zum "Judas", konnte er sich mit jeder Faser seines Körpers,
seines Geistes, seiner Seele, in den Verräter hineinversetzen. Und am
vierzigsten Tage war das Werk vollendet, und Kyriakos setzte sein Kürzel in die
linke obere Ecke des Bildes. Erschöpft aber glücklich zugleich ließ er sich
in seinen Fauteuil fallen und betrachtete ausgiebig seine Arbeit. Er konnte es
prüfen, so oft er wollte - es war perfekt! Ein klein wenig empfand er Stolz,
nein eher Genugtuung darüber, endlich durch dieses sein Werk gerechtfertigt
worden zu sein. Aber so ganz wollte er sich auf diese Gefühlswallung nicht
einlassen, sondern plante stattdessen - endlich ruhigen Gewissens - Jan Varga
kontaktieren zu können.
Er rief Varga an und erreichte ihn auch ohne geringste Probleme bei ihm zu Hause
am Telefon. Er wollte ihm nicht all zu viel erzählen, wollte die Überraschung
seines Wohltäters vollkommen auskosten, die bewundernden Blicke und die daraus
folgende freundschaftliche Zuwendung Vargas. Endlich, endlich war sein Morgen
da!
Ohne zu zögern - so als hätte Jan Varga bereits alles gewusst - erklärte er
sich einverstanden, am Abend beim Kreter im Atelier vorbeizukommen. Kyriakos gab
sich hinsichtlich des Grundes seiner so kurzfristigen Einladung an Varga
einigermaßen kryptisch - obgleich er innerlich jubilierte, ließ er sich so gut
er es eben zuwege brachte, nichts anmerken.
Am Abend erschien zum vereinbarten Zeitpunkt Jan Varga. Selbst Varga war sogar
ein wenig erstaunt, Kyriakos dermaßen aufgekratzt und energiegeladen
anzutreffen. Der Maler führte den Mäzen sogleich in sein Atelier und knipste
das Licht an. Dann herrschte Schweigen, Kyriakos Herz aber raste. Jan Varga
erblickte das Gemälde und sagte - nichts, aber er sah, dass es gut war. Hierauf
knipste er das Licht aus und ließ sich schweigend auf dem Fauteuil nieder.
Lange herrschte dieses Schweigen aber Kyriakos, von seinem Werk überzeugt,
interpretierte es als Zeichen der Anerkennung Vargas. Nach dieser schier
unendlich andauernden Stille sagte Varga in die Dunkelheit hinein:
"Finden Sie nicht auch, mein geschätzter Kyriakos, dass das was Sie da auf
die Leinwand gebracht haben ein - nun sagen wir es mal so - schon oft gebrachtes
Motiv in der Malerei ist?“
Kyriakos Sapoutzakis schien den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Alles
drehte sich um ihn herum, nichts mehr konnte ihm Halt bieten. Um irgendetwas zu
tun, schaltete er das Licht wieder ein, und sein Blick fiel dabei auf seinen
Christus. - Und auch der schien weniger mild zu lächeln als noch Tage zuvor,
gleichsam ebenfalls ein wenig ermattet.
“Ich sehe allerdings, dass Ihr Werk in gewisser Hinsicht doch entspricht!
Allerdings - mangelt es ihm immer noch an einer Art Rassigkeit - könnte man
sagen! Es ist zugegebenermaßen ein schönes Motiv - der Verrat. Die daraus
folgende Reue scheint mir dann doch ein wenig zu plakativ dargestellt zu sein,
zu schwer! Außerdem darf ich Ihnen sagen, dass - wenn Sie mir gestatten -
derartige Motive in der Geschichte der Malerei dennoch schon treffender
dargestellt worden sind! Nehmen wir da zum Beispiel ihren Landsmann, den berühmten
El Greco. Sie kennen doch sicher sein Gemälde "Petri Reue". Übrigens
gibt es derzeit eine gute Möglichkeit, sich dieses Bild noch einmal genauer
anzusehen; es läuft nämlich gerade im Kunsthistorischen Museum eine
Ausstellung seiner Werke. Ich kann sie Ihnen nur wärmstens empfehlen: Gehen Sie
doch hin, Kyriakos, und sehen Sie selbst! Sie werden dann gewiss verstehen,
woran es Ihnen, woran es Ihrem Werk immer noch mangelt. So jetzt muss ich aber
gehen! Ihr Anruf kam etwas überstürzt. Ich habe am Abend noch ein Treffen mit
einem portugiesischen Künstler, ein sehr talentierter Mann übrigens. Ich darf
mich jetzt verabschieden. Leben Sie wohl!" gab er von sich, reichte dem
Kreter zum Abschied die Hand und überließ ihn seinen Zweifeln, die ihn nach
diesem Auftritt Vargas wohl mit noch größerer Vehemenz denn je überkommen würden.
