Auszug aus Kapitel 4:


Galt es dieser Niederlage etwas entgegenzusetzen? Hatte es noch Sinn, aus diesem grotesken Gewand herauszusteigen und alles zu einem einzigen Irrtum zu erklären? Es war immer so gewesen; so weit er sich zurückerinnern konnte; dass er betrogen und verkauft worden war! Seine Knie schlotterten fürchterlich, als er sich kurz auf eine vollkommen durchnässte Bank setzte und leise durchatmete. Was hatte sich da in seinen Kopf gesetzt? Es ließ sich nicht abwenden, dass sein Kopf durchfressen war vom einzigen Gedanken, den guten Ruf wiederherzustellen, der aus welchem Grund auch immer verloren schien! Was sollte er auch sonst tun! Es gab keine Rettung, wenn nicht die des Versuchs, alles umzukehren und in ein neues Gewand zu kleiden! Er blies seine Wangen auf, als könne er dadurch Hitze in seinen Körper verfrachten. Er stand wieder auf. Die Kälte färbte ihm die Lippen blau, während er unentwegt ging, stehen blieb, ging und wieder stehen blieb. Sein Hemd klebte an seinem Leib, als wäre es mit ihm verwachsen. Bei jedem Schritt spürte er das Wasser in seinen Schuhen klatschen, als suche das Weltmeer nach neuen Verbreitungsmöglichkeiten. Das Haar hing ihm in die Stirn und sein Rücken fühlte sich an, als wäre er von Hunderten Peitschenschlägen verwundet worden. Zu all dem Übel kam noch, dass er plötzlich fürchterliche Kopfschmerzen hatte, die sich von Minute zu Minute stechender anfühlten.

Der Zustand unseres Helden erwies sich also als alles andere denn seiner Gesundheit dienlich. Er dachte bei sich, dass er sich in den Donaukanal stürzen möge; er wäre bald verschluckt von der Kloake; und womöglich fände er sich in der anderen Welt wieder, die so gern von den Pfarrern beschworen wurde, wenn er ausnahmsweise einmal die Heilige Messe besuchte. G. kam nur im Schneckentempo vorwärts, sodass es ihn verwunderte, dass er gegen zwei Uhr früh das Ufer des Donaukanals verließ, um in eine Gasse abzubiegen, die wiederum in ein Gässchen einmündete, das sich als jenes erwies, wo das Haus stand,  in dem er sein kleines Zimmerchen bewohnte. Ehe er einen Haken nach links schlug, verspürte er einen leichten Windstoß von der Seite her seinen Körper durchströmen und wunderte sich nicht wenig, dass der selbe Mann, der ihm vor einer guten Stunde begegnet war, ihn plötzlich in gleicher Richtung überholte. "Das kann nur mit dem Teufel zugehen. Ich glaube, ich bin für heute vollkommen erledigt. Bilde mir Sachen ein, die es gar nicht gibt."

Unser Held schlug den besagten Haken und wanderte weiter die Straßen entlang, bis er endlich schemenhaft das Haus erkannte, dem er sich in irgendeiner Weise zugehörig empfand. Er glaubte, eine Gestalt das Haustor öffnen zu sehen; schenkte dem Geschehen aber überhaupt keine Beachtung. Er griff sich an die Stirn und stellte fest, dass sie um einiges zu heiß war, um noch als Anzeichen leichten Fiebers durchzugehen. "Ich Idiot bin krank. Krank. Aus. Vorbei." G. schlich förmlich die letzten Meter seinem Wohnhaus entgegen. Ganz Wien schien zu schlafen. Nicht einmal ein Hund zeigte sich auf den Straßen. Nur er strampelte durch diese Stadt, die ihm von jeher vertraut war, als sei sie ihm auf ewig zum Studium überantwortet worden.

Unser Held schärfte seinen Blick, um sich hier in diesem unmöglichen Haus fortbewegen zu können. Der Weg zu seinem Zimmerchen erwies sich als Hindernislauf, da überall Gerümpel und allerlei sonstiges Zeug herumlag, das einen gefahrlosen Weg treppauf unmöglich erscheinen ließ. G. sah einen Schatten die Barrieren mühelos überspringen. "Wenn das nicht ein Gespenst war!" sagte er laut zu sich selbst und setzte seinen Weg fort. Schließlich hatte er seine Wohnungstür erreicht, und öffnete diese mittels eines Schlüssels, wobei sich die Geräusche dieser Prozedur mit dem Ton seines immer lauter werdenden Atems vermischten. Er fiel fast durch die Tür; durchnässt bis auf die Haut und von Schmerzen gepeinigt.


(Aus "Das diabolische Experiment" von Jürgen Heimlich.)

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