Kindheit im zweiten Weltkrieg


Einführung

Es gibt viele Geschichten über den Zweiten Weltkrieg. Die Berichte über den Untergang des Nationalsozialismus nehmen inzwischen einen breiten Raum in den Geschichtsbüchern ein. Über die Konzentrationslager wurde viel berichtet, grausame, wahre Filme darüber brachte das Fernsehen aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung und weckte Emotionen, die leider in unserer schnelllebigen Zeit rasch wieder verschwinden. Filme, alte Wochenschauberichte über den großen Zug der Flüchtlinge, der eine der größten Völkerwanderung unserer Zeit auslöste, werden immer wieder in Kino und Fernsehen gezeigt und in Büchern beschrieben.

Darüber wurde eine Bevölkerungsgruppe vergessen, die bis heute ihre Traumata unverarbeitet mit sich herumträgt, die schweigend schwere Not und Angst ertragen musste, deren Bedürfnisse nach Wärme und Geborgenheit hinter dem Alltagsgeschehen zurückstehen mussten:

Die Kinder der Kriegs und Nachkriegszeit, zu denen ich gehöre. Für uns war der Krieg zu Ende, als keine Bomben mehr fielen, die Bunker und Luftschutzkeller abgeschafft wurden und die Besatzungsmächte unser Land in vier Zonen aufteilte. Das was danach kam, war für uns Kinder und für unsere Mütter: Die Nachkriegszeit, in welcher wir eingeteilt wurden in Kinder, die Vater und Mutter hatten, Halbwaisen und Vollwaisen. Diese Begriffe waren nicht neu, für uns waren sie hohle Worte. Mit der Aufteilung in Selbstversorger, Teilselbstversorger und Normalverbraucher konnten wir mehr anfangen. Sie hingen mit etwas Greifbarem zusammen, mit dem Hunger. Auch wir teilten auf in: Kinder, die nach unserer Definition reich waren, denn sie hatten genug Nahrung. Danach kamen Kinder, die teilweise Mangel litten und Kinder, die hungern mussten, nichts hatten und mit hungrigen Mägen ihre Tage verbrachten. Wie sehr unsere Mütter hungerten, sahen wir nicht.

Wir wurden aufgefordert unsere furchtbaren Erfahrungen in uns einzuschließen, sie zu verdrängen, ja, sogar, sie abzuspalten. Niemand hatte Zeit, sich um unsere Sorgen zu kümmern. Das Erlebte wurde nicht aufgearbeitet; der Krieg hatte Spuren hinterlassen, die zementiert wurden, wie die aus Trümmern neu erstehenden Häuser, die von Frauen gebaut wurden. Diese Frauen mussten in eine neue Rolle hineinwachsen, sie leisteten den Wiederaufbau, sie versorgten uns mit Nahrung so gut es ging und sie beweinten ihre Männer, die nicht aus dem Krieg zurückkamen.

Die Erinnerung an diese Zeit möchte ich aufschreiben und damit meinen Altersgenossen Mut machen, zum Reden, zum Erinnerung, zu Trauern und zu verzeihen, ich tue dies in der Tradition der Psychoanalyse: Erinnern, durcharbeiten, verarbeiten, damit wir alle im Reinen mit uns und unserer Geschichte alt werden können.

Die Zeit, in der Kriegshandlungen stattfanden ist bei mir lebendig. Sie ist bezogen auf ein petit Quartier, unser Haus mit seinem Garten. Danach erst kommen Erinnerungen an das Dorf und seine Bewohner. Nach dem Umsturz sind die Erinnerungen sehr viel weiter, sie schließen das Dorf und die veränderten Bedingungen ein. Zunächst bereichte ich über das kleine Viertel meiner Kindheit, es umfasst unser Haus und seine Bewohner, und die unmittelbaren Kriegsereignisse. Erst im zweiten Teil werde ich den erweiterten Radius beschreiben, das Dorf mit seinen veränderten Lebensbedingungen.