Kyriakos stand schwer atmend in der Mitte seines Ateliers und ließ die Worte
des Mäzens noch einmal Revue passieren, um sich ein Urteil darüber zu bilden,
ob Varga damit doch zumindest ein wenig Anerkennung oder seine endgültige
Vernichtung zum Ausdruck bringen wollte.
“Dieser Teufel! Aus ihm konnte man nicht schlau werden! Dieser boshafte Dämon",
zischte der Kreter erregt hervor und blickte den mild lächelnden Christus
voller Zorn an!
Was hatte er sich denn auch von Jan Varga erwartet?! Was war er nur für ein
Narr, er hätte es doch besser wissen müssen! Kyriakos Sapoutzakis knallte die
Tür seines Ateliers zu und beschloss sich zunächst einmal wüst zu betrinken,
am nächsten Tag wollte er dennoch die
El
Greco-Ausstellung besuchen, um seinem kretischen Landsmann auf den
Zahn zu fühlen, um - letztlich - und vor allem auch seinen Mäzen zu prüfen!
Ob seine Kritik hinsichtlich "Judas Verrat" berechtigt war oder nur -
wie es ihn plötzlich überkam - einer unmenschlichen und gottlosen
Boshaftigkeit Jan Vargas entsprang.
Kyriakos Sapoutzakis, obgleich vom Rakirausch der letzten Nacht schwer
angeschlagen (er bereute wieder einmal etwas - nämlich seine Maßlosigkeit
hinsichtlich dieses starken Getränkes!) wachte dennoch sehr früh am Morgen
auf, um bereits bei Einlassbeginn in die El Greco-Ausstellung gehen zu können.
Natürlich hatte er die Meisterwerke des großen Kreters - den die mitteleuropäischen
Idioten zumeist und -seiner Meinung nach - fälschlicherweise als Spanier
bezeichnen - schon zig-mal gesehen. Ihn interessierte eigentlich nur das eine
Bild, nämlich jenes, von dem Jan Varga gesprochen hatte. Nur dieses eine wollte
er studieren. Mit einer nahezu gehässigen Genauigkeit betrachtete er
stundenlang den Petrus. Natürlich war es ein großartiges Werk - was sollte er,
der kleine Kyriakos Sapoutzakis, schon an diesem Meisterwerk beanstanden können;
aber irgendwo musste doch auch hier irgendeine Schwäche zu finden sein,
wenigstens ein kleiner Fehler. Er unterzog das Bild jeglicher nur erdenklichen
Prüfung, aber so sehr er sich auch abmühte, er konnte nichts finden. Zumindest
nicht an diesem Tag, den er zur Gänze vor jenem Bild verbracht hatte.
Zerknirscht verließ er knapp vor der Schließung des Museums den Petrus und
musste sich eingestehen, dass, sollte El Greco mit diesem seinem Bild seine
eigene, persönliche Läuterung beabsichtigt haben, es schien, als ob ihm dies
perfekt gelungen war. Der hatte seinen Frieden gefunden! Kyriakos hingegen war
weiterhin seinem Dämon des Zweifels, seinen Schuldgefühlen und vor allem Jan
Varga überlassen. Tiefste Niedergeschlagenheit überkam ihn, und nichts konnte
ihn davor bewahren. Eines jedoch wurde ihm wenigstens klar, dass all die Jahre
der Ikonenmalerei Kyriakos in letzer Konsequenz wohl nur dazu gedient hatten,
seiner verzweifelten Hoffnung Ausdruck zu verleihen, irgendwann vielleicht doch
damit seinen inneren Frieden zu finden, sich zu befreien von diesem nie enden
wollenden Gefühl einer Schuld! Dies zumindest erkennend, konnte er einschlafen.
