Die Hügel der tausend Türme


Auf jedem Hügel gibt es Weinreben und jede Weinrebe birgt einen noblen Nektar. Rundum das Land der Kämme - "Langhe" bedeutet nämlich etwas wie Spitze oder dünne Fiale -, die weiche Landschaft mit den magischen Toren, hinter denen wahre Schätze zu finden sind. Cesare Pavese liebte diesen Teil Piemonts sehr und schilderte oft mit poetischen Versen und tiefen Sehnsüchten die Eigenschaften seiner Bewohner, die Geheimnisse seiner Sagen und Legenden, die Schönheit und die Einsamkeit seiner zahllosen Burgen und die mühsame Geschichte der edlen Tropfen, welche hier produziert werden.
Das Gebiet der "Langhe" erstreckt sich südwestlich von Monferrato bis zu den ligurischen Alpen und besteht überwiegend aus Hügeln zwischen 400 und 800 m, welche in Form von gewundenen Ketten das Panorama prägen. Teils wild und teils Kunstwerk der Rebekultur ist es ein Land von bizarrer und tiefgründiger Mühsal; die Menschen spielen und träumen, wagen und besitzen viel Geduld. Die berühmten Reben tragen Früchte nach drei Jahren, man baut sie mit Hoffnung und viel Anstrengung an, auch wenn heute die Technologie sehr hilfreich ist; aber es kann hageln oder der Jahrgang kann schlecht sein, und dazu wird der Markt immer schwieriger. Beharrlichkeit ist die Devise, und diese ist ein Erbe der Vergangenheit, als Dolcetto, Barbera oder Nebbiolo noch nicht so berühmt waren wie sie heute sind.

Ausdauer betrifft ebenso einen anderen verborgenen Schatz dieser Gegend, und zwar den Trüffel. "Suche, suche, suche, grabe, grabe, grabe, schnüffele, schnüffele, schnüffele…" Gefunden? Der "Tuber magnatum" oder der weiße Trüffel von Alba befindet sich im Boden zwischen Wurzeln von Bäumen - er ist nämlich der typische Schmarotzer, stinkt nach Schweiß, aber - man kann damit reich werden - und für seine Entdeckung werden speziell ausgebildete Hunde eingesetzt. (Ursprünglich war dies die Aufgabe von weiblichen Schweinen, aber heute sind sie leider schwierig abzurichten). Alba ist das Zentrum dieses merkwürdigen Naturproduktes zwischen Pilz und Kartoffel, und während der jährlichen Messe im Oktober sieht man Käufer, die an zahlreichen Versteigerungen teilnehmen und die bereit sind, Preise bis zu 2 500 Euro pro Kilo für das "Langhe-Gold" zu bezahlen.
Seine Geschichte fing ca. vor 4000 Jahren mit dem Patriarchen Jakob an, erreichte dann die römische Welt, als der Trüffel von Plinius als "Kallus der Erde" bezeichnet wurde, und geriet dann in die Vergessenheit der dunklen Jahrhunderte, von der typischen Amnesie begleitet, die über alles, was teuflische Eigenschaften haben könnte, fiel. Sein "Wiederentdecker" war ein Arzt aus dem "Langhe-Gebiet", Dr. Ciccarelli, der ein ausführliches wissenschaftliches Werk darüber schrieb und sein Leben am Galgen beendete. (Ob des Trüffels wegen, das weiß man nicht.) Jedenfalls konnte sich dadurch diese "stinkende Kartoffel" den eigenen erfolgreichen Weg bahnen, auch auf Grund des beharrlichen Einsatzes des Herrn Giacomo Morra. Er verstand nämlich die alte Diplomatie der Herzöge von Savoyen wieder zu beleben und neu zu formulieren: Er fing an, Trüffel an bekannte Persönlichkeiten aus aller Welt zu schicken (Marilyn Monroe, Truman, Chruschtschow und Hitchcock sind nur einige Beispiele) und besiegelte damit den unaufhaltsamen Erfolg der Knolle, die eine so große Anziehungskraft auf Schweine ausübt.
Manche meinen, dass die Langhe in der Früh am Schönsten sind: Ein leichtes hellblaues Licht umhüllt die endlosen Kämme, die immer undeutlicher im Horizont verschwinden, und in dieser geheimnisvollen Atmosphäre haben alle Phantasien und Legenden freies Geleit. In den Morgenstunden ragt eine Unzahl von kargen eckigen, runden, dicken und dünnen Türmen wie eine Kongregation von Gespenstern in den Himmel, eine Apotheose von Gerüchen füllt die Umgebung, und die Gestalten von Marquisen, Grafen, Königen und fabelhaften Wesen leben wieder in den Schlössern, welche einst Spielbühne ihrer glücklichen oder unglücklichen Existenzen waren.
Die Dramatik hat in den Langhen aber keine klassischen Wurzeln und alles wurde sozusagen entmythologisiert mit dem geschickten Einsetzen der Ironie und der Entweihung; ein typischer Fall dieses besonderen Erlebens von nicht immer glorreichen Traditionen ist "Palio, der Esel" in Alba. Ein historisches Drama von Damen und Rittern, von verstorbenen Helden und Heiligen im Zwielicht wurde in eine Farse verwandelt: Daher bestreiten diesen Wettbewerb keine Pferde, sondern Esel. Es ist tatsächlich unbestritten, dass der Esel hartköpfig ist und tut, was er will; ob der Erste wirklich gewinnt, das ist Sache des Schicksals, ebenso ob er mit oder ohne Jockei das Ziel erreicht; alles wird kurzerhand dem Esel überlassen, mit dem Hintergedanken, dass blutige Auseinandersetzungen, sinnlose Kriege, Kämpfe und Rivalitäten um die Macht im Namen Gottes so dumm waren wie das Verhalten eines dickköpfigen Esels.

