REGNE, MAMI, REGNE
Tobias
steht mit seiner Tochter vor dem großen Fenster, durch das man auf den Garten
blicken kann. Langsam vermehren sich die Schatten, die durch die grauen Wolken
den Garten überdecken.
"Es wird Regen geben." sagt er zu ihr und nimmt ihre
Hand. Seit Wochen wartet er auf diesen Regen, obwohl er die Pflanzen seit langem
schon mit dem Gartenschlauch hätte bewässern können.
"Mami hat gesagt, du
freust dich auf den Regen!" entgegnet seine Tochter. Tobias nickt, ohne seinen
Blick von der sich anbahnenden grünen Pracht abzuwenden. Er wird so lange dort
stehen bleiben, bis sich die Wolken dazu entschließen, die angestaute Nässe loszulassen.
Dann beginnt der Frühling.
Die Wand braucht einen Anstrich, durchfuhr es Rosalind. Sie saß auf ihrem Bett
und starrte. Starrte monoton vor sich hin. Mal in die Wand, mal auf die Wand,
mal durch die Wand, mal in dieses diffuse Nichts, das ihr plötzlich ernüchternd
ins Gesicht schrie.
Was kommt jetzt? dachte sie. Nein, es dauert ja noch ein
wenig. Vielleicht Tage. Vielleicht Wochen. Vielleicht Monate. Aber was
kommt dann? Ich hatte mal ein wirklich schönes Decolleté, stellte sie stumm fest
und kraulte sich zart über die schlaffe, knitterige Haut, die über den Knochen
wie die Wäsche über der Leine hing.
Als es noch nicht so abgemagert war. Aber
ich kann ja nichts dafür. Nur mein Bauch. Aber der ist nur noch tote Materie.
Er beherbergt eine grausame Ratte, die alles, was ihr entgegenkommt, zerstört.
Sie hat sich meines Körpers bemächtigt und jetzt will sie ihn Stück für Stück
auffressen, damit sie immer fetter werden und sich immer weiter ausdehnen kann.
Deswegen ist mein Bauch auch so fett. Sie ist viel zu gierig. Aber wenn ich untergehe,
dann wird sie auch sterben. Todgeweiht ohne Angst.
Rosalind
streichelte über ihren Kopf, von der Stirn angefangen, bis hin zum Nacken und
wieder zurück, versuchte dabei, sich daran zu erinnern, wie es war, als noch ihre
großen, schwarzen Locken ihren Kopf geschmückt und sie geschützt hatten. Einen
schüchternen Wind, durch das offene Fenster kommend, spürte sie auf der blassen
Haut, unter der isch die Wurzeln für die schwarze Pracht verbargen. Rosalind hatte
ihre schwarzen Haare geliebt. Sie dachte daran, wie sie damals es genossen hatte,
eine ganze Stunde vor dem Spiegel zu stehen, nur um sich fünfzehn kleine Zöpfe
zu flechten.
Vorsichtig setzte Tobi das Tablett, auf dem sich der Tee befand,
auf dem Nachttisch neben Rosalinds Bett ab. Es war schwarzer Tee, drei Minuten
gezogen, eigentlich mochte sie es lieber, wenn er nur zwei Minuten gezogen hatte,
und so hoffte Tobi darauf, dass sie es gar nicht erst bemerken würde. Sie würde
ihn deswegen doch nicht anschreien? Dazu bestand ja gar kein Grund. Aber brauchte
sie eigentlich einen Grund?
Zitternd überreichte er ihr die dampfende Tasse
und vermied es, ihr in die Augen zu schauen. Sie meinte es nicht so, wenn sie
ihn ausschimpfte, das wusste er von Tante Ruth. Tante Ruth hatte ihm gesagt, dass
Rosalind durch ihre Krankheit so war und dass vor allem die Tabletten sie verstörten
und sie Dinge machen ließen, die sie sonst niemals getan hätte.
