Anderland


Drei Tage war ich schon zu Gast bei meinen Freunden und wartete jede Nacht vergeblich auf den Schlaf. Er wollte nicht kommen. Ich lag im Bett und war hellwach, ein unheimliches Gefühl kroch in meinen Körper. Mir war als sei jemand im Zimmer, der mich erschrecken wollte. Eine böse Macht umgab mich wie eine Gewitterwolke und ich fühlte mich schutzlos ausgeliefert.
Zum Glück habe ich ein interessantes Buch mitgenommen, dachte ich - wenn ich lese schlafe ich immer ein - doch der ersehnte Schlaf kam nicht.
Die letzte Nacht, vor dem unverhofften Ereignis, durchwachte ich wieder und überlegte, was wohl die Ursache für dieses beklemmende Gefühl sei. Es befiel mich, wenn ich abends im Bett lag und verzog sich mit der Morgendämmerung.

Ich versuchte mich zu erinnern.

So hatte ich meinen Freund Einar und seine Frau Brigitte kennen gelernt: Der Mann war von seinen Nachbarn angezeigt worden. Sie bezichtigten ihn der Kindesmisshandlung, begangen an seiner jüngsten Tochter Hanne. Die Sozialarbeiterin des Jugendamts hatte ihn samt Frau und Kind zu mir geschickt, damit ich diesen Verdacht bestätige oder entkräfte. Nach sorgfältiger Untersuchung kam ich zu dem Schluss, dass dieser Mann kein Misshandler sei, er war mit seinen Kindern streng, doch aus seinen Worten über sie klang Stolz und Liebe und gewalttätig, so hatte ich den Eindruck, war er nicht. Die Frau war groß, hatte gebleichte Haare und war dünn, wie ein Strich. Anorexia nervosa, dachte ich und erschrak über ihr blasses Gesicht und die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie sah aus als sei sie lebendig tot.

Wenige Wochen nach Abschluss der Untersuchungen starb sie an Magersucht. Die Sozialarbeiterin schickte mir die kleine Hanne zur Trauerarbeit. Aus der langen Zusammenarbeit mit dem Vater, der seine drei Kinder allein erzog, entwickelte sich über die Jahre eine Freundschaft. Erst im Nachhinein erfuhr ich, dass Frau Brigitte nicht an Anorexie, sondern auch an Drogenabhängigkeit gestorben war.

Die Kinder hatten davon gewusst, der Vater war ahnungslos. Ihm war aufgefallen, dass seine Frau oft verlangsamt reagierte. Sie litt unter Migräne und musste häufig Tabletten einnehmen. Diese Medikamente, so hatte er gedacht, seien die Ursache für die gelegentlich schleppende Sprache und die langsamen Bewegungen, die er sehr wohl wahrgenommen hatte.

Erst nach langer Zeit fasste Hanne Vertrauen und erzählte mir, dass ihre Mutter sie im Drogenrausch brutal misshandelt hatte. Diese Geschichte liegt viele Jahre zurück. Die Kinder sind inzwischen verheiratet und haben selbst Familien.

In diesem Jahr lud Einar mich ein, Weihnachten und den Jahreswechsel bei ihm und seinen Angehörigen zu verbringen. Er hatte, nachdem die Kinder groß waren, wieder geheiratet und wollte mir seine Frau vorstellen. So kam ich hierher und handelte mir schlaflose Nächte und hässliche Nacht-Gedanken ein. Obwohl die Tage in Harmonie verliefen, konnte ich nachts nicht schlafen. Im Gästezimmer, das ich allein bewohnte, war eine Atmosphäre, die ich nicht beschreiben konnte. Die Wut eines anderen Wesens und sein Hass schienen mich zu verfolgen. Nach drei Tagen fragte ich Einar: "War das Zimmer in dem ich schlafe, schon immer Euer Gästezimmer?" Ich bekam zur Antwort: "Das war während meiner ersten Ehe unser Schlafzimmer," und seine Frau ergänzte: "Ich wollte in dieses Zimmer nicht bewohnen, deshalb schlafen wir in der oberen Etage."
Das konnte ich gut verstehen. Der Spirit dieser Frau ist es, der mich nicht schlafen lässt, dachte ich. Vielleicht hasst sie mich, weil ich nach ihrem Tod in der Therapie mit Hanne ihre Drogensucht und die Kindesmisshandlung aufgedeckt habe? Konnte sie dort in der anderen Welt keine Ruhe finden, weil sie schuldig an ihrem Kind geworden war? Hatte sie, wie ich vermutete, Selbstmord durch Tablettenabusus begangen? Ich bekam Angst und wollte nur noch weg aus diesem Haus und aus dem Zimmer, in dem der Geist der Frau Brigitte zu wohnen schien.

