Das
(nicht unbedingt subjektive) Vakuum
von Doris Krestan
"Nehmen Sie
Platz!" Stefan zuckt unwillkürlich zusammen obwohl er weiß, dass diese
Aufforderung nicht seiner Person gelten kann. Nicht mehr. Daher kehrt er unverzüglich
an den Ausgangspunkt seiner isolierten Betrachtungen zurück:
Vernarbte
Landschaft zu vermarkten ist eine denkbar undankbare Aufgabe in einer
Gegenwart, die keinen Stauraum hat. Weder Nostalgieschnappschüsse noch bunte
Tortendiagramme von Wachstumsprognosen beseitigen einen solcherart
verinnerlichten Notstand. Leere Versprechungen, leere Drohungen. Nicht mehr als
ein Haarriss im Fassadengeschwätz gefolgt von Chorschweigen.
Während Stefan
noch an der einzig möglichen Umkehrung des Wesens seiner Überlegung, also einer
undenkbar dankbaren Aufgabe herumkonstruiert, bremst der Zug. Stefans Blick
streift die Umsitzenden. Nicht aus Interesse, sondern aus Langeweile. Die Augen
der Mitreisenden wirken, als wären sie aus Wachs. Inmitten von Gesichtern, deren
Mimik längst eingestürzt ist. Stefan schaut aus dem Fenster. Man hätte
zeitgerecht Gelder für Sanierungen bereitstellen sollen und auch die
Inkubationszeit von Schlagzeilen, die allmorgendlich in die Stirnfalten
einsickern, hätte man bedenken müssen. Denn sogar auf den ersten Blick
ungetrübte Schlagzeilen dehnen sich bei Abkühlung aus und verursachen nach und
nach Sprünge in den Jedermann-Masken und Alltagskulissen. Dahinter hat sich
längst die Langeweile wie Schimmelpilz auf liegengebliebenem Brot ausgebreitet:
schmierig, Konturen verwischend. Nicht nur heute findet Stefan all das beinahe
beruhigend normal. Zumindest verebben die Wahrnehmungen und die öffentliche
Zeit vergeht.
"Ich habe
jetzt keine Zeit!" meldet sich ein neben Stefan Sitzender zu Wort.
"Wer hat Ihre Jetzt-Zeit?" fragt er reflexartig zurück. Ein
unangenehmes Benehmens-Überbleibsel, der harten Ausbildung zum Trotz.
Selbstverständlich bekommt er keine Antwort zu hören. Grundsätzlich wäre er
verpflichtet umgehend Meldung über sein Fehlverhalten zu erstatten. Nach
Abschluss der Ausbildung beabsichtigte oder unterlaufene unqualifizierte
Äußerungen sind nämlich, im Rahmen der freiwilligen Selbstkontrolle, melde- und
gebührenpflichtig. Stefan schaut sich um. Weil niemand von seiner unzulässigen
Äußerung Notiz genommen zu haben scheint, vergisst er den Vorfall
augenblicklich. Wie so oft.
Gestern hat
irgendjemand äußerst schlagzeilentauglich vorgeschlagen
"Einigungsservice" sowie den Empfang des Meinungssenders im Rahmen
der Hilflosenvorsorge anzubieten. Um einerseits die Medienamputierten zu
re-integrieren, andererseits die Medienflüchtigen heimzuholen. Kein Umweg ist
der Beschränkung zu beschwerlich, kein Publicitygag zu peinlich. Vom
Reklamesumpf ist schon so mancher verschlungen worden wie von Treibsand. Man
soll ja auch darauf vertrauen, dass wenn erst ausreichend Menschenmaterial
versunken ist irgendwann keine Gefahr mehr besteht selbst unterzugehen. Eine
Art Räuberleiter der Entwicklungsverweigerer. Wenn das ans Licht kommt, hetzt
sich bestimmt ein feinnerviger Anwalt auf uns. Mit der Unausweichlichkeit eines
Naturgesetzes, denkt Stefan.
Vielleicht sind
wir Teil einer globalen Mordallianz? Global, oral, asozial - ein verzerrtes
Echo im Gehirn: vokal, instrumental, international. Da ertönt ein akustisches
Signal, das Stefan als "maschinellen Sandkistenjodler" bezeichnet,
und der Zug beschleunigt.
