Zaungast und der militant animalische Magnetismus


    "Meine lieben Brüder und Schwestern, wir schlagen nun den Psalm Numero achtundzwanzig auf", gab der Priester seiner am offenen Grab versammelten Trauergemeinde mit matter Stimme zu verstehen.

   "Schwanz, ausgerechnet die achtundzwanzig", sprach Kommissar Zaungast so laut zu seinem Assistenten, daß er sogleich die mißbilligenden Blicke eines großen Teils der Friedhofsbesucher auf sich zog.

    "Immer noch besser Numero achtundzwanzig als Numero achtundsiebzig, Chef", antwortete daraufhin ungerührt Herr Schwanz.

   "Ja", meinte Zaungast und spie ein ungehobeltes Lachen in die gramgesättigte Friedhofsstille. Der als Hobel gedachte Räusper, der die Peinlichkeit wieder ausgleichen sollte, verfehlte jedoch komplett seine beabsichtigte Wirkung, da er mit dem Lachen sogleich eine tonliche Allianz einging, die wiederum ein Geräusch hervorbrachte, das jeder Beschreibung spottete.

   "So eine Taktlosigkeit ..."

   "Wer ist dieser Mensch?"

   "Unerhört ... so etwas."

   Der Kommissar überhörte geflissentlich diese gemurmelten Einwürfe und sprach zu Herrn Schwanz: "Die sechzehn, Schwanz, der schwarze Lotterbube hätte sagen sollen ... die sechzehn ... Leute, schlagt die Numero sechzehn auf."

   "Klar, Chef, damit erst gar keine Diskussionen aufkommen."

   "Sehr richtig, Schwanz, so aber führen wir nun eine fruchtlose Diskussion über die achtundzwanzig."

   "Die achtundzwanzig ist unserem Vorhaben nicht gerade dienlich", meinte Schwanz.

   "Nein, ganz und gar nicht, sie ist nicht im Sinne der ... äh ... Anklage", bekräftigte Kommissar Zaungast, der sich an diesem Tag nicht nur in der Rolle des Ermittlers, sondern auch und vor allem in der Rolle eines Anklägers sah. Zaungast und Schwanz hatten ihre Stimmen nun ein wenig gedämpft und sich auch mehr abseits gestellt, um von niemandem verstanden zu werden.

   "Im Falle eines Falles, Chef, ich meine im Falle des Falles, dies ist gar kein Fall, dann säßen wir ganz schön in der Falle, in der Tinte wollte ich sagen."

   "Keine Sorge", beschwichtigte Zaungast, "dies ist ein Fall, wir haben es hier sogar mit einem ... äh ... hochbrisanten Fall zu tun. Klar, Adelheid, seiner ... äh ... Springmaus, sind die Sicherungen durchgeknallt, das ist und bleibt Fakt; gezähmt, gezäumt und ... äh ... domestiziert, und trotzdem ... nein, nein, nein, Schwanz ... da offenbart sich auf einmal die ganze Tragik dieses Falles ... und die Brisanz, die dahinter steckt. Der Totstellreflex sollte ihn noch retten, hat ihn aber letztendlich das Leben gekostet, da er ihn etwas zu perfekt in Szene setzte. So jedenfalls lautet die ... äh ... offizielle Version."

   "Und Ihre Version, Chef?"

   "Die lautet: Mord!" sagte Zaungast. "Einige der Tränen, die hier aus geröteten Augen kullern, sind Krokodilstränen, die verlogenen Tränen eines Mörders oder einer Mörderin."

   "Weshalb glauben Sie, daß der Täter oder die Täterin zur Beerdigung seines beziehungsweise ihres Opfers gekommen ist, Chef?"

