Aesop:

Der sterbende Wolf

Der alte Wolf lag im Sterben.
Er sammelte sein ganzes Rudel um sich und sprach: „Meine lieben Kinder und Enkelkinder und alle anderen Wölfe, die sich hier versammelt haben. Meine letzte Stunde hat geschlagen, ich fühle es. Darum habe ich euch hier um mich versammelt. Ich will nicht, dass ich als alter Sünder in den Himmel komme. Darum sage ich euch jetzt, und bitte, erzählt es überall herum, sagt es jedem, den ihr trefft, ich bereue alle meine bösen Taten.. Ist das klar?
„Ja, uuuuuu, Vater.“
„Ja, uuuuuu, Opa!“
„Bittet für mich um Verzeihung bei allen Schafherden, die ich angegriffen habe, bei den Rehen, den Hasen, und allen anderen Tieren. Bitte.“
„Ja, uuuuuu, Vater.“
„Ja,uuuuuu, Opa!“
„Und noch etwas. Versprecht mir feierlich hier und jetzt, ab heute und in aller Zukunft nur Gras zu fressen. Werdet Vegetarier.“
„Wie bitte?“
Werdet Vegetarier, habe ich gesagt. Wiederholt meine Sünden nicht!“
Die Wölfe seines Rudels sahen sich gegenseitig staunend an.
„Opa“, heulte ein Enkelkind. „Ich würde es dir gern versprechen, wenn ich nicht ein Wolf wäre.“
Eine alte Wölfin packte ihn am Schwanz und zog ihn beiseite. Dann ging sie zu dem sterbenden Wolf und heulte: „Wir versprechen alles, was du willst, damit du Vaterwolf in Frieden stirbst. Und wir versprechen auch, unsere Sünden zu bereuen!.“

Mit dem Tod vor Augen, hat jeder gute Vorsätze, da man sie nicht einhalten muss.

*

Der reuige Bänker

Ein alter Bänker, ein erprobter Held in vielen Gewinnschlachten an den Fronten der Finanzwelt, spürte, wie ihm nach und nach die Freude an seinem Beruf abhanden kam.
Und so beschloss er, sich zur Ruhe zu setzen. Aber bevor er sich in seinen Palast am Strande von Ibiza zurückzog, versammelte er seine engsten Bänkerkollegen und Kombattanten um sich und hielt ihnen, wobei er schon ein wenig mit den Tränen kämpfen musste, folgende wohlgesetzte Rede: „Liebe Freunde, die wir sicher hier und da auch mal Rivalen gewesen sind, was ihr mir sicher verzeiht, ich möchte mich hier und jetzt von euch verabschieden. Zuvor habe ich aber noch einen letzten Wunsch mitzuteilen und einen letzten Appell an euch zu richten. Jedermann weiß - und das wird auch von unseren Gegnern nicht bestritten - , dass unser unsterbliches Verdienst darin besteht, dass wir die aus unerschöpflichen Quellen fließenden herrenlosen Geldströme auf unserem Globus mit nicht geringer Mühe und kluger Voraussicht in sichere Reservoire gelenkt und dadurch verhindert haben, dass sie in kleine und kleinste Rinnsale sich verästeln konnten, um am Ende einfach zu versickern.
Dennoch, liebe Freunde, dennoch! Es liegen schlaflose Nächte hinter mir, in denen ich aus schweren Träumen erwacht bin. Unsere Schlachten waren groß und siegreich, gewiss! Aber sollten wir nicht auch manchmal an die vielen Leichen der Unterlegenen auf diesem Schlachtfeld denken und, ja, wie nun überall im Lande eine möglicherweise von uns verursachte große Armut sich ausbreitet? Um mein schwer bedrücktes Gewissen zu entlasten, bereue ich alle Taten, die zu diesen Zuständen beigetragen haben könnten.. Und nun lege ich es euch ans Herz, zu diesen gleichen Einsichten zu kommen, und ich bitte euch, ebenfalls tätige Reue zu üben und bei allen ja vielleicht durch euch geschädigten Menschen Abbitte zu leisten.“ Nach diesen Worten sank er erschöpft in seinen Sessel zurück.
Eine Pause größter Betroffenheit entstand unter den versammelten Großbänkern. Endlich aber trat einer von ihnen, der jüngste und als Spekulationskämpfer noch Unverbrauchte einen Schritt vor und meinte: „Wir haben Ihren Worten mit großem Respekt gelauscht, möchten Sie aber daran erinnern, dass wir Bänker in vielen Schulungen und Fortbildungen gelernt haben, uns allein die optimierten Spekulationsgewinne zum Ziel zu setzen. Wir würden uns also, wenn wir von dieser Bahn abwichen, selbst verleugnen müssen. Und das kann doch in dieser Welt von niemandem verlangt werden.“
Erneut trat, allerdings mit unterdrücktem Beifallsgemurmel, eine Pause ein. Bis der älteste und weiseste in der Versammlung mit leiser Stimme und mir einem feinen Lächeln, den vorlauten Jungbänker sanft in die Schranken weisend, die von niemandem mehr widersprochenen Schlussworte sprach:
„Wir haben dir zugehört, und wer würde es wagen, eine abweichende Meinung zu hegen. Wir wissen und haben es gerade von dir bestätigt gefunden, dass wir in uns gehen sollten und am Ende unserer Tage von Herzen bereuen, was wir vielleicht an Schaden in der Welt angerichtet haben sollten.“


(Peter Gronau)