Doch hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, auch bei El Greco in künstlerischer
Hinsicht Fehler zu finden, zumindest einen Ansatz zu berechtigter Kritik, und so
beschloss er, auch am nächsten Tag dieses Bild aufzusuchen.
Kyriakos Sapoutzakis verbrachte nunmehr Wochen damit, ins Kunsthistorische
Museum zu pilgern und dieses eine Bild El Grecos zu prüfen. Natürlich
wunderten sich vor allem die Museumsaufseher über diesen Mann, der stundenlang
vor dem Bild stand, der dabei vor sich hin murmelte, abwechselnd sich in
Bewunderung, dann wieder offensichtlich in Hass ergehend; aber da man in ihm
offenbar selbst einen Künstler vermutete, schenkte man ihm bald keine weitere
Beachtung, und so konnte er sich frei von äußeren Einflüssen völlig ungestört
seinen El Greco-Studien widmen.
Trotz all seiner Bemühung konnte er auch nach Wochen nichts Negatives an diesem
Bild finden. Hinzu kam, dass sich bei Kyriakos von Tag zu Tag der Eindruck verstärkte,
dass dieser Petrus immer mehr auf ihn den Eindruck des wahrhaft Geläuterten
machte - dass er sich ihm als einer darstellte, der seinen Frieden gefunden zu
haben schien. Ganz im Gegensatz zu Kyriakos, dessen Unruhe sich immer mehr ins
Manische steigerte. Letztlich ertrug er es nicht mehr, in diese sanftmütigen
Kuhaugen des Petrus zu starren, und er betrachtete viel lieber nur mehr den für
El Greco so typischen Himmel, dessen Wolken sich unheilschwangerer über
Kyriakos denn über Petrus zusammenzubrauen schienen, und so ein bevorstehendes
und anscheinend unabwendbares Unheil ankündigten.
Dieses Unheil schien nicht mehr weit entfernt zu sein, denn überraschenderweise
tauchte eines Morgens kurz vor des Kreters täglichem Aufbruch in das
Kunsthistorische Museum der Mäzen auf, dem an diesem Tag offenbar der Sinn nach
Gespräch stand. Er bat Kyriakos um einen starken griechischen
Kaffee und nachdem Kyriakos für Varga und sich selbigen zubereitet
hatte, ließen sie sich im Atelier vor Sapoutzakis' "Judas" nieder.
“Also Kyriakos, ich habe mich in der letzten Zeit innerlich ein wenig mit
Ihrem Gemälde auseinandergesetzt. Wie gesagt selbstverständlich in
wohldosierter Weise, zumal ich mich von nichts vereinnahmen lassen möchte. Ein
Punkt übrigens, in dem wir uns bedeutend unterscheiden. Sehen Sie, mein Lieber,
dieses Ihr Werk ist in der Tat ziemlich gelungen, wenn ich es so sagen darf.
Allerdings und trotz allem ist es immer noch unter jenes von El Greco zu
stellen. Aber das ist nicht der springende Punkt. Vielmehr habe ich Ihnen den
Vorschlag El Grecos Gemälde eingehender zu studieren, deshalb gemacht, da ich
den Eindruck hatte, dass es Ihrem nicht nur thematisch, sondern darüber hinaus
auch von der Intention des Künstlers urverwandt ist. Ich kann nicht genau sagen
warum, doch habe ich in all der Zeit unserer Bekanntschaft das Gefühl, Sie würden
schwer an einer inneren Last tragen. Ich denke sowas wird landläufig auch
Schuldgefühle genannt. Also eine Schuld, die Sie mit aller Kraft abzutragen
suchen - darin haben Sie wahrlich Leidenschaft. Ich vermute, El Greco hatte bei
der Erschaffung seines Bildes ähnliche Gefühle, doch ist es ganz
offensichtlich, dass es ihm mit seinem Bild aufs trefflichste gelungen ist, sich
von seiner Schuld zu befreien. Sie haben - wie ich Sie kenne - sicherlich
Hunderte Male in die Augen des Petrus geschaut. Welch stille Befreiung, welch
große Erleichterung!" sagte Jan Varga in geradezu für ihn untypisch
pathetischer Manier, wobei er aber selbiges Pathos mit einem selbstironischen Hüsteln
begleitete. Ihnen jedoch ist - zu einem gewissen Bedauern meinerseits - diese
Befreiung mit Ihrem "Judas" - in persönlicher Hinsicht jedenfalls
nicht gelungen!“
Da Jan Varga mit diesen Worten genau jenen neuralgischen Punkt Kyriakos'
getroffen hatte, wagte es Kyriakos zum ersten Mal, Varga gegenüber heftiger zu
werden:
“Das ist es ja, was mich wahnsinnig macht, was mich nicht mehr zur Ruhe kommen
lässt! Seit Wochen renne ich zu diesem, mich nunmehr anekelnden, Bild und suche
nach etwas und weiß nicht einmal genau wonach. Oh doch! Nach meiner Ruhe! Nach
meinem Frieden! Nach genau diesem einen Kriterium, weshalb sein Werk gelungener
ist als meines! Aber ich kann es nicht finden!“
“Nun, das ist es eben! Merken Sie es denn nicht selbst?" sagte Jan Varga
und machte ob der Sturheit seines Gegenübers eine theatralische Geste der
Ungeduld.