Ist es mehr als
sonst; mehr als umsonst? Das wärmstens empfohlene katholische Tagesmenü: Wiener
Schitzel. Katholisch?
"Immerhin wird das Fleisch züchtig verhüllt, und die kollektive Identität
steht und fällt mit der unverdächtigen goldbraunen Kruste. Wir wollen
keinen neuen Fleischskandal", sagte das schwierige Parteimitglied und
grinste dabei über beide Zahnreihen in die Kameras. "Es wird keinen Frieden
in diesem radikalfundamentalistischen Konsumentenstaat geben", war dort zu
lesen. Ganz echt in seiner Falschheit; unglaublich schlüssig, glaubhaft
unschlüssig. Der Krieg zum Film vom Stück - oder so ähnlich ...
Stefan beobachtet
die Reisenden: Wer nicht gerade zwanghaft im bedruckten Gratisbuntpapier
blättert, starrt Budgetlöcher in die Luft und bewegt die Lippen im
Selbstgespräch. Weil es ein Volk von Netto-Rednern ist: mehr reden als zuhören
ist die Devise. Bis zur Redesperrstunde um 22 Uhr ist Schweigen eigentlich
verboten, daher murmeln viele vor sich hin: "Nur nicht auffallen."
Fallen ist überhaupt gefährlich geworden, seit das soziale Netz nicht mehr auf-
sondern einfängt.
Die Freude über
die langersehnte Rechtsverstärkung ist beinahe grenzenlos, nun da es offiziell
keine Grenzen mehr gibt. Besonders die Abschaffung der Kontrollen an der
Armutsgrenze hat sich bezahlt gemacht, und der Andrang der Rückkehrfähigen hält
sich in Grenzen. Wird in Grenzen gehalten, denkt Stefan.
Schwarzfahren ist
übrigens längst legal, sofern man ein lebenslanges Nichtwahlgelübde abgelegt
hat und rund um die Uhr Rufbereitschaft für Hundekotbeseitigung in Kauf nimmt.
Solche Menschen sind an einem am linken Handrücken eintätowierten Kanalgitter
zu erkennen. Wo ein Wille ist, ist nämlich auch ein Weg. Wo nur noch ein
Wille ist, bleibt auch nur ein Weg übrig.
Stefans Weg ist
eine Pendelbewegung von einem beliebigen Ende der Stadt zu irgendeinem anderen,
morgens einmal unterstädtisch quer durch und abends an der Oberfläche in eine
andere Richtung. Es könnte ein durchschnittlicher Werktagsweg sein, ein Slalom
durch Menschengetümmel, ein Hürdenlauf über Hundehaufen - offenbar werden nicht
genügend Schwarzfahrer legalisiert ...
Aber Stefan ist
vermeintlich ganz bewusst ohne konkrete örtliche Zielvorgaben unterwegs. Das
gehört zu seinem Beruf, denn er ist einer von ungefähr neunhundert geringfügig
beschäftigten Platzsuchern, die möglichst unauffällig die grauen Untiefen der
Stadt durchstreifen. Hat er einen augenscheinlich den Normen entsprechenden
Platz geortet, übermittelt er die Koordinaten mit der Aufforderung "Nehmen
Sie Platz!" telefonisch an seine Kollegen von der Gruppe der Platznehmer
und zieht weiter. Diese Aufteilung der Kompetenzen ist gesetzlich festgelegt, und
Stefan ist vor zwölf Jahren auf die konsequente Einhaltung dieser Vorschriften
vereidigt worden.
Stefan hat selbst
als Platznehmer gearbeitet. Doch das ist eine Ewigkeit her, sagt er sich.
Erbarmungslos hat er Plätze genommen, ohne Zweifel, ohne Bedenken, bei jeder
sich bietenden Gelegenheit. Erfahrungsgemäß hält es keinen lange bei den
Platznehmern, und Stefans Laufbahn stellt keine Ausnahme dar.
Damals, vor zwölf
Jahren, hat er das Frageverbot ohne zu zögern unterschrieben und die mit der
Anstellung verbundene Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Umstimmung
durchaus begrüßt. Auch dass es offiziell untersagt war und ist mit Menschen,
die für ihre Arbeitszeit bezahlt werden, über seine Tätigkeit zu sprechen
bereitete ihm von Anfang an keine Unannehmlichkeiten. Denn Stefan ist kein
mitteilsamer Zeitgenosse. Aber das Schweigeverbot beachtet er peinlich genau.
