Sardinien zur Zeit der Nuraghen


Die Kultur der Nuraghen kann in Sardinien um 1500 v.Ch. festgestellt werden. Jedoch ist es nicht die erste kulturelle Form auf der Insel.
Tatsächlich fängt ihre Vorgeschichte bereits 6000 v.Ch. an. Die ersten Einwohner, die Protosarden, eine verschiedenartige Bevölkerung von spanischen, afrikanischen und korsischen Gruppen, brachten eine Reihe von Lebensformen mit, die vor der nuraghischen Kultur existierten und verschiedene genaue Kennzeichen hatten. Ursprünglich, mit der Kultur der Bonuighinu, dann mit jener der Ozieri, war das sardische Volk friedlich, da es auf einer bäuerlichen Wirtschaftsform begründet war. Die Ozieri verbreiteten auf ganz Sardinien den Götterkult, die Art der Totenbestattung und die Dorfsiedlungen.
Erst mit der Kultur von Monte Claro und jener von Abealzu-Filigosa wandelte sich die bäuerliche Gesellschaft in eine kriegerische, die strikt hierarchisch organisiert war und deren Wirtschaft auf die Erzeugung von Waffen gerichtet wurde.
Der Totenkult war mit der Architektur der Gräber verbunden, sei es nur mit der Eigenheit des Primitivismus wie jener der vorsardischen Zeit.
Anfänglich wurden als Bestattungsort Höhlen verwendet, in der Folge grub man Grotten, sogenannte "domus de janas" (Häuser der Feen); uralte Traditionen erzählen nämlich, dass in solchen "Häusern" Feen wohnten, die mit goldenen Webstühlen Stoffe aus purem Gold webten. In manchen Fällen aber spricht man von bösen Hexen, welche wie verrückt die Wände der Kammer mit ihren langen Nägeln kratzten.
Eine der bekanntesten "domus de janas" wurde auf dem Elefantenfelsen bei Castelsardo ausgegraben.
Um 2000 v.Ch., an der Schwelle der großen Kultur der Nuraghen, sind die Dolmen anzusetzen, Konstruktionen aus riesigen Felsplatten, die im rechten Winkel auf Steinwände positioniert wurden.
Einen besonderen Fall stellt die Kultur von Arzachena, gleichzeitig mit der ozierischen, dar, in der die Toten in Kreisgräbern bestattet wurden.
Die Nuraghen sind ein Symbol und charakteristisch für die gleichnamige Kultur. In der alten Sprache der Sarden, bevor die Insel teilweise von den Römern besetzt wurde, bezeichnete das Wort "Nuraghe" einen Haufen von Steinen oder eine Höhle.
Jeder "Haufen" wurde nämlich nach zyklopischer Art erbaut, mit konzentrischen Steinringen, die sich gegenseitig ohne Mörtel stützten, aufeinander gelegt. Sie hatten die Form eines abgeschnittenen Kegels, mit einem gewölbten oberen Rand der manchmal mit Zinnen versehen wurde.
Die Archäologen rätselten jahrzehntelang über die eigentliche Funktion der Nuraghen: Sollten sie als Behausung, Grabstätte oder Befestigung interpretiert werden?
Mittlerweile sind gleichsam alle Forscher der Meinung, dass sie als befestigte Wohnstätte, Sitze der Macht und Zufluchtsorte vor den Feinden errichtet worden sind.
Die nuraghische Kultur entwickelte sich von 1500 bis ca. 550 v.Ch. mit dem Höhepunkt etwa um 1100. Es ist interessant festzustellen, wie diese Kultur sich in gleichförmiger Weise auf der ganzen Insel verbreitete, indem sie die Voraussetzungen für diese Einheit schuf.
Es möge genügen daran zu erinnern, dass heute mehr als 7000 Monumente über das sardische Land verstreut sind. Unter den wichtigsten sind Barumini und Torralba.
Die Ansammlung von Nuraghen in Barumini ist 1950 entdeckt worden. Sie umfasst ein echtes Kastell von riesigem Ausmaß eines Dorfes. In der Volkssprache heißt es "Su Nuraxi" . Es ist mehrfach gelappt mit drei Hauptkreisen: dem Turm, einer Bastion und einer Außenmauer, die in verschiedenen Zeiten erbaut worden sind.
Der Turm ragt 14 Meter empor und hat einen Durchmesser von 10 Metern. Er ist aus Basaltsteinen erbaut, dem am häufigsten auf der Insel für derartige Konstruktionen verwendeten Baumaterial. Im Inneren des Turmes befinden sich zwei Räume oder Kammern, ein kleinerer mit Nischen, der mit dem oberen durch eine Treppe verbunden ist. Eine zusätzliche Reihe steiler Stufen führt ins Freie.
Die Bastion hat vier Türme mit Scharten und einen Innenhof mit einem rhombischen Grundriss. Die Außenmauer hat eine sechseckige Form, zwei Eingänge und sieben Türme. Am Fuß der Nuraghen breitet sich ein Dorf mit Hütten aus. Es wurden auch Brunnen, Öfen u.a.m. gefunden.
Der Nuraghe von Santu Antine in Torralba ist ein Musterbeispiel der zyklopischen Architektur für die Harmonie der Bauweise. Sein Name verdankt er dem naheliegenden gleichnamigen Kirchlein, zur Ehre des römischen Kaisers Konstantin erbaut (in Sardinien hielt man Konstantin für einen Heiligen, da er die Christen nicht mehr verfolgte). Das "Königsschloss zu Santu Antine" ist dreilappig, eintürmig, 18 Meter hoch (ursprünglich 21 m) und dreistöckig.
Zwischen den 3 kleineren vorderen Türmen öffnet sich ein großer Hof mit einem 20 m tiefen Brunnen. Der alte Turm hat einen Durchmesser von 15 Metern und besteht aus 2 Räumen, die durch eine Treppe verbunden sind. Im 1. Stock war vermutlich ein Saal für den Rat der Alten. Tatsächlich ist entlang der Wände eine steinerne Bank angebracht und es ist eine halbkreisförmige Nische noch gut sichtbar. Die bedeutendsten Nuraghen befinden sich außerdem bei Arzachena, Monte d'Accoddi bei Sassari, Angelu Ruju, Porto Conte, Bonorva, Macomer, Dorgali, Abbasanta, Paulilatino, Serri, Tharros, Goni Antas, Monte Sirai, Nora, S. Antioco. Die Gruppen von Nuraghen wurden nie zu Städten. Erst 500 v.Ch. führten die Karthager eine städtische Organisation ein, die dann infolge der Eroberung durch die Römer perfektioniert wurde.
Auch zahlreiche Begräbnisstätten für gemeinsame Bestattungen sind ein Teil der nuraghischen Kultur. Sie heißen "Gräber der Giganten". Mit einem aufgesetzten Stierkopf, einem religiösen Symbol, waren sie gewöhnlich in Form einer weiten steinernen Säulenhalle erbaut, die um eine zentrale Säule postiert und untereinander durch einen Gang verbunden waren.
Die Invasionen in Sardinien bewirkten rasch das Verschwinden der nuraghischen Kultur: Sie verblieb jedoch in der Geschichte und im Geist der Sarden als geheimnisvoller und faszinierender Ursprung.