Tobi inspizierte
seine Fingernägel, aus denen er sorgfältig den Dreck herausholte, während er aus
den Augenwinkeln wahrnahm, wie seine Mutter in den Tee pustete. Er vernahm kein
ungewöhnlich lautes oder stockendes Atmen ihrerseits, was ein gutes Zeichen war.
Sie will mir ja auch gar nicht wehtun, dachte er. Sie ist bestimmt froh, dass sie jetzt wieder zu Hause ist und dass ich bei ihr bin. Aber wieso sagt sie jetzt nichts? Was soll ich denn jetzt sagen? Ich mag das nicht, wenn wir uns so anschweigen. Da weiß ich gar nicht, wohin ich gucken soll. Ich muss doch irgendwas machen. Irgendwas Gutes.
Früher
konnte Tobi als Erster von allen Rad fahren. Und er hatte Rosalind die schönsten
Bilder in der Schule gemalt. Im gesamten ersten Schuljahr hatte er nur einmal
geweint. Da konnte seine Mutter sehr stolz sein. Und jetzt? Mami spricht so wenig.
Früher hat sie mehr geredet. Und viel mehr gelacht. Jetzt guckt sie oft so komisch
und sagt manchmal einfach nur "ach!". Liegt das an mir? Mami. Ich freu mich doch,
dass du jetzt hier bist, hätte er am liebsten laut ausgesprochen.
Er blickte
zu der brüchigen Statur, die wirkte als ob sie zu Staubzerfallen würde, wenn er
sie umarmte, führte seine Hand zu ihrer knöchernen Schulter und fing zaghaft an
sie zu streicheln, fast ohne sie zu berühren. Aber was war, wenn seine Mutter
jetzt denken würde, dass er sich gar nichts daraus machte, dass sie bei ihm war?
Sie konnte doch nicht glauben, dass er lieber mit den anderen draußen spielen
wollte? Nein, das war ausgeschlossen, so etwas konnte sie nicht von ihm denken.
Oder doch?
Wenn ich meine Hand jetzt fester auf ihre Schulter drücke, dachte
er, dann weiß sie bestimmt, dass ich gar nicht raus will.
Seine Hand glitt
weiter über das Nachthemd bis hin zum Arm, unentschlossen. Sie bewegte sich nun
langsamer, gab Toni mehr Raum für seine Gedanken darüber, was er nun als nächstes
zu seiner Mutter sagen sollte. Er erinnerte sich daran, wie sie einmal ihm gegenüber
äußerte, dass er sie nur aus Höflichkeit streichelte. Dass er doch nur fand, sie
sähe schrecklich aus. Dass er doch bestimmt immer auf die anderen Mütter, die
nicht so hässlich waren und die immer und überall dabei waren, guckte.
Tobis
Hand stockte in der Bewegung.
Die anderen Mütter. Diese Frauen, die immer
viel Schminke im Gesicht hatten. Und die waren nie blass. Und die hatten so viele
Haare auf dem Kopf, die sie sich schön zusammensteckten.
Die Hand zuckte kurz
und ermahnte Tobi, sie weiter zu betätigen. Sie streifte nur noch über das Nachthemnd,
vermied die Berührung mit der nackten Haut. Dann kam sie plötzlich zum Stillstand,
fror ein in einer Posotion, in der Missverständnisse nicht so schnell aufkommen
konnten. Glaubte ihm Rosalind, dass er gerne bei ihr war? Zeigte er es ihr auch
genug?
Er wusste nicht, wie er es besser machen sollte. Er hatte in den Zeitschriften
und Sendungen gesehen, wie ein Mann eine Frau richtig zu streicheln hatte. Aber
ein Mann war er doch erst nach dem Stimmbruch, oder?
Vielleicht kommt er ja
bald, dachte Tobi. Vielleicht gab es ja auch Tabletten, die das Ganze beschleunigen
konnten. Es gab doch für alles Tabletten. Aber es sollten Tabletten sein, die
nicht so gemein machten.
