Ein wachsendes Gemälde
Die
Sonne stand schon sehr tief, und glühte mit ihren letzten Strahlen noch liebkosend
und großzügig in die Gesichter der vier Frauen, die auf zwei ausgebreiteten Decken
auf dem Gras saßen, umgeben von allerlei Kulinarischem, Sekt und Kaffee. Zwei
von ihnen unterhielten sich über andere Frauen, die sie gar nicht oder kaum kannten,
aber von denen sie genug meinten zu wissen, dass sie ihre Leben in ihrer eigenen
Fantasie umstülpen, umbrodeln und verbessern könnten, die anderen beiden hielten
ihr Gesicht ins ankommende warme Licht, um auch noch die letzten Strahlen dieses
Tages erhaschen zu können. Ein letzter Anflug von Pollen flog ihnen in Zeitlupe
entgegen, wie kleine weiche Sterne im Weltall, märchenhaft und glänzend.
Sie
waren gerade beim Thema Marie angekommen, um sich ausgiebig über ihren fragwürdigen,
ausgelassenen Umgang mit Männern, ihre Art sich zu benehmen und Menschen auszunutzen
und sie zu hintergehen, zu unterhalten, als Lotta sich einschaltete, und dabei
ihren Kopf zu den anderen drehte, der - wie es ihr schien - sich in sich selbst
auch noch einmal wand, durch die Sonne schwindelnd.
Marie ist eine derjenigen,
die zu Frauen nur aus reiner Höflichkeit nett sind. Sie meint es nicht ehrlich.
Und schon gar nicht mir Respekt, sagte Lotta, in deren Kopf sich Marie wie ein
dickes großes Gemälde mit hässlichem Rahmen eingestampft hatte, ein Bild, das
an die Wand gehämmert und mit der Zeit reicher an Farben wurde, an grellen stechenden
Farben, die das Bild zwar lebhafter machten, aber nur im Sinne eines guten Negativbeispiels,
das Lotta abrufen konnte, wenn sie es benötigte.
Ich kenn sie gar nicht, ich
hab sie nur einmal gesehen, warf Luisa ein, doch die anderen winkten ab und ließen
verlauten, dass es über diese Frau nichts Positives zu reden gab und dies auch
in aller Munde war.
So unterhielten sie sich bis die Sonne hinter dem Horizont
verschwand und stattdessen alle hundert Meter die Neonlampen aufleuchteten, die
Frauen abschreckend und verjagend.
Lotta und Luisa hatten den Tisch zu Ende gedeckt, Luisa schaute noch einmal in die Kochtöpfe, schätzte die Zeit bis zur Servierfertigkeit, und setzte sich dann zu Lotta, die sich bereits am Wein bedient hatte und Luisa ebenfalls einschenkte. Christoph sollte mit seiner unbekannten Bekannten in fünf Minuten da sein, doch sie wussten um seine nachlässige Art der Zeit gegenüber und waren sich darüber einig, dass es sich nicht lohnte, mit dem Wein zu warten. Außerdem stimmten sie sich gerne gemeinsam auf die Abende ein, die sie zusammen mit Freunden verbrachten, und seitdem sie zusammenwohnten, wurde der Wein euphorischer und öfter getrunken. Bevor sich Lotta ganz entspannen konnte, zündete sie noch die Kerzen an, dimmte das Deckenlicht und legte gelassene Cocktailmusik auf. Es klingelte an der Tür, das erste Mal seit langem war Christoph pünktlich, das musste wohl an der Begleitung liegen.
Luisa stand
auf und ging zur Tür, zupfte sich noch mal ihr Kleid zurecht, bevor sie sie öffnete.
Sie blieb stehen, und sah Christoph ins Gesicht, schweigend, wie angewurzelt.
Lotta kam hinterher, blieb neben ihrer Freundin stehen, und erweiterte ihre Augen
zu großen Kugeln.
Christoph stellte seine Begleiterin Marie vor, als die beiden
Frauen wie aus einem Guss zu lächeln begannen, kühl und spielend, und so, als
hätten sie länger vor dem Spiegel geübt, die genauen Falten- und Mundwinkelstellungen
studiert, ebenso wie mit welcher Bewegung man dort am besten hinkommt.
Lotta
gab Christoph einen Kuss auf die Wange, und damit Luisa in der Zeit nicht leer
ausging, reichte sie Marie ihre Hand, knapp, ohne zu drücken, mehr schleichend,
haschend, wie ein Windzug, der unbemerkt durch die Türritzen zieht.
Danach
tauschten die beiden, und Lotta war dran, der fremden Bekannten die Hand zu geben,
und sie gastfreundlich anzulächeln.
