Der Flug des Löwen
Inkognito in der von
gespenstigen Figuren erfüllten Nacht des Karnevals
zwinkert das rechte Auge von Lord Fiddlebottom, der unter vermummten Gestalten
in den „Calle“ fieberhaft Colonel Bubble sucht; auf der anderen
Seite des Canal Grande versteckt sich in dem Schatten einer Renaissancesäule
Agent X mit seiner finsteren Vergangenheit, der ebenfalls vorsichtig nach Madame
Zsa Zsa sucht, die längst gefeierte Ballerina im Gran Teatro La Fenice,
um ihr die Geheimdokumente zu überreichen. Und der glücklose Botschafter
irrt mit einer Gondola umher und versucht, dieses Agententreffen zu verhindern.
Das Spiel der Narren kennt keine Grenzen der Fantasie und die Serenissima hat
keine Angst vorm Fliegen; eher wirft sie sich in das bunte Universum des Karnevals
als wirbelnde Tänzerin in einem verrückten Ballett. Der Mythos lebt
noch einmal auf, die Vergangenheit erwacht, das Geheimnis der Illusion herrscht überall,
Träume, Wünsche und Sehnsüchte haben freie Hand und die Welt
der Masken feiert in moderner Form die alten Riten der vorklassischen Kulturen.
Viva il carnevale! Es lebe der Karneval!
Bunte Gestalten färben den Nebel und die Fassaden der prunkvollen Paläste,
Tüll und Konfettispritzer schweben in der Luft, flüchtende närrische
Figuren gehen leicht über die Brücken der Lagune, mit Seide übersät,
mit feinem Brokat, Samt und ätherischen Federn. Wie in einem „goldenen
Pavillon“ lebt die Maskerade und ruft Bilder ihrer Geschichte voll Parodie,
Exotischem und Erotischem ins Leben zurück, jenseits der Grenzen der Phantasie,
jedoch den Ansprüchen unserer Zeit Beachtung schenkend: der Pose, der
Zurschaustellung und der Mode.
Tag und Nacht auf dem „Piazzetta“, damaligem Mittelpunkt des Karnevals
der Venezianer, vor der Kolonnade der Neuen Prokuratien und den stillen gewundenen
Kanälen entlang feiert Venedig in aller Pracht die Verkleidung und den
Scherz, das Inkognito, die Lustbarkeit und das Chaos.
Dieser Karneval ist mehr als eine Parole für kulturelle Veranstaltungen,
ist anders als faszinierender Hauch von Poesie zwischen Kerzen und Marmor:
Er stellt die Verwandlung einer jahrhundertealten Tradition dar, in der, durch
die Maske, die Stadt-Insel ihr zweites Gesicht zeigt, nämlich jenes des
Sich-Verbergens, des Unbekannt-Bleibens und jenes einer anderen Identität.
Der „Sior Maschera“ tritt auf, schwarz-weiß zwischen verzierten
Bugpartien der Gondeln, mit „Bauta“ und „Volto“, oder
die Kappe vom Kopf bis zu den Schultern und die weiße Wachsmaske, die
Mund und Kinn überdeckt; dazu der weite dunkle Radmantel, der die Figur
noch mehr anonymisiert.
Das „mystère“ ist damit gesichert, Rendez-vous von Liebhabern
werden ermöglicht und zarte Liebesworte ausgetauscht im reizvollen Klima
des Verbotenen. Auch die „Commedia dell’Arte“ belebt wieder
die riesige Bühne der Plätze und Straßen durch jene lustigen
Personen, die der Kömodiendichter Carlo Goldoni internationalisierte.
Elektrisch und histrionisch mimen die Masken des „Venedig der Dogen“ die
ersehnte Narrenfreiheit: Harlekin und Brighella oder die Intrige’,
Pantalone, Colombina, der „Arzt der Pest“ und die allgegenwärtige
Pulcinella. Daneben toben alle möglichen Allegorien der so genannten „verkehrten
Welt“: Melancholie und Tod, Spielkartennarren, Pierrots und Clowns, von
Seifenblasen und hochnäsigen Pfauen begleitet, märchenhafte Wesen
der Traumwelt, Könige der dunklen Seite des Mondes als magische Symbole
des Unbekannten im ewigen Konflikt zwischen Gutem und Bösem, und unruhige
Anhänger der „apocalypse now“. Szenen werden improvisiert,
um Protagonisten des eigenen Theaterstücks zu sein, um das Alter-Ego zu
befriedigen und einmal nicht man selbst zu sein und um das Publikum zu amüsieren.
Fotografiert zu sein ist Verpflichtung, und jeder Zuschauer lässt die
Kamera schwitzen und aufnehmen, sodass er eine Woche später den zum Tee
geladenen Freunden vor einer Leinwand stolz sagen kann: Schaut, ich war auch
da; sind
es nicht tolle Bilder?
