Die Nacht des weißen Falken
Es quälte
die Wahl. Die Entscheidung. Nicht
aber die Wahl zwischen dem als möglich Gehaltenen, jedoch
vergänglich in seinem
Sein, und den Träumen aus Wünschen,
Befürchtungen und Rätseln bestehend, welche
oft so schienen, als ob sie ständig davonlaufen
würden. Es war die tiefe,
unergründliche Entscheidung bezüglich eines uralten
Zweifels: das Geistige, so
edel und anziehend, so aufregend und geheimnisvoll, oder das Irdische,
so
gewöhnlich und mühevoll, so beschränkt und
unbefriedigend?
Und das Nichts? Das „Alles“?
Wäre vielleicht
nicht gerade dieses Nichts/Alles der beste Ausweg gewesen?
Keiner
spürte die wahre, schmerzhafte innere
Qual jenes menschlichen Wesens, das eigentlich so versteckt in der
täglichen
Anwesenheit blieb und fast darin verharrte, mit Ausnahme der
weißen Falken; sie
merkten deutlich, was in ihm vorging und jedes Mal, als Es sich in
ihrer Nähe
befand, verließen sie ihre Nester und flogen weite Kreise über Dächer und
Glockentürme und ihre Stimmen schrieen
vermehrt ein lang gezogenes
„gäääiih“. Ihr Reich war
eigentlich der Wald, dicht
und schattig, geborgen und naturbelassen; sie konnten sich dort
nämlich gut
verstecken und von den Höhen der Baumkronen alles beobachten.
Man erzählte mit
Furcht von ihnen, denn die wenigen Menschen, die in dem abgelegenen Tal
lebten,
sprachen seit eh und je über sie, obwohl kaum jemand sie zu
Sicht bekommen
hatte; man wusste, dass es sie gab, man erzählte, dass in dem
Morgengrauen und
in den dunstigen Abendstunden schnelle Gestalten hin und her blitzten,
manchmal
am Rande der Lichtung erschienen und wieder verschwanden. Die Sagen
bezeugten
lediglich, dass die weißen Falken, die in dem verbotenen Wald
angeblich lebten,
die Erzfeinde eines geheimnisvollen Wesens waren, das man nie sah, weil
man es
nicht sehen konnte. Die Älteren unter den Bergsiedlern
erinnerten sich daran,
von ihren Vorfahren davon gehört zu haben; aber die Worte, die
Ereignisse, die
Gegebenheiten schwebten in einem grauen Bereich, in den es kaum
möglich war
durchzublicken. Deshalb näherte sich keiner dem Wald, dessen
riesige Bäume so
mächtig und hoch waren, dass sie oft sogar die Sonne
verstecken konnten.
Es saß auf einem Stein und schaute
jenseits
des Unsichtbaren, dort wo das menschliche Unfassbare sich
auflöst. Die Lichtung,
wo Es war, grenzte an die steile Felsenwand des hohen Berges; von dort
konnte
man den gegenüberliegenden Wald sehr gut beobachten, seine
Geräusche hören und
fast jede Bewegung zwischen den gewaltigen Stämmen
feststellen. Als Es eine
Zeit lang versuchte, die undeutlichen Schatten im Dickicht zu entdecken
und zu
entziffern, ohne allerdings etwas Ungewöhnliches feststellen
zu können, spürte
Es das plötzliche Bedürfnis, die Augen zu
schließen: Es war müde und hätte
gerne ein wenig ruhen wollen. Diese Reise ins Anderswo zeigte sich aber
als
unmöglich, denn Es musste mit Verwirrung wahrhaben, dass Es
gar keine Augen
hatte und überhaupt nicht schlafen hätte
können.
Es versuchte dann zu schreien,
um die plötzlich zu Bedrohung gewordene
Einsamkeit zu bewältigen: Aber kein Ton kam aus seinen
Stimmbändern heraus. Mit
Erstaunen musste Es diesmal feststellen, dass es gar keine Stimme
hatte.
Verzweifelt
suchte Es dann den eigenen Körper, fand aber
weder Arme noch Hände,
weder Beine noch Füße.
Nur ein Wesen. Ein Wesen,
sonst nichts. Diese
Erkenntnis schlug verheerend zu, erzeugte Panik und Furcht.
Es stand auf
und versuchte sich zu erklären,
warum das, was Es suchte, und zwar das Befindliche, das
Vorübergehende, das
Existierende, das Ewige, das Vergangene, das Gegenwärtige, das
Zukünftige, das
Gespiegelte, das Reelle, das Vergebene, das Wahre und das Erfundene
für
ungeübte Augen eben so unsichtbar waren, wie das Sichtbare
für die geübten.
Es erinnerte sich an die alte
Prophezeiung, die
besagte, nur dann, wenn der Zweifel auf Erden besiegt worden
wäre, hätte
die Zeit der ewigen Freude wieder zurückkehren
können. Seine Angst
brachte Es einen Augenblick lang zum Zittern, bis Es
merkte, dass Es gar
kein Blut hatte, kein Fleisch, keine Gestalt; nichts hatte Es
eigentlich, denn
Es war das dunkle, helle,
undurchdringliche, transparente Nichts/Alles.
Es atmete tief die kalte
Luft ein und sah
die dünne graue zerbrechliche Linie
des Rauchs eines Feuers, das vom Tal hochstieg und als uraltes Zeichen
wirkte. Es begriff
dann, dass die Zeit
der endgültigen Entscheidung fällig war, die Zeit der
Erklärung, die Zeit des
Mutes, die Zeit des Akzeptierens oder des Loslassens.
Aber der Zweifel,
der Es so lange begleitet
hatte, blieb da, vervielfacht und konfus.
Die weißen Falken
starteten ihren Flug und
riefen die grauen der weiten Ebene, die ihre Verstecke
verließen und auch auf
Es zueilten.
Es rief nach dem Namen des Herrn und bat ihn
nach der Kraft seiner Macht.
Die Falken kamen näher
und Es rief erneut nach der vernichtenden Macht seines Herrn; als nur
Stille
folgte, merkte Es, dass es zu spät geworden war, die ersehnte
Wahl zu treffen.
Diesmal hätte man mit der Wahl gar nichts mehr
anfangen können, alles hatte schon den Lauf des Schicksals
genommen.
Es
kam
die Nacht. Es kamen die Falken.
(Dr. Gianni Lorenzo Lercari ©)