"Tobi, holst du mir..." Rosalinds Haut war noch blasser
als sonst und die Adern an ihrem Hals waren angeschwollen. Tobi aber blieb auf
der bettkante sitzen, die Hand hatte Rosalind ihm zrück auf seinen Schoß gelegt,
und als wolle er leise rebellieren, den Aufstand gegen diese fette Ratte mitten
in dem Wesen, das er so sehr liebte, proben, starrte er, ohne einen einzigen Gegenstand
zu fokussieren, in Rosalinds Richtung.
Nein, er würde ihr jetzt bestimmt keine
Tabletten holen. Er wusste doch dass sie bald wieder gesund würde. Sie hatte ihm
doch gesagt, dass sie jetzt nie wieder ins Krankenhaus musste. Sie hatte ihm doch
gesagt, dass sie stark war und dass sie kämpfen würde. Sie hatte ihm doch gesagt,
dass...
"Tobi! Verdammt!" schrie Rosalind.
Tobi
zuckte zusammen. Aber sie meinte doch jetzt gar nicht ihn, oder? Verdammt war
ein Wort, das sie normalerweise bestimmt nicht gegen ihn benutzte.
Wenn sie
gesund ist, wird ich sie sofort fragen, dachte Tobi. Dann klärt sich alles auf.
"Los! Tobi!"
Rosalind würgte. Die Ratte machte sich nun in ihrem Dünndarm breit, nagte an den
Wänden, kratzte mit ihren Krallen, um es sich gemütlich zu machen, und blähte
sich befriedigt und vollgefressen auf. Sie hauchte ihren stinkenden, fauligen
Atem durch die Gedärme bis in die Glieder hinein, auf denen nun eine kalte Welle
anfing zu tosen, die Rosalind ein Gefühl der krampfenden Ohnmacht gab und sie
schüttelte. Sie würgte wieder und schob Tobi vehement vom Bett, der kopflos aus
dem Raum rannte.
Jetz dauert es nur noch ein paar Sekunden, bis ich das nächste
Mal würde. Hoffentlich ist Tobi bald da. Sonst ist hier alles voll, dann ist hier
alles voll!
Rosalind zog den Eimer an sich heran, den Tobi ihr hingehalten hatte, während es ihr so schien, als würden würden sich die kompletten Innereien ihren Weg nach draußen bahnen, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie war die Hülle für die satanischen Urgewalten, die leblose Schale für eine Macht, die böser war als der grausamste Gott. Alles brach sie hinaus, vergaß ihren schreienden Körper. "Geh raus, Tobi! Geh weg! Bitte!" war alles, was sie mickrig krächzend zu brüllen vermochte. Doch Brüllen war ihre einzige Möglichkeit, sonst wäre sie kein Mensch mehr gewesen. "Geh weg, verdammt!" Zwischen den Ladungen, die sie heraus brüllte, schluchzte sie laut und zitternd, griff indifferent nach Tobis Körper, um ihn hinauszuschupsen, was bereits im kläglichen Versuch scheiterte. Wie konnte er sie nur so sehen? Wie konnte sie sich nur so schamlos vor ihm offenbaren? Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihrem Sohn diese Dinge zu zeigen. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihren Sohn jeden Abend früh schlafen gehen zu lassen, wissend, dass seine Freunde immer noch draußen saßen, Messer schnitzten und Witze über Mädchen rissen. Sie hatte nicht vorgehabt, ihren Sohn den Eimer bringen zu lassen.
"Morgen
früüüüüh, wenn Gott willll, wirst du wieder geweckt..." sang Tobi fast flüsternd,
kniff seine Augen zu, presste seine schwitzenden Hände auf die Ohren und stellte
sich vor, wie es wäre, wenn er von dem lieben Gott morgen früh nun nicht mehr
geweckt werden würde. Wie eine sterbende Katze hörte er Rosalind stöhnen, seine
Beine wollten ihn inbrünstig aus dem Raum ziehen, doch er summte dagegen an und
blieb erstarrt stehen.