Auch wenn Venedig durch die vierzehn Tage Fasching jedes Mal ein paar Millimeter
in die zitternde Lagune sinkt, muss es sich der „Raison d’Etat“ des
Geschäftes opfern. Angebote aller Art, ob per Flugzeug, Bahn oder Auto,
mit oder ohne Übernachtung, Voll- oder Halbpension, Maske inklusive werden
von den Reisebüros gemacht, die alljährliche Streiterei des Faschingskomitees
der Stadt, um mögliche Lösungen zu finden, die gewisse Überfüllungsprobleme
vermeiden könnten, ist nunmehr fast zur Folklore geworden, und die Touristen,
die trotz allen Warnungen doch mit dem Wagen hinfahren möchten, träumen
von Wundermitteln, um das Auto in die Tasche zu packen, da einen Parkplatz
zu bekommen völlig unmöglich ist.
Die Cafés sind überfüllt, ein Besuch bei „Florian“ wird
zum Erlebnis; man trinkt einen „Cappuccino“ oder einen heißen
Punch um sich zu wärmen, ein paar lustige Sprüche prallen zwischen
alten Gemäuern wider, und dann wirft
man sich wieder mit vollem Schwung in das unglaubliche Karussell der Lebensfreude,
des Trubels, der Lust an Anmut und Schönheit, der geheimnisvollen Rollen,
der Mächte des Jenseits, der Liebe und der Zierlichkeit in einer Orgie
von Farben und Gestalten.
Was am Eröffnungs-Sonntag feierlich anfängt wird am „Giovedi
Grasso“, dem Faschingsdonnerstag, fortgesetzt und hält unvermindert
an bis zum Faschingsdienstag, dem letzten Höhepunkt des Narrentreibens.
Aufführungen jeder Art werden in dem historischen Theater dargeboten,
und oft verwandelt sich die Bühne in Audience und die Audience in Bühne,
in der glitzernden Atmosphäre eines elitären soirée, wo die
Kostüme der Zuschauer zur echten Darstellung werden. Anderswo, in der
einmaligen Choreographie des St.-Markus-Platzes wird „Magie“ erzeugt:
Ein Merlin verzaubert alles, was in seiner Reichweite ist, ätherische
Feen schweben zwischen Türmen, Arkaden und Lauben mit ihren durchsichtigen
langen Tüllschleiern, und das Erwachen der prunkvollen Vergangenheit der
Seerepublik nimmt mit den phantastischen Verkleidungen des Schauspiels noch
einmal Gestalt an. Man trifft den St.-Markus-Löwen mit gewaltigen Flügeln
und den schwarzen eifersüchtigen Othello, die „Contessa“ in
der alten Robe, den „Hamburger“, der tatsächlich einen heißen
Hamburger isst, und sogar die Coca-Cola-Flasche. Das Alte und das Neue mischen
sich, ebenso wie das Klassische und das Moderne in einer zeitlosen Welt von
Träumen, Märchen, Realität und Verrücktheit. Merkwürdig
ist jedoch der nicht einfache Übergang von der Vergangenheit ins Heute,
die „Recherche du temps perdu“ als Mythos für wenige im
Gegensatz zu den Anforderungen der Mechanismen der Konsumgesellschaft, die
ohne weiteres das Vergängliche noch vergänglicher macht, als Mythos
für alle. Die polemische Seite der verwandelten Tradition herrscht natürlich
auch, wegen der Massenparty, die die Stadt für einige Tage den Venezianern
wegnimmt, und wegen des Müllberges aus Papierfetzen, Dosen und leeren
Flaschen, die am Aschermittwoch auf allen Gassen und Plätzen zu finden
sind. Und die Venezianer erleben den Karneval nicht ganz mit und denken gerne
an die goldene Ära vor Napoleon Bonapartes Verbot 1797 zurück, als
alles echt und „signorile“, also edel war.
Schön oder weniger schön, Tatsache ist, dass der heutige Karneval
in Venedig als eine der weltberühmtesten Veranstaltungen des Winters gilt.
Sei es wegen der reichen prunkvollen Geschichte der einst
mächtigen Stadt und ihrer Faszination, sei es der Wunsch, in dem immer wieder umstrittenen
Durcheinander der Menschenmassen mitmachen zu wollen und für wenige Stunden
nicht mehr dies oder jenes „Ich“, sondern die maskierte Figur aus
dem Fabeluniversum der Kindheit zu sein, schenkt die „Serenissima“ allen
und zehn Tage lang die geeignete Bühne für das eigene Theaterstück.
Dann ist der Aschermittwoch da und alles verschwindet wieder.
Venedig Dienstagnacht: Zersplitterte Reflexe von weißen Lampen zucken
im Wasser, Gerüche nach Salz und zersetzten Mauern füllen die Luft,
Chöre von Engeln hallen in den engen Kanälen wider und flüchtige
Schatten tauchen auf und verschwinden wieder zwischen den Bögen der alten
Paläste.
Heckverzierungen von Gondeln, die die Luft sägen, Fassaden vom Nebel verschluckt,
voller Legenden und altem Charme und das letzte Echo eines beendeten Phantasiefestes:
Der Karneval ist vorbei, was bleibt, ist eine Wiese Konfetti.
(Gianni Lorenzo Lercari)