Christoph zeigte Marie die Garderobe und als sie nach der Toilette fragte, stieß
Lotta ihre Freundin leicht an den Fuß, die sich in Bewegung setzte, um dem Gast
den Lichtschalter im Klo zu zeigen, der sich versteckt auf der anderen Seite des
Raumes befand.
Christoph und Lotta blieben zurück, Lotta stellte mechanisch
die vorbereiteten Sektgläser auf den Tisch, die die Funktion hatten, als Aperitif
schon einmal etwas Stimmung in den Raum zu bringen.
Geht's Dir nicht gut?
fragte Christoph, der etwas besorgt zu sein schien, denn Lotta war sonst - gerade
wenn neue Gäste erschienen - immer besonders gut aufgelegt.
Doch doch ....
mir ist diese Frau bekannt! Das ist alles.
So? Christoph sah sie fragend an, doch sein Blick verhallte im schweigenden Tunnel
seines Gegenübers, der nur leicht pulsierte, vielleicht vor Scham, vielleicht
vor Hilflosigkeit oder innerem Widerstand.
Sie scheint Dich aber nicht zu
kennen.
Darauf drehte Lotta ihm den Rücken zu, um aus dem Ofen den Braten
zu nehmen, der an einer Stelle schon leicht verbrannt war. Christoph erklärte
nun, dass Marie eine sehr besondere Person sei, und es ihm gut in ihrer Gegenwart
ginge. Er sei nicht mit ihr zusammen, aber er wüsste ja nicht, was sich noch entwickeln
konnte, im Laufe der Zeit.
Was an ihr interessant sei, fragte Lotta monoton,
und Christoph antwortete ohne zu zögern, dass man ihr alles erzählen konnte, einfach
alles. Lotta wollte gerade einwenden, dass er ihr und auch Luisa ebenfalls alles
erzählen konnte, als Marie wiederkam, mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht,
bestätigend, dass die beiden Frauen es sich hier sehr schön gemacht hatten. Einladend
und gemütlich.
Sie setzten sich an den Tisch, Luisa kam dazu, und entschuldigte
sich, sie hätte noch ein wichtiges Telefonat zu erledigen gehabt.
Sie
stießen an, Christoph blinzelte zu Marie hinüber, die kühn lächelnd und aufrecht
sitzend ihr langes, dickes, mittelbraunes Haar von einer zur anderen Seite des
Kopfes warf. Ihre Augen waren bernsteinfarben, und funkelten wie kleine Edelmetalle
im Schein des Kerzenlichtes, das ihrer Silhouette einen Anflug von anrüchiger
Eleganz gab.
Sie verhielt sich recht schweigsam und trank langsam, während
die anderen Frauen immer mehr tranken und sich dadurch erfolgreich die Sinne verschönten.
Christoph erzählte von der Arbeit und seinem Leben, bis er in dem Kapitel Frauen
angekommen war, in dem es um seine Begleiterin ging, und wie er sie kennen gelernt
hatte. Lotta schmiss ab und zu ein portioniertes Lächeln auf den Tisch, Luisa
wurde derweil den Hunger nicht los, und knabberte an den Knochen des Bratens den
ganzen Abend lang herum.
Als der Wein aus war und das Essen bis auf die Knochen aufgegessen, entschuldigte
sich Luisa, ihr würde es nicht gut gehen, sie müsse schon ins Bett, aber Lotta
würde bestimmt noch mit den beiden weitermachen.
Natürlich, ich kann ja auch
noch Wein vom Kiosk holen! sagte Lotta, Christoph ansehend, und für einen kurzen
Moment vergessend, dass diese Person daneben saß, über die so oft so schlecht
geredet wurde, am allermeisten jedoch durch sie selbst.
Christoph ließ es
sich nicht nehmen, an die frische Luft zu kommen, und so ließ er Lotta allein
mit Marie am Tisch zurück, Luisa hatte allen schon einen schönen Abend gewünscht.
Das einzige, was nun zu hören war, war das Summen des Kühlschrankes, das nun leicht
vibrierend immer lauter wurde und das schweigsame Gespräch übertönte. Marie saß
da, mit verschränkten aber entspannten Armen, und beobachtete, wie der Docht langsam
in dem heißen Kerzenwachs unterging, während Lotta die Tischdecke zurechtzupfte
und den Aschenbecher auf den Tisch stellte.
Rauchst Du? fragte Lotta, die
gewahr wurde, dass es die erste Frage war, die sie heute dem neuen Gast stellte.
Marie nickte, und holte sogleich eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche,
in der sie weiterkramte. Lotta hielt ihr ein Feuerzeug hin, und fing dann an,
die Krümel mit den Handflächen von der Tischoberfläche zu fegen, während sie darüber
nachdachte, wann Christoph losgegangen war und wann er endlich wiederkommen würde.
