Das Restaurant Wienerwald ist weg, und ich befürchte...
Das Restaurant Wienerwald, das ein Stück vom Stern lag, ist weg, und ich befürchte, dass es bald Protestrufe geben wird.
Ich fuhr heute mit der Linie Eins vom Holländischen Platz hoch. Ich sah den leeren Laden, und ich fing an, zu trauern, zu fürchten.
Vor ein paar Jahren protestierten einige mit dem Argument, dass sich die Kasseler Innenstadt in die Döner - Katakomben verwandele. Die kleine Straße ist ein Beispiel dafür. Es gibt einen Frisörladen. Dem folgt ein großer, leckerer Dönerladen. Da ist das Sonderangebot: Putendöner DM 5, 50. Mein Favorit mit scharfem Chillipulver! Danach eine Diskothek, ein türkischer Juwelierladen.... Dann gibt es wieder ein türkisches Restaurant, dessen Kellner aus Syrien kommt. Dieser kann zugespitzte Geschichten erzählen - spontan, in seinem Kauderwelsch-Deutsch. Seine Grammatik weicht von der deutschen Schulnorm ab, und die Erzählhaltung samt seiner Gestik und Mimik ergänzt seine Wortschatzlücken. All diese sind keine Verständnishürden. Die Impressionen seiner scharfsinnigen Erzählungen bleiben nachträglich in meinem Kopf wie die Bilder eines guten Filmes. Frank sagte mir, dass es da den besten Lahmacun in Kassel gebe. Wir gingen eines Freitagabends dahin und haben seine Behauptung genussvoll unterstrichen. Ein Laden weiter verkauft sich der türkische Schnellimbiss auch nicht schlecht.
Auf der anderen Seite sieht es noch intensiver aus. Zwei-drei große türkische Lebensmittelmärkte, Dönerbuden, zusätzlich der chinesische Schnellimbiss Brüder Lee, dessen Schnellgerichte von meinem Copy-Shop-Bekannten als "köstlich" beurteilt, mir weiter empfohlen wurden. Sogar das große Neon-Schild "Stern-Markt" steht auf einem türkischem Supermarkt. Dann reihen sich asiatische Läden an, aus deren Fenstern Samurai-Schwerter und asiatische Puppen-Gesichter alle Passanten ansprechen. Ihnen ist gleichgültig, ob einer über sie lästert.
Sie fragen: Was ist das? Wo sind wir? Die Antwort: Das ist ein Stück Deutschlands. Ein Stück Kassels. Ja, zweifelsohne, weil vom Hochhaus aus der mächtig-große Mercedes-Stern diese exotischen Geschäfte bewacht - fürsorglich und patriarchalisch. Übrigens: Mercedes, eins der modernen Wahrzeichen Deutschlands, ist wiederum auch nicht so "deutsch", weil sich die Wurzeln dieses Namens eher im Romanischen finden lassen als im Germanischen.
Das Wienerwald lag vereinsamt an einem Straßenende dieser bunten Reihe, und es drehten sich an Spießen viele Händel in einem großen Schaufenster. Diese fettigen Tiere erregten bei mir weniger den Appetit, als viel mehr die Frage: Mein Gott! Werden all diese Teile an einem Tag aufgegessen? Oder an zwei Tagen? Oder in einer Woche? Der Kasten blieb immer voll, und ich hatte den Eindruck, dass ich einige Hühner täglich sah. Sie waren meine toten Bekannten, die aber da waren, um mich täglich beim Vorbeigehen zu begrüßen. Jetzt waren sie auf einmal verschwunden. Hinterlassen mich.
Ja, nun ist das traditionelle Restaurant weg. Samt seinen Hähnchenteilen. Und ich befürchte, dass dahin noch ein türkischer Imbiss ziehen wird. Oder ein Indischer? Und ich befürchte, dass nochmals Protestrufe zu hören sein werden, wie zum Beispiel: Kasseler Innenstadt: Lahmacunviertel! Lahmacunstadt! Döner-Avenue! Döner-Straße! Döner-Street!
Wenn man die Straße runterkommt, langt man zum Hauptstandort der Universität Gesamthochschule Kassel. Da befinden sich Fachbereiche: Geisteswissenschaften, Sprachen, Architektur, .... Und es könnte sein, dass in den nächsten Tagen ein Hochschulgelehrter vom Stern zum Holländischen Platz zufällig zu Fuß herunterlatscht, und in seiner Entfremdung ein Urteil wie der Berliner Senator fällt. So etwa: Wenn ich zur Hochschule komme, fühle ich mich im eigenen Land fremd! Ich finde da nichts Deutsches!
Und die Meinung eines Hochschulgelehrten kann man nicht einfach zur Seite schieben. Ein derartiges Urteil würde wiederum Protestrufe fördern - angekurbelt. Und auch die Diskussionen um die bangen, sich wiederholenden Fragen des Fernsehens! Jene zahllosen Fernseh-Debatten, deren periodische Ausstrahlungen von sehr witzigen, jungaussehenden Damen und Herren, moderiert werden: Wo ist heute die deutsche Kultur? Was ist mit der deutschen Sprache los? Wie weit ist die Kasseler Nordstadt eine deutsche Stadt? Parallel wird das Thema auch in den intellektuellen Kreisen weiter diskutiert. Die fetten Schlagzeilen. Die listige Hermeneutik. Die gefühlsrührende Rhetorik. Egalité, fraternité und humanité werden dazwischen irgendwo schweben - im vernebelten Interessenchaos.
Infolge dessen werden ein paar Dönerbuden verschwinden müssen, auch wenn ein junger Hip-Hop-Moderator diese Begebenheit irgendwo in der Welt - vielleicht auf dem indischen Fernseh- und Kinokontinent - cool und witzig darstellen würde. Abgesehen von der versteckten Tatsache, dass der coolwirkende Star seine ganze Angst und Sorge vorläufig ins Klo furzt, um dem Kamera-Team belanglos seine Zähne und Kostüme zu präsentieren.
Einerlei! Es würden eventuell einige exotischen Gastronomen der Kasseler Innenstadt deplaziert sein. Mein Favorit: Putendöner DM 5, 50 vielleicht? Oder der mit dem besten Lahmacun Kassels? Und wenn es den wirklich trifft, dann könnte es durchaus sein, ...
(Aus:
Die galoppierende Kuhherde, Essays und andere Prosa,
Schweinfurt 2001, ISBN
3932497589, DM 22, --)