Erwachsene brauchen Märchen
"Märchen sind etwas,
das uns eint" sagte Isidor Levin, Erzählforscher und Wissenschaftler.
Märchen sind mit "Atmosphäre" verbunden, haben keine zeitlich-räumliche Festlegung
und unterstehen weder einer Ideologie noch einem Dogma oder einer Wertvorstellung.
Deswegen sind sie weltumfassend, pluralistisch und trendunabhängig und verursachen
im Menschen eine Schwingung mit deutlichen Assoziationen zum Inneren, hinter
dem sich oft eine "Wunderwelt" verbirgt. Märchen sind bewusste Unterweisungen,
durch das Unbewusste vermittelt, und als solche stellen sie die großen Erziehungs-
und Bildungsmittel der Völker dar. Dazu lösen Märchen im Erwachsenen deutliche
Erinnerungen an die Kindheit aus; und Kindheit bedeutet alles, was den Menschen
umhüllt, in der Präphase des späteren, durch die Erfahrungswerte des Daseins
rationalisierten Denkens. Das Kind erzeugt durch Phantasie, Emotionalität und
Sensibilität ein besonderes und ganzheitliches Bild der Welt.
Das Märchen ist die älteste Literaturform - dabei werden mündlich übertragene
Sagen und Fabeln miteingeschlossen - und war bis ins 19. Jh. das Sprachrohr
politischer, sozialer, psychologischer und religiöser Zustände. Als Spiegel
der Gesellschaft kann man das Märchen mit den heutigen Maß-Media vergleichen,
ein Mittel also, das die Wahrheit mit bunten Farben schmückte, um sie erträglicher
zu machen.
Viele behaupten heute, dass das "Märchen" ein Fluchtvehikel von der Realität
und Wirklichkeit sei; wenn man sich aber von verbreiteten Klischeevorstellungen
nicht all zu viel beeinflussen lässt, erkennt man, dass "Märchen" doch ausschließlich
Sehnsucht nach der Wirklichkeit bedeutet.
Das Märchen ist im Grunde genommen auch keine "erfundene Geschichte"; in ihm
wirkt das Gesetz des Gleichgewichtes: Gut und Böse bekämpfen sich, ebenso wie
Klein und Groß und Arm und Reich. Sicher werden in dem Märchen weder die blutigen
Szenen überliefert, die die Seherschaft der Fernsehsender fast resigniert erwartet,
noch findet man in ihm eine derartig kompakte Übertragung von dramatischen und
tragischen Nachrichten, welche die Medien heute als Hauptbestandteil ihrer Programme
verwenden.
Im Märchen stehen extreme Situationen, Personen und Wesen in einer Wechselbeziehung
zueinander, welche schlussendlich zu Harmonie führt. Und ist es nicht die Harmonie,
die sich der gegenwärtige vom Stress geplagte Mensch wünscht ?
Jedes Märchen gleicht gewissermaßen einem kleinen Drama, das auf unserer inneren
Bühne spielt. Gewiss muss man sich heute bemühen, das Märchen zu verstehen,
da die geschichtliche Entwicklung den Menschen zu einem einseitig orientierten
Wahrnehmungsvermögen gebracht hat. Es ist eine Reinterpretation des Märchens
notwendig, ein neues Verständnis, das die Bildsprache wiederbewertet, da das
intellektuelle Denken sich immer mehr vom Bild distanziert hat. Das Märchen
steigert die Vorstellungskraft, aktiviert die Kreativität , löst den Menschen
von den Strukturen der Dreidimensionalität, von der Zeit als lineare Größe;
es ermöglicht wieder, dass der Mensch mit dem "inneren" Auge schauen kann, nicht
mehr von den Gegebenheiten der alltäglichen Realität gefangen genommen wird,
sondern mit neuen Bildern existieren kann, Bildern, die einer anderen Sphäre
zugehören, welche archaische Symbole des Urgewissens erneut zum Leben erwecken.