Für viele Menschen sind die "Langhe" ein "Land der Düfte", in dem Gegensätze doch einen gemeinsamen Weg finden. Wenn die Trüffel sehr intensiv sind - vielen Einwohnern ist ihr Geruch so zuwider, dass oft der Verursacher dieses "Gestankes" nicht auf offenen Wagen transportiert werden darf - ist das Aroma der Weinreben sehr mild und berauschend. Sonne und Wind stehlen somit die Seele der Trauben und schenken dem begeisterten Menschen ihren wundervollen Geist. Schmeichelnd wirkt der Duft der Fondues, aber aggressiv und voll der der "Bagna Caoda" (warme Trunksauce, Rezept s. unten), weich und einladend der des Käses, und pricklend der der Polenta mit saftigen Schweinswürsten. Solche Düfte inspirierten berühmte Schriftsteller wie Arpino, Monti oder Fenoglio, bezaubernde Texte für das Wohl der Intellektualität ins Leben zu rufen, und gleichzeitig spornten sie die neuen Tempelritter der modernen Zeit an, aus vergessenen Traditionen, Geschichten von Elfen und fliegenden Nussbäumen erfolgreiche Produkte zu kommerzialisieren. Daher erfanden die verschiedenen Ferrero, Miroglio oder Stroppiana die gegenwärtige Gestalt dieses Gebietes und verwandelten romantische Hügel in "Slow-food-Goldgruben". Ebenso ersetzten junge Schöpfer die alten Dynastien des Bacchus-Nektars mit nunmehr einem dünnen Hauch der Savoyen-Noblesse und bauten aus den ursprünglichen Schlössern imaginäre: Von Covone bis Serralunga transformierten diese ihre jahrhundertelange Würde in exklusive Hotels für die oberen 10 000 - und wurden die neuen Gurus der Weinbaukunde: Gajas, Mascarellos, Altares und die anderen, die ihr Glück jenseits des Atlantik fanden.
Barolo und Barbaresco sind die Diamanten des Weinimperiums; der eine ist herb und kraftvoll und der andere rund und weich, sozusagen einer das Gegenstück des anderen. Beide verdanken allerdings ihre Alterungsfähigkeit der Nebbiolo-Traube, obwohl die Ansichten der Erzeuger bei der Frage auseinander gehen, ob die Lagerung auf traditionelle Art im Fass oder in der Flasche vorgenommen werden soll. Angeblich sollte letzteres Verfahren zu einem leichteren Wein führen, der seinen Höhepunkt früher erreicht; um sich von dieser Annahme zu überzeugen oder sie zu widerlegen sollte man persönlich von Keller zu Keller wandern und, wie im Altertum die Götter taten, voll Genuss jedes Tröpfchen kosten.
Nun, das leibliche Wohl kann sogar wählen: Manche mögen das Einfache, andere das Prunkvolle. Die Langhe bieten beides: Einerseits das "ciabot" oder die "Werkzeughütte" mit ursprünglichen Möbeln aus der Bauernkultur und einem echten lustigen Ambiente (die meisten Restaurantbesitzer verfügen über eine Art Selbstironie und bezeichnen sich als "Hühnerdiebe" oder "Drei Musketiere"); andererseits den Weg auf den Spuren historischer Ereignisse, vom Schloss Grinzane Cavour - ohne den Graf Camillo Benso Comte de Cavour wäre der politische Werdegang Italiens viel, viel langsamer gewesen… wäre er ? - bis zum Real Castello in Verduno, ein echtes Vergnügen für Königsmenüs mit Geschirr mit Wappen, mit Kaminen, bemalten Türen und geheimnisvollen kleinen Räumen für romantische Augenblicke.
Zwischen so vielen Leckerbissen hört man plötzlich einen Schrei: Jeder ist erstaunt und überrascht, als die Seele rebelliert und nach Natur, Kunst, Magie und einem Hauch von pindarischen Flügen verlangt.
Die Langhe öffnen, ohne eine Miene zu verziehen, das Buch der Träume und - voila, durch einen geflüsterten Zauberspruch tauchen Gestalten alter Legenden auf, romanische, gotische und barocke Architektur, Pinakotheken, Reichtümer, Wunder und eine entzückende Landschaft; und über dies wehen die tiefen melancholischen Gesänge der Künstler, die ihre Heimat gelebt, geliebt und mit vollem Herzen wiedergegeben haben, in den leichten zerbrechlichen Tönen der blauen Morgendämmerung.


(Dr. Gianni Lorenzo Lercari ©)