Das Tag- und Nachthaus

Das Tag- und Nachthaus, so nannte ich es, stand in dem Dorf Gschwend, in der oberen Herrengasse. Früher hatten dort die besseren Leute gewohnt. Sein Äußeres war einmal beige, jetzt sah es scheckig aus, weil überall der Anstrich der Schindelverkleidung abbröckelte. An der Vorderfront wuchs ein Spalierbaum mit Weichselkirschen, der verdeckte zur Straße die Schäden. Ums Haus war ein großer Garten, für uns war er ein Paradies. Es standen darin wie zwei Geschwister ein Apfel und ein Birnenbaum. Sie waren etwas besonderes, denn einer von ihnen trug sieben Sorten Birnen, der andere sieben Sorten Äpfel. Mein Vater hatte sie aufgepfropft. Sie versorgten uns jedes Jahr, vom Frühsommer bis zum Spätherbst mit ihren Früchten.

Das Taghaus war hell, bis die Sonne unterging. Danach wurden die Fensterläden geschlossen und die Rollos aus Verdunkelungspapier heruntergelassen. Unsere Mutter verrichtete diese Arbeit stets selbst. Sie prüfte, ob die Rollläden dicht schlossen. Aus dem Nachthaus durfte kein Lichtschimmer dringen, wenn die mit Bomben beladenen Flugzeuge ihre vernichtende Fracht in die nahen Großstädte brachten. In dieser Zeit war ein ständiges Kommen und Gehen darin, weil viele Bekannte für einige Zeit Unterschlupf suchten.
Nachdem Krieg wohnten nur noch meine Mutter und wir vier Kinder in der unteren Etage und im Obergeschoss lebte die Familie Weiss. An meinen Vater habe ich keine Erinnerungen. Er ist seit 1941 vermisst. Das Haus, der Garten und die Erzählungen meiner großen Schwester sind meine einzigen Verbindungen zu ihm.

Meine Mutter war eine rassige Frau, die ihre schwarzen Haare zu einem Knoten geschlungen trug. Sie hatte schön geschnittene, große grüne Augen und eine kurze Nase und einen vollen Mund. Im Krieg lebte sie von der Hoffnung, dass unser Vater wieder käme, das ließ sie stark sein. Sie hielt Haus und Familie für seine Rückkehr zusammen. Nach dem Krieg versuchte sie uns zunächst mit dem Verkauf von Sämereien und Pflanzen zu ernähren. Als sie realisierte, dass unser Vater nicht zurückkomme, leistete sie Übermenschliches: Von morgens bis abends arbeitete sie im Textilgeschäft ihres Vaters, daneben hatte sie uns, das Haus und den Garten zu versorgen. Außer meiner Schwester Isa, die ihr zur Hand ging, gab es keine Hilfe. Sie half ihr uns zu erziehen und ging ihr bei den Hausarbeiten zur Hand. Zu meinem Leidwesen konnte sie recht aktiv werden, wenn es um unsere Erziehung ging. Sie schlug mich selten, ihre Strafen waren subtiler, sie redete nicht mehr mit mir, das war schlimmer als Prügel, denn sie schaute mit ihren großen grünen Augen durch mich hindurch, wenn ich ungehorsam war und sagte: "Für mich bist du jetzt Luft." Das war schrecklich, ich tat alles, was sie verlangte, denn alles auf dieser Welt wollte ich sein, nur nicht Luft für meine Schwester Isa.

Mein Großvater, der uns zumindest finanziell hätte unterstützen können, war ein harter Mann und ein Patriarch. Er verlangte von uns, dass wir aufs Wort gehorchten und legten großen Wert auf gute Manieren. Zum Glück wohnte er nicht in unserem Haus, das schaffte uns Freiräume und wir konnten uns seiner strengen Aufsicht entziehen.
Am Wochenende war unsere Mutter für uns da. Wir durften Freundinnen und Freunde mitbringen. Sie erzählen noch heute von den schönen Sonntagen, die sie bei uns verbracht haben. Eine meiner Freundinnen sagte zu mir: "Deine Mutter war mir unheimlich, oft musste ich zusehen, wie sie dich schlug oder ungerecht behandelte. Obwohl wir gern bei euch waren, weil viel gespielt und gelacht wurde, hatte ich Angst vor deiner Mutter. Sie war für mich eine Mutter mit zwei Gesichtern. Sie lachte, spielte und sang - und von einer Minute auf die andere wechselte ihre Stimmung, sie wurde zur furchterregenden Frau, die dich vor meinen Augen schlug."

Besser könnte ich meine Mutter nicht beschreiben, denn genau so habe ich sie erlebt.

Mein Bruder Klaus und ich waren lebhafte Kinder, unsere Mutter hatte es schwer mit zwei so aufgeweckten Kindern, die dauernd irgend einen Unsinn machten.