Der liebe Gott, der liebe Gott, dachte er. Der macht
doch die Dinge gut, das hat Mami doch gesagt. Wo bist du denn jetzt. Du willst
doch auch, dass Mami gesund wird. Dass wir bald verreisen. Zum Meer. Zum Ozean.
Du wirst sie doch morgen früh wieder wecken. Und du wirst sie ja auch jetzt nicht
im Stich lassen. Oder?
Er vernahm ein abgemildertes Hecheln, das den Todeskampf
abgelöst hatte. Erleichtert öffnete er die Augen und fand sich vor Rosalind wieder,
die sich wie ein kleiner Wurm krümmte, der nach ein bisschen Erde suchte. Die
Wildnis hatte sich auf ihrem gesamten Körper ausgebreitet, der verzwifelt nach
Nahrung suchte, aber nicht wusste, wo er anfangen sollte. Das verzerrte Gesicht
stierte den Sohn an, der still, gebannt, seinen Atem unterdrückend, nach unten
blickte, dorthin, wo der stechend stinkende Eimer stand. Blitzartig hieb er ihn
hoch und brachte ihn so schnell er nur konnte dorthin, wo die Kanalisation bereitwillig
sienen Inhalt verschlingen würde.
Auf
der Terrasse lag Rosalind eingerollt in eine Wolldecke auf einer Liege, die quietschte,
wenn sie sich einen Zentimeter bewegte. Schweigend beobachtete sie ihren Sohn,
der sorgfältig die kleinen weiß blühenden Pflanzen in den Tontöpfen begoss, die
liebevoll und charmant die Kante der Terrasse umsäumten.
Hab ich Reue in meinen
Augen? Das geht nicht, die muss verbannt werden. Dorthin, wo nur ich sie erfühlen
kann, dachte Rosalind. Wo sie nur mich anblickt und nur mir Schmerzen bereitet.
Warum hab ich ihn nur angelogen? Ich weiß es doch schon so lange. Oder? Vielleicht
bild ich es mir jetzt nur ein, dass ich es wusste? fragte sie sich und schaute
ihn weiter an, während er neues Wasser aus dem Schlauch in die Gieskanne füllte.
"Was glaubst
Du, was mit mir passieren wird, wenn ich einmal nicht mehr da bin?"
Tobi zuckte
zusammen.
"Wieso!" Seine Schultern hielt er etwas verkrampft nach vorne, seine
Hände krallten sich am Gartenschlauch fest. Rosalind bewegte ihre Lippen, um ihre
Frage zu wiederholen, doch brachte keinen Ton hervor. Stattdessen blickte sie
ihn erwartungsvoll an.
"Ich weiß nicht. Aber du bleibst doch sowieso hier."
sagte er und nickte kräftig mit seinem Kopf, als würde er es sich dadurch noch
einmal extra bestätigen. Wie aus einem Reflex streckte Rosalind ihre Hand nach
ihm aus und versuchte erst gar nicht, zu lächeln. Tobi ließ die Gießkanne los,
schmiss den wasserspeienden Schlauch auf den Rasen und blieb vor ihr stehen, steif
und ihre Hand ignorierend.
"Du willst ja ans Meer, nicht?" fragte sie ihn.
"Ja, mit Dir."
Rosalind zog ihre Hand wieder ein, ohne ihre Augen von ihm
abzuwenden.
"Was glaubst Du, was das Meer ist?"
"Wie meinst du das?" fragte
Tobi, der sich nicht rührte.
"Ich meine damit, was das Meer für dich bedeutet.
Für uns bedeutet. Ich glaube nicht, dass das einfach nur Wasser ist, so ohne Sinn.