   "Weil er oder sie aus dem engsten Familien- oder Freundeskreis des Opfers stammt. Da tun sich übrigens interessante Parallelen zu einem anderen, weiter zurückliegenden Fall auf, Schwanz. Sie erinnern sich an den Fall Schubert? Die alte Frau Schubert wurde von ihrem Goldfisch, er hieß Billy The Kid ... äh ... gebissen; und dies, obwohl der Deckel drauf war und das Wasser bereits kochte. Niemand dachte damals an Mord außer ... äh ... meine Wenigkeit. Es sollte mich nicht wundern, wenn es sich bei dem Täter, der hier und heute unter uns weilt, und dem Mörder der Frau Schubert um ein und dieselbe Person handelt."

   "Also ein Serienkiller, Chef?"

   "Vermutlich."

   "Liebe Brüder und Schwestern, so lasset uns nun den Psalm Numero achtundsiebzig anstimmen", sagte der Priester und schoß dabei beschwörende und warnende Blicke auf Kommissar Zaungast ab.

   Dem Kommissar aber riß der Geduldsfaden. "Die sechzehn, verdammt noch mal!" schrie er unbeherrscht, "du elender Schwarzkittel, du sollst endlich die sechzehn anstimmen lassen! Hast du gehört?"

   Gerechter Zorn loderte nun auch unter der Schädelplatte des Priesters auf, sogar seine rundum mit grauen Fusseln befranste Glatze überzog sich mit Zornesröte. Er wollte sprechen, doch Zaungast ließ ihn nicht, lauthals stimmten Zaungast und sein Assistent den Psalm Numero sechzehn an mit den Worten, die der Kommissar sich eigens zur Melodie dieses Psalms zurechtgelegt hatte.

   "Du hast ihn ermordet, ermordet hast du ihn", und noch einmal "du hast ihn ermordet, ermordet hast du ihn ... nun schnell die Fotos, Schwanz", unterbrach Zaungast seinen Gesang, "dann möglichst rasch die Tarnkappen auf, ehe der Angriff ... äh ... erfolgt."

   Herr Schwanz hielt plötzlich eine Kamera in der Hand und schoß ein Blitzlichtgewitter auf die Trauernden ab. Dann zog er sich ebenso wie sein Chef die Tarnkappe, die synthetische Glatze über den Kopf, eine haarlose Perücke, worauf in fettem Rot ein großes R prangte. Dieses R stand für rapido, was eilig oder schnell bedeutet, weiterhin stand dieses R für res dubia, das bedeutet zweifelhafte Sache. Sinn und Zweck dieser Maßnahme war, sich vor suggestiven Einflüssen jeglicher Art zu schützen, die synthetischen Glatzen hatten also quasi die Funktion von psychischen Sicherheitswesten zu erfüllen. Die Empörung unter den Anwesenden, die diesen Mummenschanz miterleben mußten, war kaum zu beschreiben. Und mitten in diese Empörung hinein kam auch noch zu allem Überfluß der von Zaungast befürchtete Angriff.

   Tatsache ist, daß die Ringeltaube ziemlich tief flog, so tief, daß der Kommissar sie mit seinen ausgestreckten Armen zu fassen bekam.

   "Ha, ha, ha!" hörte man den Kommissar aus vollem Halse grölen, "sie glaubt, sie sei ein Sturzkampfbomber, aber ich glaube es nicht!"
Noch einmal kökerte er sein Lachen hinaus, aber da hatten seine großen, kräftigen Hände den Vogel bereits in Stücke gerissen.

   Mehrere Männer machten Anstalten, sich auf den Kommissar zu stürzen, doch der hatte plötzlich eine Waffe in der Hand.

   "Halt!" brüllte er, "Kriminalpolizei, keiner rührt sich von der Stelle! Ich fordere Gerechtigkeit und volle Rehabilitierung für Adelheid und Billy The Kid!"

   Ja, Ehrenrettung für Adelheid und Billy The Kid und auch für die lebensrettende Sofortmaßnahme Totstellreflex, das war das mindeste, was hier zu fordern war, doch Zaungast wollte mehr. Zaungast wollte den Mörder. Er ließ sich von Schwanz die Fotos aus der Sofortbildkamera zeigen. Hin und her ging sein Blick, von den Fotos zu den Trauergästen und wieder retour. Sein untrüglicher Sinn für das Aufspüren und Erfassen krimineller Energiefelder arbeitete auf Hochtouren.