Ich suchte nach einem Grund, der es mir erlaubte, abzureisen.

Doch dann kam alles anders. Ich bekam in der nächsten Nacht Zahnschmerzen und am anderen Morgen fuhr mich Einar zum Zahnarzt. Meine Knie schlotterten und ich schwitzte, denn nichts fürchte ich mehr als den Zahnklempner. "Die Wurzel ist total vereitert, den Zahn muss ich ziehen, es bleibt keine Wahl," sagte er und zitternd erwartete ich den Einstich in das Zahnfleisch. "Wenn es nicht anders geht", sagte ich ergeben. Die Spritze wurde gesetzt und danach wurde es dunkel um mich.

Niemand konnte mich mehr erreichen, jemand hatte mich erlöst von den hässlichen Nachtgedanken, vom Zahnarzt und von der Suche nach einer Ausrede. Ich erwachte in einer anderen Welt. Dort war Frieden und ich spürte die Ruhe, aus der ich gekommen bin und in die ich dereinst gehen werde. Ich sah die Weltenuhr: Auf dem Zifferblatt standen auch mein Name und eine Zahl, doch ich konnte sie nicht erkennen. Die Sterbezeiten meiner Angehörigen und Freunde leuchteten mir hell entgegen.

Ich suchte nach dem Namen der Frau Brigitte und konnte ihn nicht finden. Sie ist in einer Zwischenwelt, dachte ich, also ist sie noch nicht hier angekommen, etwas hält sie zurück. Die Uhr verschwand und es war ein unbeschreiblicher Friede um mich. Ich spürte Menschen, die mir nahe standen und wünschte mir, dass ich nie wieder in meine Erdenheimat zurückkehren müsse. Nie mehr wollte ich mich dort voll Freude niederlassen, keine Hütten für die Zukunft mehr bauen und nicht auf Dinge warten, die noch kommen, denn ich war im Paradies.

Anderland war voll von Frieden, ich wurde still. Es hatte weder Paläste, noch Kirchen, noch Häuser, noch Wohnungen, ja nicht einmal ein kleines Zimmer. Die Unendlichkeit war dort zuhause. Dies Land war grenzenlos es gab keinen Anfang und kein Ende. Ein unbeschreiblich sanftes Licht schien mir und ich dachte: Das ist Nirwana. Es schien keinen Hass zu geben, keine Wut, keine Angst aber auch keine Liebe und kein Glück. Dieses Empfinden breitete sich in mir aus und ließ mich Raum und Zeit vergessen.

Die fremde Welt machte mir keine Angst, ich flog durch unendliche Zeiten. Zuerst dachte ich: jetzt bin ich eine Hexe, die mit ihrem Besen von Äonen zu Äonen fliegt. Voll Freude war mein Herz und das Glück schien mir zu winken.

Während ich so flog, hörte ich ein liebliches Glockengeläut, es klang wie Musik und umschloss mich, als ob tausend zärtliche Arme sich um mich legten.
Wen spürte ich da? Meinen Partner? Waren es die kleinen Ärmchen meiner Tochter, die mich berührten? Sie ist rein, dachte ich, denn sie wurde geboren, um zu sterben. Ist Anderland der Ort, an dem meine Mutter wohnt? Bruder, Schwester, Freundin, Freund - ich fühlte Eure Nähe und doch wart ihr weit weg.

Partner, dein Bild tauchte aus dem Nichts auf und du warst mir nah. Ich wollte dich fragen, warum du es getan hast, du bist nie schwach gewesen, hast die Fülle aus dem Horn genommen und genossen und dann bist du einfach gegangen ohne Abschied. Nimm mich in deine Arme, gib mir eine Antwort. Ich konnte dich deutlich sehen, du trugst den blauen Pullover, den ich dir zu deinem letzten Geburtstag gestrickt hatte.

