Glasträume


Das Zimmer ist dunkel. Die weit offenen Kinderaugen versuchen gespannt zu spüren, was vor sich geht. Eine Melodie füllt plötzlich den Raum: "Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum...", und einige Sekunden später kommen winzige Lichter aus dem Nichts, immer mehr, immer glänzender, bis der ganze Baum eine Apotheose von Farben und Glitzern darstellt.
Die Kinder sind sprachlos und staunen; sie starren die runden, länglichen, spitzigen Glaskugeln an, welche wie durch einen Zauberstab die blaue Tanne schmücken. Sie sind wunderschön!
Sterne, Glöckchen, die Sonne, der Mond, Tannenzäpfchen, Vöglein und sogar eine kleine Krippe in einer durchsichtigen Kugel hängen bezaubernd von den ausgestreckten Ästen, die selbst leuchten und blenden.
Alles fing eigentlich mit den so genannten "französischen Perlen" an, ca. Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie waren wachsgefüllte Glasperlen, welche man als Ersatz für die echten verwendete, und zwar um Hüte, Baumkronen und Dekolletés der Damen zu schmücken.
Sie kamen aber plötzlich aus der Mode und man suchte eine Alternative. In Lauscha, einem Städtchen des Thüringer Waldes, war das Glasblasen schon lange Tradition, und gerade dort blähte man die alt bewährten Glasperlen zu Glaskugeln auf und kam auf die Idee, sie auf die Weihnachtsbäume zu hängen. Sie wogen aber mehr als ein halbes Kilo und das stellt natürlich einige technische Schwierigkeiten dar.
Bis zu dieser "Erfindung" bestand der Weihnachtsschmuck aus essbaren Süßigkeiten, wie z.B. Gebäck in verschiedenen Formen und Gestalten, vergoldete Nüsse und Äpfel oder Papierblüten, und als die ersten Kataloge der Glashändler bunte, runde, leichte und geblasene Kugeln zeigten, meinte man eigentlich, dass es sich um Spielzeuge handelte. Dies hatte auch mit der Tatsache zu tun, dass weder Handels- noch Gewerbekammer erlaubte, die neuen Schmuckstücke als eigene Kategorie zu bezeichnen; dies geschah endlich im Jahre 1878 und sofort rissen sich die Adeligen um den Erwerb der damals sehr teueren Dekorationen.
Leitende Figur dieser aufregenden Mode war Kaiser Wilhelm I., welcher Weihnachten im Schloss zu Versailles feierte, und zwar mit einem riesigen mit Glaskugeln geschmückten Tannenbaum, der somit zum nationalen deutschen Symbol wurde.
Die frühen Kugeln waren Früchte, Eicheln und Nüsse aus bemaltem Glas; mit der Zeit und dem Erfolg des Christbaumschmucks - sogar auf der anderen Seite des Atlantiks war dieser bekannt, da der Amerikaner Woolworth 1880 ihn in Pennsylvania zum Verkauf anbot - ließ man der Fantasie freies Spiel: Dadurch entstanden aus der Flamme des Lampenglasbläsers eine ungeahnte Formen- und Größenvielfalt sowie Stückzahlen in größeren Mengen. Das Symbol der Weihnacht wurde immer bunter und die grünen Äste trugen Tiere, Vögel mit Glasfadenschwänzen, Trauben, Beeren, Flaschen, Körbchen, Uhren, Schirme, Glocken, Sterne, Engel, Eiszapfen, Nikolausfiguren, Christkindköpfe, Schneemänner, Puppen, Kreisel, Füllhörner, Teekannen und Musikinstrumente. Das alles wurde durch das romantische Licht der Kerzen beleuchtet - nach der Tradition möglichst 24 Stk. -, zuerst lediglich in den Adelspalästen zu bestaunen, und nach der Erfindung von Stearin und Paraffin auch bei breiteren Bevölkerungsschichten zu finden. Wie bei vielen Gegenständen, die uns in den besonderen Momenten unseres Lebens begleiten, haben auch Weihnachtskugeln einen gewissen Symbolismus; wir suchen nämlich ständig nach Assoziationen, welche uns das Gefühl geben, dass ein Fest mit etwas Tiefem verbunden ist. Gewiss handelt es sich immer um die Wünsche, die in unserem Inneren gedeihen, und die zwischen dem Religiösen und dem Heidnischen pendeln, so dass jeder einem Objekt seinen Glauben schenkt und damit auf eine Erfüllung der eigenen Sehnsüchte hofft. Alles, was am Baum hängt, kann individuelle Bedeutungen haben, die Glocken z.B. läuten zur Heiligen Nacht und kündigen Besinnung an, wobei sie auch die Konnotation eines "Unglücksverhüters" haben; die verschiedenen roten, goldenen oder silbernen Päckchen mit zarten Schleifen symbolisieren Nächstenliebe und Hingabe, die Vögel deuten auf Geborgenheit, wobei es davon abhängig ist, um welche Wesen der Luft es sich handelt: Störche sind Glücks- und Kinderbringer, Pfauen besitzen Zauberkräfte, Vögelnester bewahren Häuser und Bäume vor dem Blitzschlag.