Daher murmelt auch er innerhalb seiner Ummantelung.
In den
Industrienationen des einundzwanzigsten Jahrhunderts spinnen Städte nämlich um
jeden ihrer Einwohner eine unsichtbare Ummantelung, welche den Klang der
eingepferchten Stimmen zurückwirft, sodass kaum etwas nach außen dringen kann,
und die Menschen nach und nach hauptsächlich selbstverursachte Klänge hören.
Diese Entdeckung sorgte vor einiger Zeit tagelang für Schlagzeilen.
Selbstverständlich gibt es mittlerweile Untersuchungen, Statistiken und
Zertifikate, welche dieser Entwicklung absolute Unbedenklichkeit bescheinigen
und sie hymnisch als Evolutionssprung bejubeln. Infolgedessen wurde in den
Umstimmungs-Gremien Handlungsbedarf festgestellt und beschlossen die Lautstärke
des Meinungssenders sowie der Stationsdurchsagen in den Massen-Transportmitteln
erheblich zu steigern. Um durchzudringen, weiterhin unüberhörbar zu
informieren, die nunmehr Eingesponnenen an der akustischen Nabelschnur zu
halten.
Diese
Sofortmaßnahmen wurden sogar einstimmig beschlossen. Eine aufsehenerregende
Seltenheit hierzulande! Zumeist wird die Öffentlichkeit mit einer Überdosis
kalorienreduzierter Informationen abgespeist. Das ist ballaststoffreiche
Denkschonkost, damit der Stoffwechselkreislauf nicht ins Stocken gerät. Wer
immer noch ohne den Anschein einer Ummantelung unterwegs ist, schämt sich
seiner Blöße. Oder tut zumindest so als ob. Des Bürgers neue Kleider, sagt
Stefan.
"Nächster
Halt: Quittung", schüttet der Lautsprecher seine Botschaft über die Köpfe
der Fahrgäste. Der Zug schiebt sich in das Stationsgewölbe. Stefan wird nicht
in Quittung aussteigen. Heute will und wird er weiter fahren als bisher.
Begründungszwang? Ohne mich, denkt - nein - murmelt Stefan. Vor zehn Jahren ist
er auf eigenen Wunsch von den Platznehmern zu den Suchern versetzt worden. Burn-out-Syndrom;
halbdurch.
Begründungszwang
ist etwas für Platznehmer, weil die sich vor dem Umstimmungs-Unterausschuss
regelmäßig für gesicherte und beschlagnahmte Minder- beziehungsweise Unplätze
rechtfertigen müssen. Außerdem werden sie eingeladen, also verpflichtet,
Nachschulungen zum Thema "Raumbeschränkung - Der verantwortungsvolle
Umgang mit vormals freien Plätzen in Zeiten der Überbevölkerung" zu
besuchen. Der Zug beschleunigt wieder.
Nach einer straff
organisierten Bewohner-Meinungsabfrage ist vor mehr als einem Jahrzehnt eine
einschneidende Änderung mit weitreichenden Konsequenzen Gesetz geworden: Es
gibt keinen Platz ohne rechtmäßigen Besitzer. Als Übergangsfrist sind dreizehn
Jahre vorgesehen, damit alle Ansprüche verwirklicht werden können.
Ermessensspielraum ist nur ein Wort. Machtspiele ein anderes, haben damals
einige eingewendet.
Neben Stefan wird
eine bedruckte Buntpapierseite umgeblättert, er wirft einen Blick auf den ihm
zugewendeten Sportteil. Welche Mannschaft wohl heuer den
Zivilisationswettbewerb gewinnen wird? Stefan tippt auf die muskulösen
Abstandhalter. Aber auch die stimmgewaltigen Abgrundschreier rechnen sich
berechtigte Chancen aus. Das Land vibriert im kollektiven Zivilisationstaumel
denn "in beiden Disziplinen sind wir Weltspitze" wird
verlautbart. Spitze sind wir, denkt - nein - murmelt Stefan. Besondere
Feinspitze im Umgang mit Bestzeiten. Wo will der Rest der Welt hin? Einerlei.
Wir sind schon dort gewesen oder tun zumindest so als ob ...
"Nächster
Halt: Ventil", wieder die Schalldusche aus dem Lautsprecher. Das
Gratisbuntpapier neben ihm wird auf Hosentaschenformat zusammengefaltet.
