Das Geheimnis des verzauberten Waldes
Das Grüne überwältigt
mit all seinen endlosen Zwischentönen alle andere Farben; Ockerstreifen winden
sich durch das Grüne, gelbe, weiße und violette Flecken schmücken das Licht-Schatten-Spiel
der Baumstämme, der kleinen Hänge und der vielfältigen Moosebenen.
Der Mikrokosmos des Waldes bietet ein magisches Spektakel von endlosen Bühnen,
in denen Formen, Gestalten und Lebewesen tägliche unbekannte Aufführungen veranstalten,
im perfekten Einklang mit der Natur, den genauen Gesetzen der Natur unterworfen,
mit der Faszination der Natur und mit der Magie der alten Mythen. Stelle man
sich vor, diese unscheinbare Welt des Waldbodens mit den Augen einer Ameisen
zu betrachten: Dann würden Gräser, winzige Pflanzen, getrocknete Tannennadeln
und springende Grasfrösche wie Riesen aussehen, so eine Art Gulliver-Universum,
in dem jedes fallende Laubblatt den Lärm eines Erdbebens verursacht.
Wenn man sich aber in einen Adler verwandeln könnte, der hoch über die Baumspitzen
seine geduldige Kreise dreht, dann würde man aus der Vogelperspektive das rege
Leben der oberen Stöcke des Waldes genau beobachten können, mit all den Schwingungen
des Windes, mit den Sprüngen der Eichhörnchen und mit dem Rauschen der jungen
Zweigen.
Eigentlich läuft der Mensch durch den Wald und sieht selten, was es am Rande
der Fußwege gibt oder was oberhalb seines Kopfes geschieht; die schnelle Welt,
in der wir leben, verwandelte den Wald in eine der vielen Choreographien für
die Freizeitbeschäftigung, reduzierte ihn zu etwas, das eine Erweiterung des
Alltags darstellt, eine Art Erwachsenenspielplatz für einige der Trends, die
unsere moderne hoch technologisierte Gesellschaft plagen.
"Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer
Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf ein Mal sich zu
bewegen und verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich
an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter
zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte".
Das schrieb Novalis in Bezug auf
die Wunderblumen die oft in vielen deutschen Volkssagen vorkommen. Ihnen schrieb
man Zauberkräfte zu, nannte sie teilweise "Hexenpflanzen" und war davon überzeugt,
dass sie eine Seele hatten. Heute spricht man von "Heilpflanzen", man listet
ihre Eigenschaften wissenschaftlich auf und den Zauber der Geister der Natur
schloss man in die Kiste des Aberglaubens.
Blumen pflückt man immer noch, denn es gehört zu einer unzertrennlichen Handlung
zwischen ihnen und dem Mensch; eine gelbe Blume hier, eine rote Blume da, die
zarten Glöckchen noch dazu und die wunderschöne Türkenbund - sie ist zwar vollkommen
geschützt...aber mein Gott, eines einzelnen Stücks wegen! -. Dann wird aber
der Strauss in der Hand zu groß, es ist ungemütlich ihn zu tragen, die Finger
schwitzen und die zärtliche Schönheit fällt der Bequemlichkeit zum Opfer: Die
Blumen werden somit irgendwo abgestellt , meistens am Rande des Fußweges, auf
einen Stein, als Andenken für den Tod von 25 Ameisen.
Jemand meinte: " Ich habe dir keine Blume geschenkt, um ihr zu ermöglichen,
dass sie weiter lebt". Für viele handelt es sich sicherlich um eine spätromantische
Dichtung, die vielleicht ein kurzes Lächeln verursacht, aber sie birgt doch
eine kleine Wahrheit, welche eine der unzähligen Ausnützungstaten des Menschen
der Natur gegenüber aufdeckt.
Der Wald ist ein magisches Wunder an sich. Allein die Vielfalt der Flora und
der Fauna und die darüber hinaus folgenden Interaktionen überraschen und faszinieren
immer wieder. Ein Spinnennetz in dem gedämmten Morgenlicht, als die winzigen
Tropfen des nächtlichen Taus es in ein glitzerndes Seidengewebe verwandeln,
ist ein anziehendes Naturbild, dessen Charme fast unwiderstehlich ist. Selbst
die Farben des Waldes sind zauberhaft: Die Farben sagen, die Lauten sehen. Es
ist kein Paradox, da schon 1991 die Russin Unkowskij die Weise erfand, die Musik
der Farben der Natur zu "übersetzen". Jede Farbe in dem Wald hat einen spirituellen
Duft und eine musikalische Qualität. Das Gelbe von Flechten, Rinden und Pilzen
ist voll von Lust und Energie, das Grüne erinnert an die ruhigen Töne einer
Geige, äußert eine tiefe innere Ruhe als Gegensatz zum Roten; dieses findet
man wenn leuchtende Pilze zwischen Farnen hinausblicken und ist sehr unruhig.