Strukturanalyse

Die Kunst in der vorklassischen Zeit hat nicht die Funktion der Ästhetik, noch ist sie "Arte in sé e per sé" (Kunst an und für sich); sie entspricht vielmehr den präzisen Notwendigkeiten des Lebens, die sich paradoxerweise in Bestattungsritualen äußert. Anfangs Ausdruck der mit Naturereignissen verbundenen magischen Symbolik wird sie später zum abstrakten Animismus einer überirdischen Welt, die mit religiösen Kulten verbunden ist.
Vor dem Entstehen des logischen Gedankens und seiner Durchsetzung stellte die Kunst Heuchelei, Verteidigung und Exorzismus gegen die Geister, Rituale der Regeneration, Macht des Lebens über den Tod dar, ein Schutzmittel also des Menschen, der von unerklärbaren und unkontrollierbaren Ereignissen heimgesucht wird.
Die sardisch-nuraghische Kultur, einzigartig in ihrer selbständigen Ausdrucksweise und offensichtlich nicht assimilierbar an andere geographische Gebiete des mediterranen Raumes entzieht sich jedoch nicht der üblichen archaischen Typologie anderer Kulturen, die im selben historischen Zeitraum entstanden sind. Gedanklich beruht sie auf orientalischen Spuren und iberischen Einflüssen. Sie durchläuft eine untypische Entwicklung , die eher geneigt ist, an einer vergangenen Tradition zu haften als sich weiter zu entwickeln.
Diese verstärkte kulturelle Isolierung wurde durch klare sozial-ökonomische Strukturen und durch politische Faktoren bestimmt, die eine künstlerische Entwicklung der lebhaften Insel und ihrer starken Ausdruckskraft zuließen.
Die Stilisierung der Formen, gleichsam Zugeständnisse an den naturalistischen Surrealismus, erreicht oft eine perfekte im Gleichgewicht befindliche Plastizität, symmetrisch und geometrisch geplant. Dafür sind ein erschöpfender Beweis die Bronzefiguren aus der nuraghischen Zeit, die überdies genau die Strukturen der protosardischen Gesellschaft erklären.
Darstellungen von Krieger-Hirten mit Bogen und Attributen eines Kommandanten, Priesterinnen, Symbole eines antiken Matriarchats, Bauern, Verkäufer, Ringer, Mütter mit Kindern, Musikanten und Tiere. Außerdem gibt es eine Reihe von Bronzeskulpturen, die einen Votivcharakter haben, ein Zeichen dafür, dass es keine bildliche Darstellung von Gottheiten gab: Hirschköpfe, Schwerter, magische Trophäen, seltene Exemplare von Booten und Reproduktionen von Nuraghen.
Die Behältnisse für Bestattungen bilden eine bedeutende dokumentarische Quelle. Ihre Herstellung war im allgemeinen plump. Die Keramik zeigte jedoch eine Verfeinerung durch Dekorationen und Rillen oder durch gezackte Abschnitte. Häufig finden sich weibliche Symbole, ein Erbe der matriarchalischen Kultur und der Fruchtbarkeit auf den Gefäßen. Kleine Amphoren, Gefäße mit umgekehrtem Hals, Becher in Glockenform, Schalen auf drei oder vier Füßen sind als Votivgaben gefunden worden, die nicht frei von äußeren Einflüssen waren, aber nach typischem lokalem Brauch hergestellt wurden. Das Fehlen von sicheren Erklärungen der Literatur über komplexe kulturelle Probleme in der protosardischen Gesellschaft der mittleren Bronzezeit (16. Jh. bis ca. 7. Jh. v. Ch.) macht eine systematische Erforschung in der Kunst äußerst schwierig, ebenso wie die Erklärung hinsichtlich ihrer Entwicklung. Die Architektur, die Handwerksprodukte und ihre strukturellen Elemente - typologische wie dekorative - sind ungenügende Vordokumentationen einer archaischen Herrschaft, eigentümlich, geheimnisvoll und faszinierend.


(Dr. Gianni Lorenzo Lercari©)