Mond, Sterne und Sonne sind jeweils ein Wettermacher, Hoffnung auf einen guten Verlauf unseres Schicksals und einen wunderschönen leuchtenden Neuanfang. Tannenzapfen, Nüsse und Eiszapfen stellen ein Fruchtbarkeitszeichen dar; sie stehen oft auch in Verbindung mit der Jungfrau Maria und mit der Reinheit. Früchte und Früchtekörbe symbolisieren eine reiche Ernte, und alle Wesen des Waldes, welche Elfen, Nixen und Zwerge sind, verwandeln den Weihnachtsbaum in eine Traum- und Märchenwelt.
Aber auch der Tannenbaum und seine Geschichte - das früheste schriftliche Zeugnis eines geschmückten Christbaumes im deutschsprachigen Raum stammt aus dem Jahre 1419, als die Freiburger Bäckerknechte einen Baum mit Birnen, Äpfeln, Lebkuchen, gefärbten Nüssen und Papierkreationen dekorierten - entsprechen dem jeweiligen Zeitgeist und unterstehen den Schwingungen der Mode und dem Bizarren der Trends. Was die Farben der Kugeln betrifft, zum Beispiel: Die Farben spielten und spielen nämlich eine große Rolle und haben immer noch Einfluss auf unser Leben und auf unseren Geist, und der Christbaum blieb von dieser Macht nicht verschont. Es gab eine Zeit, in der man einfärbige Bäume geschmückt hat, einmal rot - eigentlich die Farbe der Weihnacht, und dazu mit dem sanften Grün der Nadeln und mit goldenen Bändern gemischt ein Zeichen von Eleganz -, einmal blau - d.h. Treue und Sympathie mit ein bisschen Extravaganz -, einmal gold - edel und vornehm -, einmal silber im Zeichen der Klassik. Dann kehrte man wieder zur Vielfalt der Farben zurück und dabei lässt man sich heute von der glitzernden Choreografie geheimnisvoller Gestalten tragen. Man schließt die Augen und gleitet auf die strahlenförmige Vertiefung eines lachenden Mondes in dem Versuch, seine silberne Strahlen zu fangen, man tanzt den Tanz der Befreiung auf der glatten samtigen Oberfläche eines dicken roten bauchigen Glasballs, man hängt an dem Schwengel eines goldenen Glöckchens und schwingt mit als fröhliche Musik, die das Innere füllt, man reitet die Rentiere der Schlitten eines bärtigen Santa Claus, der durch die endlosen Weiten des Himmels wie ein Kometenstern streift, oder man liegt auf den weichen Federn eines wunderschönes Schwans und träumt vor sich hin in dem stillen Wasser eines zauberhaften Märchenteiches ...
Können wirklich nur Kinder der Welt der Magie begegnen?


(Dr. Gianni Lorenzo Lercari ©)