Der verlorene Thron
Ein mächtiger und ruhmreicher König spürte sein Ende nahen. Sein Sohn, der bereit stand, seine Nachfolge anzutreten, war unvorsichtig genug, überall zu verbreiten, dass er seinen Vater an ruhmreichen Taten noch weit zu übertreffen gedenke. Dem gefiel das gar nicht und so bestimmte er seine Tochter, die er immer nur liebevoll ‚mein Mädchen' nannte, zur Nachfolgerin, da er bei ihrem bescheidenen Wesen erwarten durfte, dass sie in Dankbarkeit den Nachruhm des Vaters pflegen und in den Geschichtsbüchern verewigen würde..
Der alte König starb und seine Tochter wurde, wie vom Vater gewünscht, als Thronerbin gekürt. Darüber war ihr Bruder sehr erbost und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge, dass dieser Missgriff seines Vaters für das Reich und seine überlieferten Sitten eine große Schande sei.. Schließlich dürfe, wie jedermann wisse, niemals eine Frau einen Thron besteigen. Darin waren sich die mächtigen Fürsten des Reiches mit ihm einig und sie warteten nur darauf, die junge Frau bei erster Gelegenheit vom Thron zu stoßen. Dennoch behagte den Vasallen der Gedanke nicht, dass der machtlüsterne Sohn an die Stelle seiner Schwester treten sollte. Denn gewiss würde er ihre eigene Macht einzuschränken versuchen.
Dadurch gewann die junge Königin Zeit, ihre Lage zu überdenken und gegen die Übermacht ihrer heimlichen Feinde Vorkehrungen zu treffen. Sie wartete in kluger Berechnung ab, dass die allzu mächtigen Diener ihres Throns sich eine Blöße geben würden Und es dauerte auch nicht lange, so konnten die Gefährlichsten unter ihnen einer nach dem anderen, von ihren Spionen entlarvt, .des Hochverrats überführt werden , allen voran der verhasste Bruder. Sie alle wurden von ihren getreuen Richtern verurteilt und ohne Umstände hingerichtet. So gelang es ihr, überall unter den verbliebenen Großen des Landes Furcht und Schrecken zu verbreiten. Dem Volk jedoch gefiel es, dass diese Herren, unter denen sie solange schon zu leiden hatten, ihre gerechte Strafe empfingen.
So wuchs denn mit jedem Tag die Beliebtheit der anfänglich noch mit Misstrauen betrachteten Frau auf dem Thron. Sie konnte ihrer Sache nun sicher sein. Und so begann sie mehr und mehr ohne Rücksicht auf die Volksmeinung mit prunkvollen höfischen Festen ihre königliche Machtfülle auszukosten.
Das Volk blieb lange Zeit wie gewohnt geduldig, bis eines Tages der Fall eintrat, dass sich ein Mann im Volk bekannt machte, der sich durch seine Weisheit und Frömmigkeit so bewunderungswürdig hervortat, dass er bald nur ‚der Heilige' genannt wurde. Das behagte der jungen Königin aber gar nicht, denn sie wusste, dass sie als Frau vom Volk geliebt werden musste, um sich auf ihrem Thron zu halten. Ein Rivale in der Volksgunst konnte ihr da gefährlich werden. So schickte sie erneut ihre Spione aus, die herausfinden sollten, wie der Ruf der heiligen Mannes zu Fall gebracht werden konnte. Aber diesmal kamen sie alle mit leeren Händen zurück. Es gab keinen Zweifel: dieser Mann war ohne Fehl und Tadel.
Da zog sie alle verbliebenen Großen des Reichs an ihrem Hof zusammen und ließ durch ihren Herold verkünden, dass der Mann, der ohne ihr Einverständnis um die Gunst des Volkes buhlte, ganz offenbar nach dem ihr allein zustehenden Thron strebte und deshalb als Hochverräter zu betrachten sei. Und so sollte sogleich das höchste Gericht zusammentreten, um das ihnen allen ja bekannte Urteil zu fällen. „Solange ich lebe, wird mir keiner in die Quere kommen“ bekräftigte die Herrscherin ihren allerhöchsten Willen.
Diesmal aber, was noch nie geschehen war, entstand anstelle der laut verkündeten Zustimmung ein Schweigen in der Runde.. Ungnädig entließ die Königin die Versammlung.
Das Volk aber, das unterrichtet wurde von diesen Vorgängen am Hof, verlor sein Zutrauen zu seiner Königin und begann, aller Orten den heiligen Mann zu feiern. Endlich forderte es, dass nur er ihr rechtmäßiger König sein könne, denn nur er sei wirklich tugendhaft und außerdem ein Mann.
Die Königin, die jetzt um ihr Leben fürchten musste, war klug genug, auf den Thron zu verzichten und sich in ein Kloster zurückzuziehen.
Merke: Ein Herrscher, der die Liebe seines Volkes nicht mit anderen teilen will, wird sie am Ende ganz verlieren
(Peter Gronau)