Das Meer ist viel zu reichhaltig, um nutzlos zu sein. Und es war schon immer da.
Es wurde als Erstes geschaffen, und dort gab es als Erstes Leben. Wenn das Meer
nicht mehr existieren würde, dann gäbe es überhaupt kein Leben mehr auf dieser
Welt."
Rosalind überlegte und sah in ihren Gedanken auf das weite unergründliche
Meer.
"Ich hab von einem großen König gehört." sagte sie. "Poseidon heißt
er, und er soll ein Gott sein. Der Gott des Meeres. Ein Verwandlungsgott. Er ist
gut und böse zugleich, Beschützer und Bedroher, sichtbar und unsichtbar, aber
niemals zu fassen. Er kann sich in alles was er will verwandeln, und er wird niemals
müde, es zu tun, es gehört ja zu seinem Wesen. Er liebt die Welt und alles, was
dazu gehört. Auch die Menschen."
Tobi sah Rosalind mit großen Augen an.
"Er
gehört zu den mächtigsten Göttern. Und er lebt seit Urzeiten am Meer. Besser gesagt
im Meer. Er verfügt über die reichsten und wertvollsten Schätze der Welt." Rosalind
setzte sich etwas auf und stützte ihren Ellenbogen auf die Liege, während sie
leise und beherrscht zu Tobi sprach.
"Aber er ist nicht nur Gott des Meeres,
er ist auch Gott aller Gewässer, der Stürme und der Erdbeben. Jeden Tag fährt
er auf seinem zweispannigen Wagen, der von seinen Lieblingstieren, den Pferden,
gezogen wird, über die Wellen und wacht darüber, das alles gut läuft. Er besitzt
einen Dreizack. Das ist eine Waffe mit drei messerscharfen Zacken, die alles entzweien
können, was ihnen entgegenkommt. Aber er tötet damit nicht. Weißt Du, was er damit
macht?"
Tobi schüttelte den Kopf.
"Er schmeißt ihn mit voller Wucht gegen
einen Felsen, so dass dort ein enormer Wasserquell heraussprudelt, der wie ein
reißender Fluss rauscht. Und dieses Wasser ist so gesund, dass alle, die davon
trinken, ewig leben werden."
Tobi setzte sich nun unvermittelt an den Rand der Liege und nahm Rosalinds Hand
entgegen, die mit ruhiger Stimme weitersprach.
"Poseidon hat auch die Gabe
der Weißagung. Überhaupt ist er weise und kann Dinge sehen, die in ganz anderen
Dimensionen liegen. In Tausende Gestalten kann er sich verwandeln, das kannst
du dir nicht vorstellen, Tobi. Da ist alles möglich, im Meer!"
Sie schaute
ihm nun fester in die Augen, bemühte sich, jegliches Zucken in den Lidern zu vermeiden.
"Ich werd mich genauso verwandeln können. Und wahrscheinlich noch viele hundert
Male. So, wie ich jetzt aussehe... so kann das ja nur eine kurze Zeit bleiben.
Ich werde bald in eine andere Form übergehen und in der fortan weiterleben. Ist
wahrscheinlich besser. Sieh mal. Dieser Körper hier meint es wahrlich nicht sehr
gut mit mir."
"Aber du wohnst doch nicht im Meer! Du kannst dich nicht verwandeln!"
"Aber wenn ich zu denen aus dem Meer gehöre, dann werde ich es können. Vielleicht
komme ich ja auch daher, wer weiß das schon. Vielleicht kommen wir alle daher.
Unser Körper besteht ja fast nur aus Wasser, unsere Adern sind keine Flüsse, und
auf der Toilette entspringt jedes Mal ein kleiner Wasserfall aus uns. Das ist
doch schon ein kleiner Beweis, oder?"
Tobi zuckte mit den Schultern.
