Im Schlaraffenland
Direkt an der Pforte wurde ich vom Obergärtner begrüßt. Er
sagte: "Herzlich willkommen im Schlaraffenland, mein Herr." Dann bot
er mir einen Apfel an, wie das in paradiesischen Gefilden wohl den allgemeinen
Gepflogenheiten entspricht.
"Danke", sagte ich,
"sieht gut aus, der Apfel."
"Der ist gut!" bestätigte mir der Obergärtner.
Ich biß herzhaft in die Frucht hinein.
Ein überraschtes Trio sich
grausam verrenkender Maden beklagte stumm aber gestenreich seine Vertreibung aus
dem Paradies.
"Ja", erklärte der Obergärtner, "für jeden, der
Einzug hält in das Schlaraffenland, muß auch mindestens einer weichen. Das ist
das Gesetz des Lebens."
"Ach, so ist das",
sagte ich und fühlte mich bereits ein wenig unbehaglich.
"Haben Sie einen Antrag auf
Asyl gestellt?"
"Nein, ich habe ein auf
drei Tage befristetes Visum."
Ein monströses, brummendes und irgendwie bedrohlich wirkendes
Objekt sauste dicht über unsere Köpfe hinweg. Unwillkürlich hatte ich den
Kopf eingezogen und mich dabei geduckt.
"Was war das?" fragte
ich erstaunt.
"Eine Fliege",
antwortete der Obergärtner. "Ja, was von einigen unserer Touristen hier
als gebratene Tauben angesehen werden, das sind in Wirklichkeit gigantische
Fliegen."
"Ach?" meinte ich ungläubig.
"Ja, da wo Milch und
Honig fließen, da sind auch die Fliegen größer. Logisch, oder?"
"Entsetzlich", sagte
ich, "davon hat man mir im Reisebüro aber nichts gesagt. Und auch in den
Broschüren für Touristen stand nichts davon erwähnt."
Mein Gesprächspartner erwiderte daraufhin nichts.
Ich musterte ihn möglichst
unauffällig, aber auch mit unverhohlener Neugierde. Dann fragte ich ihn ganz
unvermittelt:
"Ach, verzeihen Sie, sind Sie ein Schlaraffe?"
"Nein“, sagte er, „bedauere, ich bin nur der Gärtner."
"Schade", meinte ich,
denn mein Aufenthalt hier sollte mir eigentlich dazu dienen, hinter das
Geheimnis der Schlaraffen zu kommen. Der Obergärtner schien dies irgendwie zu
spüren.
"Was wollen Sie von ihnen?"
fragte er mich plötzlich, "Schlaraffen geben keine Interviews."
"Was bedeutet es
eigentlich, Schlaraffe zu sein?" fragte ich zurück. "Ist es die
gelebte Philosophie eines perfekten Hedonismus oder ist es ganz einfach ein Schönreden,
Schönfärben oder nur ein Schöndenken?"
"Es ist weder das Eine noch
das Andere", antwortete mir der Obergärtner und deutete mit seinem Finger
gen Westen. Ich folgte seinem Fingerzeig mit meinen Augen.
Am westlichen Horizont hatten
sich dicke Honigwolken, schmutzig-gelbe Wolkenwaben, zusammengezogen. Der Obergärtner
blickte besorgt auf das dichte Gewölk, das sich in Gestalt und Farbe eines großen
Lebkuchenherzens dort formiert hatte.
"Wir müssen uns eine
Deckung suchen", sagte er, "bevor der Seim kommt."
Wir schafften es gerade noch bis
ins nächste Pfefferkuchenhaus, dann hatte die Front uns erreicht. Doch es war
gar kein Seim, der da hernieder klatschte, das war Leim, ganz gewöhnlicher Leim.
"Sollen hier denn alle
Besucher geleimt werden?" fragte ich enttäuscht.
"Keineswegs",
erwiderte der Obergärtner, "nur die Touristen, aber die werden ja überall
geleimt und sie wollen es nicht anders. Aber wenn ich Sie recht verstanden habe,
mein Herr, dann sind Sie nicht als Tourist, sondern als Forschungsreisender hier
im gesegneten Schlaraffenland."
"Ja", erklärte ich,
"so ist es."
"Nun", sagte der Obergärtner,
"dann verrate ich Ihnen jetzt das Geheimnis der Schlaraffen."
Voll gespannter Erwartung harrte ich seiner Erklärung.
"Es ist die völlige Bedürfnislosigkeit
in materieller Hinsicht, sowie eine völlige Unbedarftheit in geistiger
Hinsicht, was einen Schlaraffen ausmacht", erläuterte mir der Obergärtner
das Geheimnis der Schlaraffen.
Ich nickte verstehend, dann trat
ich unbedarft und frei von Bedürfnissen meine Heimreise an.
(Werner Fletcher)