Dafür wurde sie von meiner jüngsten Schwester Doro entschädigt. Sie war die Brave, der Sonnenschein unserer Mutter. Ein Gesichtchen hatte sie, wie ein Engel. Das nutzte sie gegenüber den Erwachsenen zu ihrem Vorteil. Sie petzte, und das nicht zu knapp.

Mein Fräulein Vögele

Die schönsten und friedvollsten Erinnerungen an meine Kindheit verdanke ich einer alten Frau, die in unserem Haus Wohnrecht auf Lebenszeit hatte: Meiner Großmutter Hägele, sie hatte vier Namen, Amutter, Fräulein Vögele, Omatante, Fräulein Hägele. Ich nannte sie, wie es mir gerade einfiel. Sie wohnte in einer kleinen Stube hinter unserer Küche. Das hintere Stüble nannten wir es. Dort betrieb sie einen Samenhandel. In ihrem Zimmer waren überall große und kleine Säcke mit Samen. Stundenlang saß ich bei ihr. Frauen kamen und kauften Samen. Es war ein freundlicher Raum, in dem sie arbeitete und wohnte. In der Ecke stand ein großes Holzbett, das stets mit blau kariertem Leinen bezogen war. Gegenüber gab es einen Kanonenofen, in dem bei Kälte ein lustiges Holzfeuer prasselte. An einem Tisch in der Mitte des Zimmers saß das Fräulein Vögele und packte sorgfältig ihre Samen ab. Ihr Kopf war über ein Säckchen geneigt, mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf die Samen, denn sie war kurzsichtig. Weil ich klein war, sah ich von unten mitten in ihr Gesicht. Sie hatte gütige Augen und eine gerade Nase, ihre Wangen waren rot und ihr rundes Gesicht strahlte vor Wärme und Liebe. Sie war nicht dick, was ihr ein voluminöses Aussehen verlieh, waren ihre weiten grauen Röcke. Darüber trug sie eine gestreifte Trägerschürze. Mit geschickten Fingern drehte sie Tüten aus Zeitungspapier und zählte die Samen, auch wenn sie noch so klein waren, hinein, wie ein kostbares Gut, meine großen Geschwister wussten das, nur ich hatte wenig Respekt vor dieser Rarität. Wenn mich die Lust überkam schüttete ich die Samen durcheinander in eine kleine Blechschüssel und spielte damit. Nie wurde ich deshalb gescholten. Die Amutter sortierte sie wieder auseinander. Am liebsten nahm ich die größten Körner, den rauen Rübensamen, sie kitzelten auf der Haut meiner Hände. Dazwischen schüttete ich Rettiche, die waren mittelgroß und glatt. Unter diese Mischung kam winziger dunkler Spinatsamen. In der Blechschüssel rührte ich sie durcheinander, dabei entstand ein weiches, kratziges Geräusch. Ließ ich sie durch meine Finger rinnen, dann streichelten sie und kühlten meine Haut. Fräulein Vögele ließ sich nicht stören, unaufhörlich zählte sie mit halblauter Stimme die Samen in Tüten. Wenn Leute kamen schwatzten sie mit ihnen. Der Klang der Stimmen war wie Musik für mich, die untermalte ich mit einem raschelnden Sound aus meiner Blechschüssel. Manchmal kramte ich in den Säckchen und grub meine Hände tief in die Körner, bis sie mit Samen bedeckt waren. Dann zog ich sie schnell heraus, damit Samen zwischen die Fingern hängen blieben. Am liebsten sah ich zu, wenn sie die Tüten verschloss: Mit geschickten Fingern drehte sie die Tüten aus Zeitungspapier: "Amutter, dreh Zauberhüte," rief ich, klatschte in die Hände und sah staunend wie sie die Tüten so zusammenfaltete, dass kein Samenkörnchen herausfallen konnte.