“Letztlich ist es Ihr Kunstwerk! Aber eines sei Ihnen gesagt: Sie müssen sich
von all dem befreien! Sie müssen es einfach vernichten! Vernichten Sie doch
Ihre Besessenheit nach Läuterung!" und mit einem Lächeln, das seine
Mundwinkel fein umspielte, fügte er hinzu:
"Vergessen Sie doch endlich einmal Ihre Moral, setzen Sie sich einfach darüber
hinweg! Befreien Sie sich doch von diesen reuigen Augen des Petrus! Ver-nich-ten
Sie doch meinetwegen auch diesen El Greco! Mehr kann und will ich dazu nicht
mehr sagen; das ist in letzter Konsequenz Ihre Angelegenheit und wird mir allmählich
zu persönlich!“
Schweigend rauchten sie noch eine Zigarette, wobei Kyriakos Jan Varga aus den
Augenwinkeln heraus musterte. Erneut musste er feststellen, dass sich unter der
scheinbar ruhigen und logisch wirkenden Oberfläche des Jan Varga ein Dämon
verbarg, dessen größte Lust offenbar darin bestand, andere in die totale
Vernichtung zu treiben - mit scheinbar sanften und logischen Worten. Kyriakos
war nur unwesentlich erleichtert, als Varga ging. Hatte er doch das Gefühl,
dass dieser böse Geist nur deshalb jedes Mal auftrat, um ihn mit jedem Mal ein
Stückchen näher an seinen Abgrund heranzuführen.
Kyriakos Sapoutzakis hatte - wenigstens - die "Pilgerreise" zum Petrus
eingestellt. Dafür aber trank er Unmengen Alkohol, wobei sich höchstens
Berauschung, doch keine Linderung seiner Seelenqualen einstellen wollte.
Eines Abends, als er wieder einmal besinnungslos getrunken hatte, kippte er in
seinem Atelier um und fiel in einen tiefen Schlaf: In einer öden Landschaft
fand er sich wieder und - es musste ja schließlich so kommen - begegnete
Petrus, der wie immer mit gefaltenen Händen zum Himmel blickte. Doch mal wurde
Petrus gigantisch groß und schien in den düsteren wolkenverhangenen Himmel
wachsen zu wollen, dann, schon im nächsten Augenblick, erschien er zwergenhaft
klein, vom selben Himmel, der noch bedrohlicher wirkte, förmlich erdrückt.
Erstmalig fühlte Kyriakos bei der Begegnung mit diesem Petrus ein gewisses Gefühl
der Erleichterung, welches allerdings nicht lange vorhielt. Denn schon wieder
hatte Petrus wahrlich nichts mehr Zwergenhaftes an sich und blickte nicht mehr
gar fromm in den Himmel, sondern starrte geradewegs ihn - ja ihn - Kyriakos
Sapoutzakis an. Nichts Mildes mehr in seinen Augen, sondern die blanke
Verachtung, eine eisige Kälte! Kyriakos spürte, wie nunmehr er immer kleiner
und kleiner wurde, und während er so vor sich hinschrumpfte, schien dies den
Petrus nur mehr zu belustigen, und er brach in schallendes Gelächter aus.