Du bist sehr gut mit Christoph befreundet, hm? fragte Marie, eine Zigarette
zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, diese immerzu drehend. Als Antwort bekam
sie ein kurzes Nicken zu sehen, das eine nicht erkennbare Gänsehaut auf ihrer
Haut provozierte, obgleich es im Raum sehr warm war. Sie wollte Lotta noch sagen,
dass Christoph viel über sie erzählt hatte, aber nun überlegte sie es sich anders
und gab die sie erreichte Kälte wieder zurück, in dem sie schwieg.
Lotta fragte, ob sie mit Christoph zusammen wäre, doch Marie winkte ab. Christoph sei ein interessanter Mensch, doch die Chemie würde nicht stimmen, um sich wirklich aufeinander zu stürzen, ohne Wenn und Aber, und eine ernsthafte Beziehung einzugehen. Sie erzählte auch, dass sie generell keine Beziehung wünschte, zu groß sei ihr Egoismus und ihre Zerstreutheit. Lotta kamen Fragen hoch, Vorwürfe, die sie der Fremden machen wollte, sie wollte ihr zeigen, dass sie alles über sie wusste, aber noch war die Barriere zu stark, und Lotta brauchte lange Anlaufzeiten, um ihre Gedanken herauszubringen. So zündete sie sich eine Zigarette an, die sie aus Maries Packung genommen hatte, und blies den Rauch auf die Tischfläche, wie um einen Ring freizumachen, in den es nun galt einzusteigen.
Der Ring weitete sich bis in das Wohnzimmer aus, in dem sich die drei in die Sofaecke setzten, um über Gott und die Welt zu diskutieren. Jeden Satz, den Marie hervorbrachte, zerhackte Lotta in ihrem Kopf, um ihn auf Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit zu überprüfen. Sie versuchte, in allen erkennbaren und unerkennbaren Zeichen Hinterlist und Heuchlerei herauszuziehen, doch der Faden, an dem sie da zog, stockte, und blieb widerspenstig an Marie hängen, von seinen eigenen Inhalten überzeugt. Je mehr Lotta versuchte, die Kulisse zu entfernen, desto dicker wurde diese, desto starrer blieb sie an ihrem Standort. Im Ring war ein Kampf eröffnet, in dessen einer der Kämpfenden nichts tat als dazustehen, bereit, sich schlagen zu lassen.
Die Weinflasche war leer, Christoph auf der Schwelle, sich verabschieden zu wollen. Marie saß da wie das Gemälde, dem es egal war, an welchem Ort es sich befand, denn überall strahlte es voller Farben und asymmetrischen Strichen, die als ganzes kein identifizierbares Bild abgaben. Lotta war neugierig auf die Auflösung, wollte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, das Puzzle nicht gelöst zu haben, und schlug vor, selbst als nächste den Wein zu besorgen. Marie nickte mit ihrem Kopf, sie schien kaum betrunken zu sein, obwohl sie mittlerweile auch schon einiges zu sich genommen hatte, Christoph wünschte derweil den beiden noch einen schönen Abend. So verließ er mit Lotta die Wohnung, die alleine weiter zum Kiosk ging, sich fragend, über was sie sich nun eigentlich mit dem ungewollten Gast unterhalten sollte, dem sie nun einen Wein holte, damit er nicht so bald wieder verschwand.
Marie hatte es sich inzwischen gemütlich gemacht und spanische Musik aufgelegt.
Sie wollte mehr über Lotta wissen, woher sie kam und was sie tat. Diese antwortete
bereitwillig alles, was sie gefragt wurde, bis sie bei ihrem verstorbenen Vater
und ihrer selbstsüchtigen Familie angekommen war. Sie sprudelte auf einmal wie
ein Wasserfall, und Marie fing das Wasser weich auf und ließ es den Bach sanft
hinunterfließen. Als Lottas Atem schwerer wurde und sie Luft holen musste, stellte
Marie fest, dass sie im Grunde viele Gemeinsamkeiten mit Lotta hatte, und erwähnte
die Parallelen mit ihrer eigenen Familie, und ihrem verstorbenen Vater.
Die
Leute glauben mir nichts, weil sie meinem Vater nichts geglaubt haben. Es ist
wie eine Erbkrankheit, mit dem Unterschied, dass es diese hier beim Betroffenen
selbst nicht gibt, sondern nur in den Köpfen der Betrachter. Das macht sie so
gefährlich, sagte Marie.
Lotta blickte sie zögernd und fragend an, als diese
ihre Schultern provozierend leicht nach vorne zog.