Du konntest nicht mit mir sprechen, mich nicht umarmen, ich wußte es, denn ich war Materie und du? Ein Geistwesen? Du hattest mein Geschenk mitgenommen und das machte mich glücklich und du bist in Anderland im Frieden. Plötzlich wußte ich: Du wähltest den Freitod, weil du schwer krank gewesen warst und mich mit deinem Siechtum nicht belasten wolltest. Langsam rückte dein Bild fern und ferner, dann war es fort. Voll Dankbarkeit betete ich: "Danke lieber Gott, dass du ihn in Anderland eingelassen hast."

Eine neue Gestalt erschien mir: "Großmutter!" rief ich, "wie lange bist du schon hier, liebe gute Oma, bei dir war die Geborgenheit zuhause, du hast dich um mich gesorgt als ich ein kleines Kind war, hast mir Geschichten erzählt, mich gestreichelt und liebkost!". Ich sah sie und in mir war der Kinderfriede von einst und ich hörte sie sprechen. Sie fragte mich: "Warum willst du nicht warten, bis die Zeit reif ist? Warum denkst du so oft daran, dein Leben zu zerstören?" "Ihr habt mich so allein auf der Erde zurück gelassen ich möchte nach Hause hierher zu euch, ich fühle mich so schwach und so einsam ohne euch." "Du bist eine starke Frau und du warst nie schwach, deshalb wirst du leben, nur dann darfst du wieder kommen", sagte die Stimme und dann verlor sie sich.

Die Gestalt eines fremden Mannes tauchte schemenhaft aus dem Nichts auf und ich fragte: "Wer bist du? Ich kenne dich nicht." Ich hörte jemanden sagen: "Es ist dein Vater." Ich hatte viele Fragen an ihn: "27 Jahre warst du jung, als du im Krieg gefallen bist. Sag mir, wie bist du gestorben? Ist es schnell vorbei gewesen, hattest du Schmerzen?" Das Gesicht war sonderbar leer, es gab keine Beziehungsbrücke zwischen ihm und mir, denn ich hatte ihn auf Erden nie gesehen. Nun zeigte er sich in Anderland und nahm seinen Platz in mir ein. Auch seine Gestalt verschwand und ließ mich allein mit der Ruhe und der Stille.

Hier wollte ich bleiben in diesem stillen Frieden, hier, wo es keine Wünsche und keine Sehnsucht gab, bei all meinen Lieben. Nie mehr wollte ich zurückkehren auf die Erde, hier war ich frei, sah das warme Licht und spürte den unendlichen Frieden. Drei Tage durfte ich bleiben, danach rückte Anderland mit seinen Bildern langsam in die Ferne, die Erde nahm mich wieder auf.

Aus weiter Ferne hörte ich meinen Namen, diese Stimme klang lebendig, sie forderte, sie bat, sie rief: "Komm zurück!" Ich wollte nicht wieder auf die Erde.

Eine Uhr schlug 12 Mal, es war Mitternacht. Schrecklich, dachte ich, diese Chronometer, messen mir die Zeit zu, die ich noch leben soll.

"Wir haben es geschafft, sie lebt," rief die Stimme. Sie hallte laut und tat mir weh.

Von einer langen Reise zurückgekehrt erwachte ich in einem sterilen Zimmer in einem fremden Bett. Eine Schwester bastelte an einem Tropf herum. "Welchen Tag haben wir heute," fragte ich.

Sie lachte und sagte: "Alles Gute, Sie sind rechtzeitig aufgewacht, um das neue Jahr zu begrüßen, ich wünsche Ihnen, dass Sie nie wieder in einen allergischen Schockzustand geraten und noch lange leben." Ich lächelte zurück und dachte: Wenn sie wüsste, wie schön es war in Anderland, wo der Frieden wohnt, der die Erde längst verlassen hat.

Nach wenigen Tagen kehrte ich zu meinen Freunden zurück und schlief wieder in dem Zimmer und das seltsame Gefühl war fort. Nichts konnte mich mehr schrecken, ich habe viel Ruhe mitgebracht. Wenn der Geist der Frau Brigitte noch hier war, so erreichte er mich nicht mehr. Der Gedanke an ihren grausamen Tod ängstigt mich nicht mehr und wenn mein Leben zu Ende geht, wird auf der Weltenuhr, die ich gesehen habe, meine Stunde hell leuchten. Dann werde ich mich voll Zuversicht auf den Weg machen in die unendliche Stille von Anderland.


© Lili1999999