Das Graue ist fast transparent und stellt eine geheimnisvolle Hoffnung dar,
das Schwarze ist eine ewige Stille. Dann das Weiße, oder die Jugend des Nichts,
das Nichts vor dem Ursprung. Die Farben des Waldes vibrieren und in ihren Essenzen
sind sie eine Melodie. Goethe sagte, dass die Materie "eingefrorene Musik" sei,
die antiken Völker betrachteten Materie und Licht als "sekundäre Aspekte der
Lauten". Farbe ist aber auch Energie, wenn man sie überhaupt wahrnimmt. Wie
viele Farben hat der Wald? Die Geometrie der Natur scheint keine Grenzen zu
kennen und mischt Farben und Gestalten, welche das bloße Auge sehr oft gar nicht
erfassen kann. Die Farbflecken von manchen auf den ersten Blick fast unscheinbaren
Blüten bergen ein Universum von fabelhaften Bildern, und die winzigen Flügeln
zahlreicher Insekten stellen einzigartige Kompositionen dar, weit über die Vorstellungen
der menschlichen Imagination. Manchmal kann eine gelbe Blume, eine blaue Flechtenzeichnung
auf einem uralten Stein oder ein vibrierendes rote Blatt uns doch ermöglichen,
uns in das Leben zu verlieben. Die bizarren Strukturen von Moos- und Farnarten
bilden kleine Wälder im Wald und erinnern oft an Krippenlandschaften mit Höhlen,
Grotten, Hügelchen und leuchtende Lichtungen. Sogar die Äste und Zweige von
Sträuchern und Bäumen, welche man den Bächen entlang zwischen Steinen und Wurzeln
findet, stellen abstakte Kompositionen von surrealistischen Bildern dar. Der
Wald kann als ein kompliziertes lebende Kunstwerk interpretiert werden: Die
Wechselbeziehung zwischen Pflanzen und Insekten beeinflusste und beeinflusst
immer noch die Entwicklung der beiden Arten. Die Farben der Blüten, ihre Düfte
und sogar ihre Formen wirken verführerisch auf die kleinen Flieger, welche die
Fähigkeit haben, ihre ultravioletten Bereiche wahrzunehmen; dazu profitieren
sie vom Nektar, kümmern sich um den Pollentransport und garantieren somit das
Entstehen neuer Vegetation. Eine ästhetische Betrachtung des Phänomens "Wald"
öffnet die Tore eines Universums, welches aus dem Zauberstab eines Merlin entstanden
zu sein scheint. Mythos und Magie entflammen neu wenn man dem Wald mit einer
guten Portion Phantasie begegnet und sich mit den Träumen des Unmöglichen vertraut
macht. Märchen und Sagen nehmen somit wieder Gestalt an, die Zauberkraft der
Pflanzen entfaltet sich und Hexen, Elfen, Kobolde, Fabeltiere und Zwerge tauchen
aus dem Nichts auf und offenbaren die verborgenen Schätze, die keiner mehr sieht.
Der italienische Schriftsteller
Dino Buzzati schrieb einen kleinen merkwürdigen
Roman mit dem Titel "Das Geheimnis des alten Waldes" in dem es nicht nur um
den Kampf zwischen Mensch und Natur geht, sondern hauptsächlich um die Magie
eines verzauberten Waldes, in dem Baumgeister leben.
Eines Nachts zählte Procolo fünfzehn verschiedene Geräusche auf: Hin und
wieder ein undeutliches, tiefes Donnern, das wie ein Beben aus dem Boden zu
dröhnen schien, das Rauschen der Blätter, das Knistern der Äste im Wind, das
Rascheln des getrockneten Laubes, das Fallen von Blätter und Zapfen, ein weit
entferntes Murmeln von Bächen, der Flügelschlag eines großen Vogels, das Rascheln
der Säugetiere die durch den Wald strichen, das Klopfen und Nagen von Insekten
an den Baumstämmen, das Summen von Mücken, das Herumstreichen einer Blindschleiche,
der Ruf eines Kauzes, der Gesang der Grillen, das Geheule unbekannter Tiere
und ein mysteriöses Kreischen.
Besonders interessant scheint das letzte Geräusch zu sein, einfach weil es vielleicht
gar nicht zur Realität gehört: ein Tanz von
Hexen
vielleicht? Oder von Dämonen in Menschengestalt, von zauberischen Menschen?
Ein einsames und eine goldhaarige Fee?
Es gibt ein bisher kaum erforschtes Phänomen, welches in jedem Wald, in jeder
Schlucht, auf Weiden und in Mooren auftritt: Tiere und Pflanzen zeigen eine
außerordentliche Lebendigkeit, wenn sie in Gesellschaft von Kindern sind, und
ihre Ausdrucksfähigkeit entwickelt sich so sehr, dass sie richtiggehende Unterhaltungen
führen können. Leider schon die Anwesenheit eines einzigen Erwachsenen bricht
dieser Zauber.
Tatsächlich können Kinder die geheimnisvollen Botschaften des Waldes besser
aufnehmen, da sie in der Lage sind hinter der Gestalt der reellen Dinge auch
in die Welt der Träume zu blicken. Man erzählt, dass in gewissen klaren Vollmondnächten
im Wald Feste stattfinden. Es ist zwar nicht möglich, genau festzustellen wann,
und es gibt auch keine ersichtlichen Hinweise, die diese vorankündigen. Man
spürt es durch irgend etwas Besonderes, das bei diesen Gelegenheiten in der
Luft liegt. Viele Menschen, die Mehrzahl sogar, bemerken es nie. Andere hingegen
fühlen es sofort, doch lässt sich's nicht erlernen. Es ist eigentlich eine Sache
der Feinfühligkeit: Einige besitzen diese von Natur aus, andere werden sie nie
haben und werden in jenen freudigen Nächten gleichmütig am dunklen Wald
vorbeigehen, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, was da drinnen vor sich
geht.
Der "Gelbe Klang" von Kandinsky hatte den Zweck, den Mensch zu mehr Innerlichkeit
zu bewegen, und der grüne Wald kann vielleicht doch dem Mensch die verlorene
Naturempfindung wiedergeben. Wenn er es will.
(Dr. Gianni Lorenzo Lercari ©)