Denkst Du nicht auch von
mir, dass ich lüge, wenn ich den Mund aufmache? Dass ich meine eigenen Freunde
bescheiße? wollte Marie wissen, während sie Lotta mit einem imaginären Bohrer
ansah, die Farben des Gemäldes spritzten Lotta ins Gesicht, deren Augen nun zu
jucken anfingen.
Der Rauch ... es ist so stickig hier, entgegnete Lotta, stand
auf und öffnete die Balkontür. Der Boden unter ihren Füßen fing an zu wackeln,
und bevor sie sich wieder umdrehte, um zum Sofa zurückzugehen, schloss sie kurz
die Augen, in der Hoffnung, Marie wäre danach nicht mehr da, in einer kleinen
Rauchwolke verschwunden.
Sie setzte sich, und warf einen kurzen Blick auf
Marie, die an ihrer Frage klammerte wie an einer Truhe, dessen Inhalt sie unbedingt
sehen wollte.
Es wird viel geredet, sagte Lotta knapp, schenkte sich
Wein nach, und als sie sich eine Zigarette anzünden wollte, glitt ihr das Feuerzeug
aus der Hand, das Marie sogleich aufhob.
Es ist wie der Schneeball, fuhr Marie
fort, während sie Lotta Feuer gab.
Man schnappt etwas auf, und noch etwas,
dann konstruiert man sich von einigen möglichen Geschichten natürlich die einfachste,
und dann verselbstständigt es sich. Mein Vater hat für das, was er tat, einen
hohen Preis gezahlt, und hat versucht, den Schneeball selbst zu stoppen, indem
er einsichtig war. Doch der war schon in voller Fahrt, nicht mehr aufzuhalten,
und hat mich auch mitgerissen. Mitgehangen, mitgefangen, sagte sie, höhnisch lachend.
Lotta wollte
sagen, dass sie von dem Vater gar nichts wusste, und von dem, was er getan hatte,
doch Marie fing das Wasser rechtzeitig ab, lächelte, und erwähnte mit leicht zitteriger
Stimme, dass für die meisten die Wirkung bequemer sei als die Ursache.
Die
Fragen, die Lotta ihr einst stellen wollte, vermischten sich zu einem einzigen
Farbklecks, in dem keine der darin vorhandenen Farben definierbar waren, und das
Gemälde selbst kam ihr nun schön vor, rein und klar, sie wusste, dass sie hinter
jedem gemalten Strich immer noch mal wieder einen weiteren, noch tieferen Strich
entdecken würde. Sie verlor sich in den Strichen und schaute sich darin um...
Lotta!
Die
Farben verschwammen und formatierten sich zu Maries Gesicht vor Lottas Augen.
Jene saß noch in der gleichen Position auf dem Sofa wie am Anfang, und hatte nach
wie vor das wissende Lächeln aufgesetzt, welches Lotta nun erwiderte.
Marie
legte ihre Hand auf das Knie ihres Gegenübers, und sagte:
Ich glaube, dass
Du jenseits dieser Grenzen denkst, ich hab das Gefühl, Du verstehst mich. Viele
machen einfach zu, wenn man sie auffordert, die Kulisse wegzunehmen. Aber Du....
Sie ließ Lotta, nachdem sie fast unmerklich sanft in deren Knie gekniffen
hatte, los und strich sich, müde geworden, über ihr Gesicht.
Lotta schaute
zu Boden und kaute auf ihrer Lippe herum. Die Worte "du verstehst mich" und ihre
eigenen Worte "die lächelt nur aus Höflichkeit, Marie kannst Du nicht trauen,
trauen trauen, trauen..." sausten ihr von einem Ohr zum anderen innerhalb ihres
Kopfes und brachten ihre Schläfen zum Pochen. Sie konnte Marie nicht sagen, dass
sie nichts verstand, doch sie hatte das Gefühl, dass sie irgendwie sogar doch
etwas begriff. Vielleicht war ihr Geist um diese Stunde zu vernebelt, vielleicht
auch in dieser Zeit oder in dieser Wohnung.
Von vielen wurde nun auch Lotta gemieden, die mit Marie überall dort auftauchte, wo es ihr passte. Lottas Wahrheiten änderten sich von Zeit zu Zeit, und sie lachte darüber, denn es war nichts wahrhaftiges darin. Abends schlief sie manchmal mit dem Bild im Kopf von dem Gemälde ein, das inzwischen größer geworden war, und seinen Rahmen abgestreift hatte, um die Farben in alle Richtungen auszubreiten. Sie vermochte alles zu sehen, sogar von der Rückseite sah sie sich dieses Gemälde an, und begann, es wahrhaftig zu lieben.
(Katja Langer)