Von einer zu zweit begonnenen, allein beendeten Murüberquerung
Die tiefreligiöse Geräuschmimose mit entmutigtem Eigenhaar lacht meckernd und pfropft mir eine ihrer ungezählten Fragen aufs Gesicht:"He-he-he,
was bedeutet 'LEBEN' für dich?"
Und da ist es wieder: das Gefühl, mit einem Fingerhut das Meer auslöffeln zu müssen. Eine Frage, die so unbedarft heraustrompetet worden ist, dass meine unterkühlte Dialoglaune, wie von einer Abrissbirne bombardiert, zerbröselt - und zwar restlos. Unwillig suche ich nach einem Ausweg, einem Einfall, warte auf eine Eingebung. Hoch oben rühren Störche im Himmelblau, ringeln ihre Flugbahnen über steirisches Legoland. Ab und zu klatscht neben uns Taubendreck ins Wasser. Das menschförmige Gegenüber erwartet also tatsächlich, dass ich jetzt etwas sage. Leben? Just do it. Grenzgenialer Werbeslogan allemal. Die Aprilsonne beschmiert meine Beine mit Wärme. Unzählige Kaulquappen bringen mit ihrem Gezappel die Wasseroberfläche an einer seichten Stelle zum Brodeln. Für die bedeutet 'LEBEN' einfach paddeln, fressen, Beine kriegen, Schwanz verlieren, mehr oder weniger zwischen den Elementen pendeln und für den Fortbestand der Art sorgen. Eine nüchterne Feststellung wäre: "Leben bedeutet, nicht tot zu sein", wenngleich das fragende Protestantenbeuschel mit Sicherheit davon Schrammen abbekäme...
Gestern hat mir die Geräuschmimose ein Glaubensdruckwerk unterjubeln wollen. Bereits die Überschrift (Schlagzeile? Halt die andere Wange auch noch hin!) verursachte mir Unbehagen ("Ich bin so viel wert wie ich leiste. Oder doch nicht?" Angesichts dessen drängte sich "Ich leiste so viel wie ich wert bin. Oder doch nicht?" in den Vordergrund). Die Fragenschleuder wiederkäut ihr sättigendes Herdentiergelächter, oder was ihr halt sonst so aus den Mundwinkeln sickert. Leidensfähig ist sie offenbar, Dulderin aus Berufung. Versteht es vortrefflich, sich von anderen ihr Dasein erörtern zu lassen. Ohne Gewähr natürlich. Ich schließe die Augen und genieße die Vorstellung, diese unverwüstliche Dauergestalt von der Brücke stürzen zu sehen.
Was weiß ich, wie lange die noch so dastehen und mich belauern wird! Eine Zigarette wäre jedenfalls nicht schlecht. Sie, das Tugend gewordene Fleisch, hat freilich bereits vor ihrer Geburt allen Genüssen abgeschworen - (der unfehlbare nasciturus quasi) -, rennt mit abgeschminkter Vorderkopfhaut durch die Gegend und widersteht aus Lust an der zur Schau gestellten Entsagung allen Versuchungen.
Sie schnauft, schnorchelt Luft durch ihren Speichel. "Atmen ist Leben" wäre eine esoterische Draufgabe meinerseits. Augen zu, und sie stürzt noch einmal. Der Wunsch, die Geräuschmimose möge in die Fluten abtauchen, wird mit jeder vorbeifahrenden Murwelle stärker. Ich hole in einem weiten Schwung aus, die Dauergestalt schwankt wie in Zeitlupe, torkelt, kippt endlich über das Geländer wasserwärts, und ich flüstere:"Wasser ist Leben. Just do it."
Einige Augenblicke lang trägt die Luft ein gurgelndes Geschrei, bevor schließlich doch Stille einkehrt. Ich gehe Zigaretten holen. LEBEN kann so einfach sein.
(Felix Grabuschnig; im prachtvollen Lenz des Jahres 2000)
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