Petrus bog sich vor Lachen, fiel hinten über und als er sich wieder
aufgerichtet hatte, blickte Kyriakos geradewegs in das flammende Antlitz und die
wie Kohlen rotglühenden Augen von Jan Varga, der ihn mit einer ans Jenseits
gemahnenden Donnerstimme anfuhr: "Bist du der Fels, auf dem ich mein Museum
errichten will - oder nicht?!“
Schweißgebadet schreckte Kyriakos mit dröhnendem Schädel auf; aber der Traum
war immer noch nicht verschwunden, und der Maler wollte das auch nicht mehr.
Denn dieser Traum hatte ihm viel mehr zu sagen, als seine kleine räudige Realität,
die Kyriakos längst völlig ermattet hatte, und mit der er - von diesem
Augenblick an - nichts mehr zu tun haben wollte.
Auch heute würde Kyriakos Sapoutzakis zu El Greco gehen, wie schon all die
Wochen zuvor. Aber nach dem heutigen Tag würde es vorbei sein, vorüber, und er
er würde dem Petrus nie mehr wieder in dessen reumütige Büßeraugen blicken müssen.
Nur noch dieses eine Mal, dieses letzte Mal! Dann würde er ihn ausgelöscht
haben - genau so, wie es Jan Varga Kyriakos geraten hatte.
Kyriakos machte sich ins Kunsthistorische Museum auf; allerdings besorgte er
sich zuvor noch einige Utensilien, die er an diesem Tag für seine Arbeit, für
die Vollendung seines Werkes brauchen würde. Heute, ja heute war der Tag
gekommen, an dem sein Kunstwerk perfekt sein würde.
Er betrat das Museum. Es war noch früh am Vormittag und außerdem ein Werktag.
Bis auf die Aufseher, die noch recht verschlafen wirkten und einige japanische
Touristen, die aber mit dem reuigen Petrus nur wenig anzufangen wussten und ihn
deshalb links liegen ließen, war niemand zugegen.
“Nein Petrus, das geht die nichts an! Das ist nur eine Sache zwischen dir und
mir - selbst El Greco ist längst verfault, du aber bist immer noch da und
glotzt schon viel zu lange in den Himmel. Genug gebüßt!" monologisierte
Kyriakos still vor sich hin. Innerlich grinste er über seine Gedanken.
Wie einfach doch alles sein kann, und wie einfach es einem wirklich
Entschlossenen doch gemacht wird! Nein, ich brauche dir nicht mehr in die Augen
zu sehen - oh doch! Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich hätte Angst davor,
dich anzusehen! Ha! So was kann ja wohl nur dir einfallen, dir mit deiner ewigen
Schuld. Keine Sorge - wenn der rechte Moment gekommen ist, schaue ich dir schon
in deine elenden Augen. Mit aller Leidenschaft werde ich hineinblicken, bis ins
Tiefste deiner Seele, du Jammerlappen, du Kriecher!
In einem überaus günstigen Moment - die beiden Aufseher plauderten in einer
Ecke gelangweilt miteinander, und die Japaner widmeten sich eingehend der
muttergöttlichen Brust - holte Kyriakos mit für ihn ungewohnt ruhigen
Bewegungen eine kleine, mit Druckluft betriebene Handpumpe unter seiner Jacke
hervor. Er drehte sich noch einmal um - alles war in diesem Moment ruhig und
friedlich, wie wohl schon Jahrhunderte lang zuvor. Dann begann er - von rechts
unten beginnend, mit schnellen Sprühstößen auf das Gemälde des heiligen
Petrus eine Flüssigkeit zu spritzen. Stoßweise kam es aus der Pumpe heraus -
über und über wurde der heilige Petrus bespritzt, bis hinauf in die
Haarspitzen des Petrus, nur den Himmel, den sparte er aus! Sogleich nahm er eine
Streichholzschachtel aus seiner Hoschentasche und entzündete ein Zündholz,
welches mit einem beißenden, nach Schwefel riechenden Geruch entflammte.
Der Geruch der Hölle, mein Lieber!
Er legte an der rechten unteren Ecke das Feuer an und schon im nächsten
Augenblick züngelten die Flammen gierig hoch, verzehrten auf ihrem Weg hinauf
alles, ließen nichts mehr übrig. Jetzt endlich würde nicht nur Petrus im
flammenden Inferno gereinigt werden, sondern auch er - Kyriakos Sapoutzakis.
Kyriakos spürte förmlich, wie mit jedem Millimeter Flammenfraß er selber
leichter und leichter wurde, wie diese - wahrscheinlich bis dato - einzige
perfekt in Bild umgesetzte Läuterung nicht mehr existieren würde. Und mit ihr
all die Jahrhunderte von Schuld und Sühne in diesen seinen Flammen untergehen würden.