"Und
wenn wir zum Meer zurückgehen und uns dort niederlassen, dann können wir Poseidons
Quellwasser trinken und werden von diesen geheimnisvollen Göttern beschützt, die
jeden in ihre Arme nehmen, der sich ihnen anvertraut. Und die lachen über die
Zeit. Die kennen keine Zeit. Sie leben einfach, das ist alles."
Tobi vermochte
es nicht, seine diffusen Gedanken in Worte zu fassen.
"Wenn ich weg bin, Tobi,
wenn du mich nicht mehr siehst, dann bin ich also gar nicht verschwunden. Ich
bin dann nur eine andere Form, so wie du später auch eine andere Form sein wirst."
Tobi drückte Rosalinds Hand fester.
"Aber in was willst du dich denn verwandeln?"
fragte er. Rosalind überlegte.
"Hm. Vielleicht in Wasser. Dann kannst du dich
jeden Morgen mit mir waschen!"
Ein klein wenig musste Tobi grinsen.
"Ich
werd immer über dich wachen. Das versprech ich Dir. Ich hab dir doch von Deinem
Freund Hypnos erzählt. Der Schlafgott. Mit dem triffst du dich ja jeden Abend,
wenn du Deine Augen schließt. Und da auch Hypnos am liebsten am Meer ist, weil
er dort seine Ruhe hat, werde ich ihn immer sehen, und vielleicht bringt er mir
ja bei, wie ich dich sicher in die Traumwelt führen kann. Dann kannst du mir Deine
Wünsche schicken, wenn du den Tag verabschiedest."
Sie fasste Tobi am Nacken
an, zog ihn zu sich heran und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
"Ich werde
nicht, wie die Götter, Beschützerin aller Menschen sein. Aber ich werde Deine
Beschützerin sein. Nur Deine." sagte sie ihm und vermochte es nicht, ihre Augen
ununterbrochen an die Seinigen zu heften. Ihr Hals schnürte sich zu, während ihre
morschen Beine sich regten, den Wunsch in sich tragend, den Körper irgendwohin
zu tragen, vielleicht in das Land, in dem die Wahrheit lebte.
Sie umarmte
und streichelnte ihn, er grub seinen Kopf in ihre Schulter und es war ihr, als
ob er mit ihr in einen Guss verschmolz. Sie hoffte darauf, dass sie so, in dieser
Position, mit ihm zu Stein werden konnte. Zu einem Stein, aus dem Poseidon mit
seinem Dreizack das Wasser quellen ließ, an dem sich ein Jeder im Vorbeigehen
erfrischen konnte.
Seit
drei Tagen hört es nicht auf, zu regnen. Tobias geht auf die große Fensterfront
zu, bleibt davor stehen, die Hände in den Hosentaschen haltend, den Blick auf
die seidenen Fäden des herabprasselnden Wassers gerichtet. Seine Tochter spielt
auf dem Klavier und singt ein kleines Stück über die Vögel. Sie begrüßt die Amseln,
die Drosseln, die Finke und Stare in dem Lied und bedankt sich für den Frühling.
Tobias begrüßt den Regen.
Das wird ein schöner Frühling, denkt er sich. Wenn
Mami noch hier wäre, würde sie sagen: "Es könnte auch passieren, dass ich mich
in Regen verwandle. Und wenn du einen Garten hast, dann werde ich ihn bewässern,
damit Deine Pflanzen wachsen und Triebe kriegen." Jetzt nimmt sie ihren Lauf,
denkt Tobias und spürt einen leisen Anflug von Lächeln auf seinen Lippen. Über
die Steinplatten, bis zum Bürgersteig, über die Rinnsale in die Gullys, über die
unterirdischen Abwasserrohre bis hin zum Kanal, dort hindurch bis in den reißenden
Fluss, der sie hineinspült in das weite, große Meer, in dem wir uns wiederfinden
werden. Vielleicht.
(Katja Langer)