In Wien wird einem anders
Drei Szenen
Mindestens vierunddreißig trostlose Wintermäntel aufgereiht.
Mindestens vierunddreißigmal übriggebliebenes Magnicht von der
Stange. Kragen hin, Kragen her. Drehen und wenden. Vertrocknete
Manteltaschenkrebse beim Wegschauen. Beim Hinschauen: nichts.
Frageköpfe auf teilentblößten Kaufinteressenten unterhalten sich aus den
Umkleidekabinen mit Warteangehörigen.
Bunte Fäden auf den Restmänteln, auch verlorene Haare.
Eine ungefragte Verkäuferinnenstimme: "Grau steht Ihnen bestimmt."
Man nimmt einen schwarzen Mantel mit schwarzen Knöpfen vom Kleiderbügel. Eine
Nummer größer als nötig.
"Aber ein grauer wäre schön."
Man schweigt ins Leere. Geht in eine Kabine, zieht den aufdringlich bunten
Vorhang zu, hängt den Rucksack an den Haken, den Mantel davor, setzt sich auf den Hocker,
betrachtet sich in zwei Spiegeln. Umkleidekabinen waren früher enger,
schäbiger, ohne Hocker außerdem. Überall. Man kämmt sich, verteilt Haare auf dem Boden.
Von draußen: "So probieren Sie doch den grauen." Ein Mantel samt
Eindringlingsarm
zwängt sich durch den Vorhang herein. Widerstand ist zwecklos. Metallbügel
knirschen,
der graue Mantel drängt sich vor den schwarzen.
Man sucht nach einer Falltür in der Kabine, nach einem Geheimausgang.
Natürlich gibt es keinen. Seufzen ändert nichts.
Man zieht die Schuhe aus. Das tut man immer in Umkleidekabinen. Der graue Mantel
stinkt abweisend. Ein Knopf baumelt nur noch an einem dünnen grauen Faden. Man zerreißt den Faden, wirft den grauen Plumpknopf über den Vorhang. Es
scheppert.
Von draußen die Verkäuferinnenstimme: "Ja, was ist denn das?"
"Ein befreiter Knopf."
Man will längst keinen Mantel mehr. Keinen grauen und auch keinen schwarzen.
Das sagt man aber nicht sondern zieht die Schuhe wieder an und verlässt die Umkleidekabine mit einem lautlosen Gruß im
frisch frisierten Kopf.
Man steht in der murmelnden Warteschlange vor
der Supermarktkasse. Ganz am Ende. Die Schlange erstreckt sich zwischen Sonderangeboten
und
Tiefkühltruhen, die verschämt im Winter gefrorene Spinatziegel herzeigen
müssen. Im
Sommer sind sie stolzer, dann gibt es bunt verpacktes Fruchteis. Aber es ist Winter.
Vor einem lauert ein weder alter noch junger unrasierter Wollmützenmann mit
Ohrring, der eine Riesenpackung Frankfurter und Bierdosen umarmt. Vorne wird es
laut: die Bankomatkarte einer Tentakelhaubenpensionistin widersetzt sich. Die
Schlange zischt bedrohlich und zieht sich zusammen.
Der Wollmützenmann dreht sich zu einem um: "Immer diese Pensionisten. Am
Samstag müssen die einkaufen gehen."
Man nickt unbeteiligt. Nichts sagen. Hinter einem hängt sich ein alter Mann
samt Einkaufswagen an die Schlange.
"Haben die ganze Woche Zeit, und dann gehen sie am Samstag einkaufen und
halten alles auf!" Der Ohrringträger zappelt.
Man schaut durch ihn auf die stockende Warteschlange.
"Ich bin ja selbst Pensionist. Und kaufe nur heute ein, weil ich unbedingt muss."
Der Mann umklammert seine Nahrungsmittel als müsse er sie beschützen.
Man nickt wieder. Man raunt: "Eh." Wenn einer unbedingt muss, dann muss er
eben. Nebenbei bemerkt: Ist denn mittlerweile schon beinahe jeder in Wien Pensionist?
Die Zeitlupenpensionistin hat bezahlt und bricht unendlich zögernd von der Schlange weg wie ein
Eisberg.
Der Bierdosenhalter schüttelt den Kopf: "Tsssssss."
Die Schlange kriecht weiter.
Es hat geschneit. Der frisch gefallene Schnee
glänzt in der Sonne. Man geht am Donaukanal spazieren. Ein winterfest
verpackter Mann samt Schäferhund kommt einem entgegen. Der Hund bleibt stehen,
schnüffelt im Schnee. Der Mann bleibt stehen, schaut seinem Hund beim
Schnüffeln zu. Der Riesenhund scheißt einen Riesenhaufen in den blütenweißen
Wegrandschnee.
Der Mann schaut seinem Hund beim Scheißen zu. Der Haufen dampft. Der Mann
schiebt geschickt frisch gefallenen Schnee über den Hundekot. Nichts verrät
den anrüchigen Inhalt des niedlichen Schneebuckels. Dann setzen die Beiden ihren Weg fort.
Wenn Wiener Kinder im Schnee spielen, erleben sie manchmal eine
Riesenüberraschung.
(Doris Krestan; 02/2005)