Was kümmerte Kyriakos da noch sein "Judas" daheim - wo er doch soeben
das perfekte Kunstwerk geschaffen hatte: Den wirklich freien Menschen!
So nebenbei kamen ihm auch ganz prosaische Gedanken, und auf einmal - quasi wie
von den Flammen erleuchtet, vermochte er auch die Fehler dieses vergehenden
Kunstwerks zu erkennen. Diese haarlosen, käsigen Arme - völlig lächerlich für
einen Mann orientalischer Herkunft, wie Petrus es war. Ein wenig Bräune konnte
nicht schaden, grinste Kyriakos als die Flammen die gefalteten Hände Petri zunächst
bräunten bald aber völlig verkohlten. Und das Feuer ging weiter unbeirrt
seinen Weg. Oberkörper verbrannte. Hals verbrannte, und als die Flamme hochfuhr
und die Augen erreichte, schienen sie Kyriakos für einen Augenblick lang rot
aufzuglühen - genauso wie die Augen Vargas in der letzten Nacht. Als, durch die
Gluthitze bedingt, sich die Leinwand in Falten warf, begannen die Augen des
Petrus in lächerlichster Weise zu schielen, um dann endlich zu brechen, worauf
sich Kyriakos nicht mehr zurückhalten konnte und in ein ohrenbetäubendes Gelächter
ausbrach. Er lachte und lachte, wie er noch nie zuvor in seinem von Heiligen und
Christussen gesäumten und beengten Leben gelacht hatte. Er lachte auch dann
noch, als man ihn brutal von hinten niederschlug und irgendwer - lächerlicherweise
- noch zu retten, was zu retten war, suchte, indem er mit einem Feuerlöscher
die Flammen eindämmte.
Kyriakos Sapoutzakis fiel zu Boden. Auf dem Rücken liegend blickte er in den
wolkenverhangenen El Greco'schen Himmel - links oben in der Ecke. Er war das
einzige, was von jenem Jahrhunderte alten Meisterwerk noch übrig geblieben war.
Gott sei Dank. Der Himmel war ja noch heil! Kyriakos fühlte sich selig - vor
allem auch deshalb, weil er endlich auch der Zuwendungen Jan Vargas würdig
geworden war.
Nichts konnte Kyriakos Sapoutzakis mehr betrüben; auch nicht, dass er von
derben Polizistenhänden festgenommen wurde und von irgendeinem österreichischen
Kunstbanausen von Kommissar verhört wurde:
"Sind Sie sich denn nicht bewusst, was Sie angerichtet haben, was Sie
vernichtet haben?" fuhr ihn der verhörende Beamte schroff an.
Mit einem beseligten Lächeln antwortete Kyriakos:
"Ja, Ihre Schuld, meine Schuld! Unser aller Schuld habe ich
hinweggenommen!"
"Nein, Sie Wahnsinniger!" brüllte ihn jetzt der Polizist an.
"Sie haben ein Bild im Versicherungswert von 1.100.000.- € zerstört!"
"Nein!", entgegnete ihm Kyriakos höflich.
"So sehe ich das nicht! Ich habe es nicht zerstört, sondern ganz im
Gegenteil habe ich das wirklich Wesentliche an El Grecos Werk deutlicher als der
Meister selbst ans Tageslicht gebracht - nämlich diesen wunderbaren El Greco'schen
Himmel, links oben in der Ecke!"
Der Kommissar blickte Kyriakos nur fassungslos und wie es dem Künstler auch
schien - bar jeglichen Kunstverstandes – an!
Während der Kreter die nächsten zwanzig Jahre in einer Irrenanstalt zubrachte
(wo er ständig nur Himmel malte - Himmel mit Wolken, die zum Teil auch sehr
obszöne Formen hatten!), befand der Kunstmäzen Jan Varga, dass nunmehr die
Zeit dafür reif war, Kyriakos' großartiges Werk, "Judas Verrat" auf
den Kunstmarkt zu werfen, wo es tatsächlich einen schwindelerregenden Preis
erzielen konnte.
(Arkitsa, am 20. Juli 2002, an einem Tag mit einem Himmel wie von El Greco - links oben in der Ecke.)