Manchmal durfte ich morgens zu ihr ins Bett. Sie erzählte mir wunderschöne Geschichten, meist Sagen aus der Umgebung. Oft musste sie mir die Geschichten von den Heinzelmännchen vom Hetschenhof erzählen. Eine Geschichte mochte ich besonders, sie berichtete von meiner Urgroßmutter, die ein Heinzelmännchen, das sich auf dem Kompost vor dem Haus vergnügte, mit heißem Fett verbrühte. Wütend soll das Männchen gerufen haben: "Du mi brennt, i dirs Haus anzend." Das Haus meiner Vorfahren sei am gleichen Tag bis auf die Grundmauern nieder gebrannt. Schauer liefen mir über den Rücken, wenn sie davon erzählte. Immer wieder bat ich: "Erzähl mir noch einmal die Geschichte von dem Feuermännle." Ich war immer in Sorge, dass niemand etwas Heißes verschütte, denn man konnte nie wissen, ob man ein Heinzelmännchen damit traf.
Ich denke, dass diese Wahlgroßmutter sich deshalb um mich kümmerte, weil mein 1 Jahr älterer Bruder und meine um ein Jahr jüngere Schwester unsere Mutter beschäftigten. Wenn die Angst bei Bombenangriffen im Keller zu groß war, kroch ich auf den Schoß der Fräulein Vögele, dort war mein sicherer Hort, hier konnte mir, so glaubte ich, nichts passieren. Die liebe Frau starb Anfang 1945. Ich habe sie lange Zeit sehr vermisst.

Die Evakuierung

Nach den Luftangriffen auf Stuttgart im Juli und September 1944 kamen fremde Leute in unser Dorf. Sie waren ausgebombt und evakuiert worden. Dieses Wort hörte ich zum ersten Mal. Bald sollte ich erfahren, was es bedeutete. Im Haus wurde es lebendig. Das Gästezimmer im ersten Stock unseres Hauses wurde zur Küche umgebaut. Wir vier Kinder mussten uns ein Zimmer teilen und genossen das sehr; allerdings bekamen wir notorisch wenig Schlaf und waren quengelig, weil nachts nicht schliefen, sondern Rollenspiele veranstalteten. In einer solchen Nacht bekamen auch wir Zuwachs. Die Frau und die beiden Kinder sehe ich noch heute vor mir. Sie trugen rote Zipfelmützen, freudig rief meine Schwester: "Es sind Mädchen, die können mit uns spielen." Am Morgen erfuhren wir, dass es Buben waren. Als die Frau die kleine Wohnung sah, fiel sie unserer Mutter um den Hals und weinte. Außer einem Koffer mit Kleidung hatte sie nichts mitgebracht. Der große Junge gefiel mir besonders gut, ich beschloss, ihn zu heiraten. Jürgen, so hieß er, war damit einverstanden. Das brachte mich in Schwierigkeiten, denn ich hatte schon einen Freier im Kindergarten, den Matti.
Unentschlossen fragte ich meinen Bruder: "Wen soll ich jetzt nehmen, den Jürgen oder den Matti. Meinen Bruder höre ich noch heute sagen: Behalt den Matti, dann weißt du, was du hast." Das stimmte, denn die Mutter von Matti schrieb Kinderbücher. Wenn meine große Schwester gut aufgelegt war, las sich uns daraus vor. Nachts im Keller wurde es eng, denn die neuen Mitbewohner brauchten Luftschutzräume.
Gegenüber zog ein altes Ehepaar ein, sie hatten einen Doppelnamen, das war für mich neu. Ich musste üben: "Weber Hedelfinger," sagte ich vor mich hin und versuchte mir den komplizierten Namen zu merken. Das waren liebe Menschen, sie waren im Alter unserer Amutter; die Frau buk Meringen und nähte neue Kleider für unsere Puppen. Das Nachbarhaus erschien mir nicht so groß und doch fanden viele Menschen darin eine Wohnung, es gab hinter dem Haus noch ein Gebäude, das mir bislang nicht aufgefallen war. Die Familie Schirk wohnte dort. Sie nahmen Pflegekinder auf, einen Jungen und ein Mädchen, das hieß Rosie. Es sprach eine seltsame Sprache und verstand uns nicht. Nur wenn wir sie fragten: "Wie heißt, du, antwortete sie: "Hosi," das fanden wir lustig, deshalb fragten wir sie dauernd nach ihrem Namen. Die Familie Gabriel fand dort eine Wohnung mit ihren Kindern Sigrid und Dieter. Aufgeregt lief ich in die Nachbarhäuser und wusste nicht, wen ich zuerst besuchen sollte.
Unser kleines Viertel war plötzlich groß und die vielen Kinder waren eine willkommene Abwechslung in unserem Alltag. Wir spielten wunderschön zusammen, alles hätte so schön sein können, wenn die Luftangriffe nicht dauernd in unser Leben eingebrochen wären. Unsere Mutter sammelte alle Kinder ein, mit dem makaberen Spruch auf den Lippen:

"Achtung, Achtung, Ende, Ende
über Stuttgart Kampfverbände,
in Kornwestheim schießt die Flak,
die Verbände hauen ab,

marschierten wir Kinder im Gänsemarsch in den Keller. Unsere Mutter zählte nach, ob wir alle da waren. Es war selbstverständlich, dass wir sofort auf unsere Plätze gingen und dort blieben, bis die Sirenen Entwarnung meldeten. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir im Keller etwas zu Essen oder Trinken hatten.