"Inhaltlich war es nie größer", sagt der Sitznachbar zu sich selbst,
bevor er aussteigt. Abermals erklingt der Satz "Nehmen Sie Platz!"
irgendwo im Waggon. Drei Tage ist es nun schon her, seit Stefan einen Platz
entdeckt und den Fund ordnungsgemäß gemeldet hat. Er greift nach dem Zettel in
seiner Jackentasche und nickt beruhigt, als er das Papier zwischen den Fingern
spürt. Es ist nämlich nicht so, dass er gestern und vorgestern keine Plätze
gefunden hätte. Nein, er hat sie feinsäuberlich notiert und ist weitergezogen
ohne einen Platznehmer zu kontaktieren. Stefan wird seit einiger Zeit von der
Vorstellung, die Stadt schrumpfe, heimgesucht.
Mit jedem
"Nehmen Sie Platz!" verschwindet irgendwo ein Stück, denkt - nein -
flüstert er. Oft sieht er in seinen Träumen die Metropole in Gestalt einer
gigantischen Topfenpalatschinke,
fahlgelb, massiv, über sich schweben. Dann läuft sein Traum-Ich panisch durch
kalte Schatten, und nirgends ist ein Platz wo er sich verstecken könnte.
"Warum?" Diese Frage seilt sich an einem Teigfaden zu ihm, der wie
angewurzelt stehen bleiben würde, wenn es etwas gäbe, worin er wurzeln könnte,
aus der Palatschinke herab. Das Wort rinnt über sein Gesicht, verklebt ihm
Augen, Mund und Nase. Dann spaltet ein weißer Blitz die Riesenpalatschinke und
sie entzündet sich. Stefans Traum-Ich starrt entsetzt auf das flambierte
Inferno und wird von herabregnenden Rosinen begraben. Jedesmal reißt ihn sein
eigener stimmhafter Atemzug aus dem Traum. Nach
Luft ringend sitzt er danach im Bett und will sich nicht erinnern.
Neulich hat
Stefan mit einem befreundeten Platzsucher namens Peter über seinen
wiederkehrenden Traum gesprochen und sich, unter Missachtung des Frageverbots,
nach dessen Träumen erkundigt. Peter hat ihm hinter vorgehaltener Hand und in
verschwörerischem Tonfall erzählt, dass eine bemerkenswerte Anzahl ihrer
Berufskollegen diesen Traum hätte, was kein Zufall sein könne. Daher sei
kürzlich eine geheime Selbsthilfegruppe, die "APS" - für
"Anonyme Platzsucher" - gegründet worden deren Mitglieder beschlossen
hätten zwar weiterhin Dienst nach Vorschrift zu versehen, die Koordinaten der
aufgefundenen Plätze jedoch nicht an die Platznehmer weiterzuleiten. Erste
Erfolge seien bereits feststellbar. So habe eine Kollegin beim letzten
"APS"-Treffen berichtet, dass in ihren Träumen die Palatschinke zwar
in Flammen stehe, sie jedoch nicht länger mit verkohlten Rosinen überschütte
sondern rauchend am Horizont verschwinde, wobei sich der unausstehliche Geruch
angebrannter Milch ausbreite. Mit bewundernswerter Traumdisziplin sei es der
Kollegin mittlerweile mehrmals gelungen die brennende Palatschinke in einen
verunglückten Sonnenuntergang zu transformieren. Diese Kollegin verdichte ihre
Erfahrungen derzeit zu einem Ratgeber mit dem Arbeitstitel "Mehr Ruhe
durch kreative Weichenstellung - Die hundert Stufen der Komplexität". Aha,
hat Stefan gedacht und auch gesagt.
"Nächster
Halt: Hochebene!" Auf diese Ansage hat Stefan gewartet, das weiß er jetzt.
Hier verlässt er den Zug und steigt die Treppe, über der sich ein Schild mit
der Aufschrift "Außer Betrieb" befindet, hinauf zur Hochebene. Die
hundert Stufen der Komplexität, denkt und sagt er während er weitergeht. Oben
angelangt, schaut er auf die Schienen. Dann nimmt er den Zettel und sein Handy
aus der Jackentasche.
Es beginnt zu
regnen.
(Doris Krestan; Februar 2002)