Plötzlich sah er ihn.

   Er kam von links, von der anderen Straßenseite und überquerte die Fahrbahn mit weitausgreifenden Schritten. Er steuerte direkt auf Heidemann zu. Seine eisenbeschlagenen Absätze knallten metallisch hart auf das Straßenpflaster. Er trug einen amerikanischen Stetson-Hut, den er tief in das Gesicht gezogen hatte und einen schwarzen, knielangen Ledermantel. Heidemann erkannte in ihm sogleich seinen Henker, den unerbittlichen, den todverheißenden Killer. Obwohl er den Mann vorher nie gesehen hatte, assoziierte er ihn ohne Zögern mit der prophetischen Botschaft aus der Zeitung. Jens Heidemann wollte davonlaufen, aber es war bereits zu spät. Sie standen sich gegenüber.

   "Machen Sie es kurz", sagte Heidemann mit belegter Stimme.

   Der Fremde tat, als hätte er es nicht gehört. Er griff in die Brusttasche seines Mantels und zog ein silbernes Zigarettenetui hervor.

   "Entschuldigung, haben Sie Feuer bitte?" fragte er und fischte sich eine Filterzigarette aus dem Etui. Heidemann stammelte:

   "Feuer? Nein, ich ... ich bin Nichtraucher ... leider."

   Wortlos drehte der Mann sich weg und ließ Herrn Heidemann mit schlotternden Knien dastehen. Noch eine ganze Zeit lang stand Heidemann wie festgewurzelt auf der Stelle und lauschte auf das metallisch harte Klicken der Absätze, bis es sich endlich in der Ferne verloren hatte. Aber zum ersten Mal an diesem Abend fühlte er eine Woge der Erleichterung in seinem Innern anbranden; eine Woge, die ihn trug und ihm Sicherheit zu versprechen schien. Von einem plötzlichen, unerklärlichen Impuls getrieben schlug er noch einmal die Zeitung auf, suchte die Seite mit den Todesanzeigen, fand sie auch sofort, fand aber nicht seinen Namen auf der Seite und fand ihn auch nicht auf einer der anderen Seiten. Heidemann zweifelte an seinem Verstand, er stand ratlos da, verwirrt, perplex.

   Ein Stimmengewirr zwei-, dreihundert Meter vor ihm lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße; dann lautes, rhythmisches Rufen, das plötzlich wieder verstummte. Heidemann hatte die Worte nicht verstehen können.

   Der Tumult auf der Straße schien eine magische Anziehungskraft auszuüben. Gefügig wie ein an einer unsichtbaren Leine gegängelter Hund trottete Heidemann vorwärts. Er vernahm jetzt deutlich, wie ein Mann redete, irgendein verworrenes, politisches Gewäsch. Dann wieder das rhythmische, einpeitschende Rufen:

   "Kaiser auf der Wurst! Kaiser auf der Wurst!" vermeinte Heidemann jetzt herauszuhören. Er kam der Menschentraube näher, die sich in einer dunklen Nebenstraße versammelt hatte, direkt unter der einzigen Straßenlampe, die einsam und verloren dastand und ihren Photonenhagel in nutzlosem Einzelkampf gegen das Dunkel dieser Straße verschwendete.

   Aber an dieser Laterne baumelte der leblose Körper seines Kollegen Beringmeier.


Aus dem absurden Kriminalroman "Zaungast jagt Kaiser auf der Wurst" von Werner Fletcher

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