Unser Dorf wimmelte von fremden Menschen. Berühmte Menschen aus der Theaterwelt lebten unter uns. Die Frau des Schauspielers Albert Florath gefiel mir am besten, sie war schön, ihre lila gefärbten Haare gefielen versetzten mich in Erstaunen, sobald ich sie sah, blieb ich stehen und starrte sie an. Meine Mutter schalt mich: "Du sollst den Herrn Florath nicht so anstarren," sagte sie wütend, doch der interessierte mich nicht, ich wollte nur die Frau mit den lila Haaren sehen. Der Herr Apotheker, der Doktor, der Schulleiter, der Ortsgruppenleiter, alles was Rang und Namen im Dorf hatte, scharte sich um diese berühmten Leute. Nur mein Großvater hofierte sie nicht, deshalb kamen wir Kinder nicht in diese Kreise. Neues Leben veränderte das ganze Dorf. Vertrautes wurde Vergangenheit.

Bomben auf unser Dorf

Im Spätsommer 1944 fielen Bomben auf unser Dorf. Wir saßen im Keller und horchten auf die Tiefflieger, die mit orkanartigem Lärm über die Dächer hinwegflogen. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Das Haus zitterte nicht nur, es wackelte. Der nächste Knall folgte unmittelbar danach. Insgesamt sieben Bomben schlugen ganz in der Nähe von unserem Haus ein. Die Menschen im Keller saßen wie gelähmt auf ihren Plätzen und horchten. Die Zeit erschien mir endlos lang. "Ich spürte, dass mein Hals schmerzte, die Angst schnürte mir die Kehle zu. Endlich ertönte der ersehnte Klang der Sirenen; zur gleichen Zeit läutete die Kirchenglocke. Die Leute rannten aus dem Keller. Sie gingen nicht, wie das sonst üblich war, nach Hause, sondern standen diskutierend vor dem Haus. "Obwohl wir deutlich die Einschläge der Bomben gehört hatten, brannte es nirgends. "Es war am Marktplatz," sagte eine Frau. "Es brennen keine Häuser, irgendwo auf dem Feld ist es gewesen," sagte unser Nachbar. Aus anderen Kellern kamen Menschen hinzu. Lange wurde hin und her geredet, ergebnislos. Wir Kinder standen mit offenen Mündern dabei und horchten, was die Erwachsenen sagten. Unsere Mutter machte der Diskussion ein Ende: "Kinder kommt, gehen wir schlafen, heute Nacht werden wir nicht mehr erfahren, wohin die Bomben gefallen sind," rief sie, und wollte ins Haus. Plötzlich hörten wir energische Schritte auf der Straße, den Takt zu den dazu klopfte ein Spazierstock. Es war unser Großvater, er blieb vor uns stehen und sagte: "Die Bomben sind in der Nähe vom Oppenland eingeschlagen. Es gab nur Sachschaden. Geht schlafen, morgen wissen wir mehr. Nachdem er das gesagt hatte ging er weiter. Ich hatte Angst um ihn, denn ich wusste, mein Großvater würde ganz allein zu diesem Bauernhof gehen. Auch unsere Mutter wusste, wohin er ginge, denn sie sagte: "Es wird ihm nichts passieren, er kennt jeden Stein am Weg. Unser Großvater war Dorfältester, er musste hingehen und sich überzeugen, das die Menschen dort auf dem Hof wohlauf seien. Beruhigt gingen wir schlafen. Das wahre Ausmaß des Schreckens sahen wir erst am nächsten Morgen: Rund um das Oppenland waren tiefe Löcher in der Erde. Der Hof selbst bot einen schrecklichen Anblick.
Die Detonationswelle hatte das Dach abgedeckt. Die Fensterscheiben waren geborsten, gezackte Glasscherben steckten noch in den Rahmen. Mit unserer Mutter durften wir das Werk der Verwüstung anschauen. Wir waren erschrocken über diesen Anblick. Die Löcher leuchteten, der Stubensandstein mit seinem hellen rot und dem dunklen gelb, machte sie bunt. Dazwischen waren dunkle, bizarre Muster von Bombensplittern.