   "Die da ist es!" rief er plötzlich aus. Kommissar Zaungast trat auf eine verschleierte Frauensperson zu und erklärte: "Sieh an, da hat dir selbst der Schleier nichts genutzt, Mörderin, Magnetiseurin verfluchte! Wie immer auch Ihr unwerter Name lauten mag, ich verhafte Sie wegen zwiefachen Mordes sowie wegen versuchten Mordes an einem ... äh ... Kriminalbeamten."

   Trotz heftigster Proteste setzte Zaungast seine mehr als fragwürdige Maßnahme um und verhaftete eine wohl nur ihm verdächtige Person inmitten einer Beerdigungszeremonie.

   Es kam zu einem Prozeß, allerdings nicht gegen die mutmaßliche Mörderin, sondern gegen Kommissar Zaungast, in welchem er sich für sein Verhalten zu rechtfertigen hatte. Der Kommissar gab eine von allen belächelte Theorie zum besten, seine These vom militant animalischen Magnetismus und von verbrecherischen Magnetiseuren, die sich unschuldiger Geschöpfe bedienen, um den perfekten Mord zu inszenieren. Er redete von einem Goldfisch, der plötzlich glaubte, er sei ein Torpedo, und der infolgedessen auch wie ein Torpedo dachte und handelte, er redete von einer Springmaus, die unverhofft zur Katapultmaus mutierte, die sich daraufhin als eine todbringende Waffe fühlte, die von einem Katapult abgeschossen wurde, und er redete von Opfern, auf die diese Suggestionen ebenfalls einwirken würden, die ihrerseits glaubten, von einem Torpedo oder einer Rakete angegriffen zu werden und die dann durch diese traumatischen Erlebnisse unweigerlich den Tod fänden. Er selbst habe sich nur durch den Einsatz seiner psycho-hygienischen Tarnkappe vor dem tödlichen Angriff der Taube retten können, die geglaubt habe, sie sei ein Sturzkampfbomber. Zaungast stellte zudem noch törichte Vergleiche an, wie zum Beispiel den Vergleich zwischen Napalm und einem Vogelschiß, als man ihm endlich das Wort entzog.

   Der eigentliche Eklat aber, der sollte erst noch folgen. Es passierte, als die vorsitzende Richterin ihren Urteilsspruch verkünden wollte. Zaungast schickte ein Gebrüll in Richtung Decke.

   "Da! Die Spinne!" schrie er.

   Direkt über dem Haupt der Richterin seilte sich eine etwa daumennagelgroße Spinne von der Decke ab, die Zaungasts scharfen Augen nicht verborgen bleiben konnte.

   "Die Seilgefährtin der Mörderin, die Mörderinnen-Seilschaft ist komplett!" tobte Zaungast. "Dieses achtstelzige Vieh steht im Dienste der Mörderin, zwangsrekrutiert, somit also nicht verantwortlich, hat sie im Hirn der Richterin etwas eingefädelt, etwas übertragenen Sinnes ... äh ... ruchlos übertragen. Haben Sie mich verstanden, Euer Ehren, Sie spinnen!"

   "Angeklagter, mäßigen Sie sich!" herrschte die Richterin den Kommissar an. "Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil ..." konnte sie nur noch mit Mühe hervorbringen, ehe die Frau in der Richterrobe sterbend in sich zusammensackte. Sie tat noch einen Kniefall vor dem Kommissar - so jedenfalls sah es aus - dann streckte sich ihr lebloser Körper lang auf dem Boden aus.

   "Todesurteil!" sagte Kommissar Zaungast schnaufend.

    Herr Schwanz, der seinen Chef logischerweise in den Gerichtssaal begleitet hatte, und Kommissar Zaungast sahen sich an. Beide nickten wie in stummem Einverständnis. Dann stimmten sie den Psalm Numero sechzehn an: "Du hast sie ermordet, ermordet hast du sie ..."

(Werner Fletcher)