Die Anwendung des Märchens als eine Art Autogenes Training gegen Stresszustände
und Burn-out-Syndrome kann insofern erfolgreich sein, wenn der Mensch die Welt,
die ihm im Laufe seiner Entwicklung verlorengegangen ist, wieder herstellt,
eine einfache Welt mit klaren Grenzen zwischen Gutem und Bösem, mit überschaubarer
Struktur und idealem Zustand, was zu einer erheblichen Steigerung der positiven
geistigen Energie führt.
Das Märchen ist außerdem ein Mittel zum näheren Kontakt zu der Umwelt - Tiere,
Pflanzen und sogar Steine bekommen menschliche Fähigkeiten, können also sprechen,
fühlen usw. Diese Annäherung beinhaltet aber keine rationalisierte Gedankenassoziationen,
die eine dramatische Konnotation widerspiegeln (bedrohte Arten, herkömmliche
Konzepte, die zukünftige Umweltkatastrophen ahnen lassen usw.), sondern steigert
das Verständnis für die Natur und ermöglicht durch das Zusammenspiel von virtueller
Realität und Schemen der zweckbezogenen Handlungen die Entdeckung einer neuen
Interpretationsart, ein offenes Betrachten der Natur und neue Paradigmen einer
"anderen Wirklichkeit".
Die alten Mythen, die Helden der Epen und die Figuren der Fabeln hat die moderne,
von der Hektik geplagte Gesellschaft zu künstlichen, perfekten und unerreichbaren
Gestalten reduziert. Sie sind nicht, wie viele meinen, in Vergessenheit geraten,
sie wurden einfach verwandelt und treten vermummt auf; der heutige Wunsch nach
dem großen Geld, nach Erfolg, Profilierung und nach der einsamen, wunderschönen
Insel ist lediglich eine Übertragung der Träume, die immer schon den Menschen
begleiteten, die aber gegenwärtig soziokulturelle Konnotationen angenommen haben.
Die Hoffnung eines Lottogewinnes ist die moderne Version des unter einem Baum
verborgenen Schatzes, die Prinzessin mit den langen blonden Haaren ist ein Top-Model
geworden, die Sehnsucht nach einem guten Ende - jedes Märchen hat eines - ist
immer präsent, das "Glück", auf das man bewusst oder unbewusst ständig wartet,
ist wiederum die aktualisierte Version jener übergeordneten Geschöpfe - Engel,
Feen, Kobolde, Elfen, Magier, Alraune
- die den Protagonisten der Märchen beigestanden sind und ihre Träume verwirklicht
haben.
Das Konzept "Märchen" beinhaltet viel mehr als die übliche Wörterbuchdefinition
"...kürzere, volksläufig-unterhaltende Prosaerzählung von phantastisch-wunderbaren
Begebenheiten...schwarz-weiße Weltordnung...Prüfung der Helden durch gute oder
böse Mächte entspricht den Wünschen des naiv moralisierenden, kindlichen Aufnahmekreises
als idealistisches, weltfremdes Wunschbild ausgleichender Gerechtigkeit." (G.
von Wilpert - Sachwörterbuch der Literatur, Seite 546 ff.)
Das Märchen, strukturell betrachtet, schließt die Gebiete der Anthropologie/Ethnologie
(synchrone Ebene), der Archäologie (diachrone Ebene), der Soziologie (ideologisch-kritische
Ebene) und der Psychologie
bzw. Psychoanalyse (Interpretationsebene) ein; es ist ein komplizierter Stoff,
der sich als literarische Gattung (Zaubermärchen) etabliert hat, als Nachfolger
der mündlich übertragenen Fabel/Volkssage, und der am Anfang des vorigen Jahrhunderts
und in den letzten 20 Jahren Objekt von zahlreichen Forschungen und Analysen
gewesen ist.
Die heutige Märchenrenaissance beweist, dass dieses Genre von prägnanter Aktualität
ist.
(Dr. Gianni Lorenzo Lercari ©)