Wir standen schweigend davor. Die Splitter lagen überall, es waren gezackte Eisenfetzen; sie sehen gefährlich aus," sagte ich ängstlich. Unsere Mutter achtete sorgsam darauf, dass wir nicht hineintraten oder sie gar aufhoben. Mit strenger Stimme sagte sie: Ihr dürft nicht ohne mich hier her kommen, es ist sehr gefährlich hier." Wir hielten uns nicht an ihr Verbot. Meine Schwester Isa musste mich überall mit hinnehmen, wenn sie weg ging. So kam mir ihre Neugier zugute; es zog sie magisch zu den Bombentrichtern, wir waren oft dort. Auch den Hof schauten wir uns an. In Gemeinschaftsarbeit machten sich die wenigen im Dorf verbliebenen Handwerker daran, das Dach zu decken und die Fensterscheiben zu ersetzen. Die Eltern einer Kindergartenfreundin hatten Dachplatten auf ihrem Hof gelagert. Die wurden jetzt im Oppenland gebraucht. Wer hatte in diesen Zeiten Anspruch auf ein neues Dach? Die Kriegsgeschädigten. Niemand hatte daran glauben wollen, dass es unser Dorf hätte treffen können.

Klaus ist bedroht und Irmela ist tot

In der folgenden Zeit konnten wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass der Fliegeralarm angekündigt wurde. Oft flogen die Tiefflieger so schnell über das Dorf, dass uns niemand warnen konnte. Bauern, die auf ihren Feldern arbeiteten wurden beschossen. Ein Mal wurde ein Bauer getroffen, er war schwer verletzt. Dass nicht viel passierte war ein Wunder. An einem strahlenden Sommertag spielte mein Bruder auf der Wiese hinter unserem Haus als die Flieger auf das Dorf zurasten. Die Leute liefen so schnell sie konnten in den Keller. Als wir alle auf unseren Plätzen saßen, fehlte Klaus. Draußen dröhnten die Tiefflieger. Klaus kam nicht. Ich zitterte vor Angst. Weinend rief ich nach ihm, umsonst, niemand hörte mich. Ich kletterte von meinem Platz herunter und lief zu meiner Mutter. Die konnte nicht verstehen, was ich sagte. Ich brüllte ihr ins Ohr: "Wo ist Klaus, er ist nicht da?" Angstvoll horchte ich: Irgendwo draußen, ausgeliefert den heimtückischen Flugzeugen, musste er sein. Unsere Mutter wollte aus dem Keller rennen zu ihrem Kind. Mehrere Leute hielten sie fest, denn sie dachte nicht an die drohende Gefahr. Nachdem der Lärm verstummt war, rannten die Erwachsenen aus dem Haus, wir Kinder liefen schnell hinterher. "Klaus," riefen wir vielstimmig und warteten auf ein Lebenszeichen, es kam nicht. Wir schauten über die Hecke auf die Felder. Eine tote Kuh lag dort. Der Heuwagen stand auf der Wiese. Isa lief auf die Wiese um nachzusehen, ob er sich im Heu versteckt hatte. Da kletterte eine kleine Gestalt unter dem Heuwagen hervor, es war Klaus. Meine Mutter schloss ihn weinend in die Arme, ich heulte vor Erleichterung laut, Klaus lebte. Später erfuhren wir, dass er sich in letzter Sekunde in dieses Versteck geflüchtet hatte. "Dich haben tausend Engel heute beschützt," sagte unsere Mutter.
Für eine Verwandte von uns endete ein Angriff tödlich. Meine Schwester Isa machte in der Kreisstadt ein paar Tage Ferien. Sie kam völlig verstört zurück und berichtete, dass eine entfernte Cousine, Irmela, nach der Entwarnung aus dem Bunker hinausrannte. Vom Himmel fiel der leere Benzintank eines Flugzeugs und begrub das Kind unser sich. Nach diesem Vorfall achtete Isa darauf, dass alle Leute langsam den schützenden Bunker verließen. Sie musste ständig von dem Ereignis berichten, dabei weinte sie bitterlich. Oft sagte sie: "Es hätte mich treffen können, ich war die nächste, nach Irmela, die aus dem Keller ging." Es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigte. Das Wort verschüttet hörten wir öfter. Unser Nachbar, ein Bauer, hatte einen Knecht, der war auch verschüttet worden.
Der Krieg hat aus unserem friedlichen Dorf so manches Mal einen Hexenkessel gemacht.

Der Angriff auf Heilbronn

Der 4. Dezember 1944 ist ein Wendepunkt in meinem Leben und Denken. Bereits am Tage heulten die Sirenen. Während die Bombennächte zuvor Erinnerungsinseln sind, vergesse ich diese Nacht niemals, sie holte mich aus einer Traumwelt ins harte Leben. Meistens gab es nachts Luftalarm. Wir Kinder hatten im Keller Schlafplätze. Ein großes, breites Regal, das an der Wand stand und normalerweise der Vorratshaltung diente, wurde als der Schlafplatz der Kinder genutzt. Nur mein Bruder und ich schliefen auf der Kartoffelkiste. Eng aneinander geschmiegt verbrachten wir dort viele Nächte, wir gaben uns gegenseitig Halt und schliefen meistens trotz Flugzeugdröhnen ein. Tags saßen wir auf dem Schoß der Erwachsenen. In dieser denkwürdigen Nacht wurden wir nicht schlafen gelegt. Tiefflieger donnerten über das Haus und wir horchten auf ein dumpfes Grollen, das sich wie ein herannahendes Gewitter anhörte. Es war ein todbringendes Unwetter, die Stadt Heilbronn wurde total zerbombt, 6500 Menschen starben.
Erst mitten in der Nacht kam die Entwarnung. Wir stürzten ins Freie. Fassungslos standen wir zwischen den Erwachsenen in unserem Garten und starrten an den Himmel, gegen den sich eine riesige Feuersäule abhob. Die Angst der Erwachsenen übertrug sich auf mich. Eine Ahnung von dem Grauen, das sich dort in der Ferne abspielte überfiel mich. Wie lange wir so standen, weiß ich nicht. Es kam mir endlos vor, wie gelähmt schauten wir abwechselnd auf den Feuerpilz und auf den Himmel an dem helle Lichter zuckten. Nach dieser grausamen Nacht, wurde mir der Krieg mit seinem Grauen sehr bewusst.

Die Gefangenen im Feuerwehrhaus

Unbemerkt von uns, stürzte in dieser Nacht ein feindliches Flugzeug über unserem Dorf ab. Die Nachricht, dass im Feuerwehrhaus zwei Gefangene seien, verbreitete sich am anderen Tag in Windeseile. Menschen strömten in Richtung Dorfmitte. Auch ich ging mit meiner Schwester Isa hin. Aus dem ersten Stock des Hauses sahen wir hinter den vergitterten Fenstern zwei dunkle Gesichter. So etwas hatte es noch nie in unserem Dorf gegeben. Es war eine Sensation. Ich fürchtete mich vor den schwarzen Gesichtern und glaubte, sie seien verbrannt, denn ich hatte noch nie Farbige gesehen. Ein paar Frauen steckten Brot auf Mistgabeln und reichten sie hinauf. Jetzt sah ich, dass die Hände, welche nach dem Brot griffen schwarz und weiß aussahen. Ich staunte sehr, es bestärkte mich in der Annahme die Haut sei verbrannt.
Mich irritierte das Verhalten der Erwachsenen, warum gingen sie nicht durch die Türe und brachten den Männern Essen. Plötzlich wurde es still, der Herr Notar, er war der Ortsgruppenleiter, kam auf den Platz. Die Gabeln verschwanden und die Leute sprachen nicht mehr. Die Gesichter der Gefangenen verschwanden im Dunkeln. Eine eigenartige Spannung lag über der Szene, ich hatte Angst und rannte nach Hause. Dort erzählte ich der Großmutter Hägele, was ich gesehen hatte. Jetzt konnte ich fragen, warum die Erwachsenen sich so seltsam verhielten. Die Amutter erklärte mir geduldig, dass es verboten sei, Gefangen etwas zu schenken.
Am nächsten Tag wollten wir die Soldaten wieder besuchen. Mit meiner Schwester und meinem Bruder ging ich zum Feuerwehrhaus. Die Männer waren nicht mehr da, der Platz war leer. Still lag der Marktplatz in der Sonne. Später erfuhren wir, dass die Männer hingerichtet worden seien.


© Lili1999999