Aus dem Roman "Zaungast und der Kosmokrator"
von Werner Fletcher
Stefan Staude, der Bürgermeister, döste in seinem rotblau gestreiften Liegestuhl in den Tag hinein. Sein Geist schwebte in jenem Dämmerzustand, der noch nicht Schlaf, aber schon nicht mehr Wachbewußtsein ist. Er vermochte das Schwirren, das durch den Äther an sein Ohr getragen wurde, nicht zu klassifizieren, keinem ihm bekannten und vertrauten Geräusch zuzuordnen. Er nahm es auch nur unterschwellig wahr, so wie ein Küstenbewohner das stete Rauschen der Meeresbrandung wahrnimmt. Dennoch registrierte er etwas an diesem Schwirren, etwas Eigenartiges, das es als nicht zugehörig zeichnete allgemein menschlichem Erfahrungsschatz; etwas, das sich als unbedingt fremdartig auswies. Es schwoll an, kam näher, und gipfelte in einem schwingenden Paroxysmus, einem Vibrato rülpsender Entsetzlichkeit, und ein Schatten flog über Herrn Staudes Augen und warf ominöse, aus dem Gegenspiel von Licht und Dunkel gezeugte Formen, auf die herabgesenkten Lider des im Halbschlaf Versunkenen.
Herr Staude schlug die Augen auf und blickte auf seine weiße Hemdbrust, wo tanzende Schatten ein seltsam zerfahrenes Ballett aufführten. Es waren die vom Wind bewegten Blätter des alten, knorrigen Apfelbaumes, unter dessen schattendes Laubdach sich der Bürgermeister zurückgezogen hatte. Der Duft von erst kürzlich gemähtem Rasen umschmeichelte gleich einem erquickenden Tau seine gestreßten Nerven, erfrischte und belebte. Stefan Staude war plötzlich hellwach, seine schlaftrunkenen Pupillen weiteten sich und rollten sich aufwärts, himmelwärts, von wo dieses eigenartige Geräusch zu kommen schien, bohrten sich durch das dichte Blattwerk in azurblaue Löcher, in die unendlichen Weiten des Alls; in das verheißungsvoll trügerische Blau eines Himmels, hinter welchem nichts als die schwarze Leere des Universums gähnt. Er entdeckte nur eine vereinzelte weiße Wolke dort oben, gleichsam schwerelos im tiefblauen Himmel segelnd.
Eine Stechmücke gaukelte summend vor seinen Augen auf und ab. Herr Staude pustete das Insekt zurück. Er haßte Mücken, Insekten überhaupt, auch Spinnen, aber besonders Stechmücken. Wenig später war das kleine Tier wieder da, er ließ es gewähren. Genau in der Mitte seiner weißen Hemdbrust landete die Mücke und saß dort unbeweglich, das hintere Beinpaar leicht nach rückwärts von sich gestreckt.
Herr Staude beobachtete aufmerksam den Stechapparat des Insekts. Er machte sich manchmal ein Vergnügen daraus, genau in dem Moment zuzuschlagen, in dem das blutsaugende Biest seinen Stachel in die Haut senkte, wo es an seinen Körper gefesselt war, und dem vernichtenden Handstreich nicht mehr schnell genug ausweichen konnte.
Die Mücke brachte ihre zu einer Röhre geformten Mundwerkzeuge in Stellung und stach durch das Hemd hindurch zu. Stefan Staude fühlte den kaum spürbaren Einstich, wollte den Arm zum Schlag heben ... und konnte es nicht. Er sah, wie sein Blut den Hinterleib der Mücke rötlich verfärbte und langsam aufblähte. Bis zum Zerplatzen schien das gierige Insekt sich vollzupumpen, und es sog weiter, und es wuchs.
"Genug", dachte Stefan Staude, wollte den Arm zum Schlag heben ... und konnte es wiederum nicht. Das Volumen der Mücke war auf mehr als das Doppelte angewachsen, und der unablässig zapfende Saugrüssel zog sich nicht aus der Haut zurück, stak bombenfest und pumpte, und pumpte ...
Das Grauen erreichte seine vorläufige Klimax.
Ein würmelnder, sinnaushöhlender Krebs des Verstandes fraß sich in Stefan Staudes Gehirn. Er delirierte im Todeswahn.
Die Mücke zog ihren Rüssel aus dem geschrumpften Körper, eine häßliche Wunde mit ausgefransten Rändern zurücklassend.
Der Blutsauger brachte seinen Saugrüssel aber erneut in Angriffsstellung, eine Sekunde lang schwebte er drohend über Herrn Staudes Kopf, dann bohrte er sich durch das linke Auge in das Gehirn und begann, abermals zu zapfen. Herr Staude fühlte keinen Schmerz dabei, das Gehirn war schnell ausgepumpt, Bürgermeister Staude fühlte überhaupt nichts mehr ...
"Stefan!" Es war Frau Staude, die da gerufen hatte. "Stefan, das Essen ist fertig. Kommst du?"
Staude rekelte sich in seinem Liegestuhl, er fühlte sich schlapp wie nach einer durchzechten Nacht. Er brauchte einige Sekunden, bevor er wieder bei klarem Verstand war. Er mußte geträumt haben, wußte aber nicht mehr um den Inhalt seines Traumes, wußte nur, daß es beileibe kein angenehmer Traum gewesen war. Der Bürgermeister erhob sich, schlurfte in seinen Pantoffeln über den Rasen zur Veranda, und betrat gähnend das Eßzimmer. Seine Frau löffelte bereits ihren Teller mit der Rindfleischsuppe aus, sie schaute kurz zu ihm auf, als er eintrat. Herr Staude setzte sich an den Mittagstisch, steckte sich eine Papierserviette in das offene Hemd, nahm sich den Salzstreuer, würzte die Suppe mit einer Prise Salz nach und begann zu essen, nachdem er die Blumenkohlröschen vorher herausgefischt, und seiner Frau auf den Teller gelegt hatte.
"Du siehst blaß aus", sagte Frau Staude beiläufig.
Er erwiderte nichts darauf, ließ den noch halbvollen Teller stehen und stand auf.
"Mir ist übel", sagte er. Die Papierserviette legte er zusammengeknüllt auf den Tisch. Frau Staude nahm sie mit zwei Fingern auf und bemerkte verwundert:
"Du blutest ja, da ist Blut an der Serviette, Stefan."
"Kann schon sein", murmelte er abwesend und trat auf die Veranda heraus.
"Möchtest du denn gar nichts mehr essen, Stefan?"
"Im Augenblick nicht, nein, mir ist speiübel. Ich geh noch ein bißchen an die Luft."
Verwirrt und ein wenig besorgt schaute Frau Staude ihrem Mann hinterher, wie er wankend die vier Stufen der Veranda hinabstelzte. Er machte es sich wieder bequem in seinem rotblau gestreiften Liegestuhl unter dem Apfelbaum und schloß die Augen. Obschon er ziemlich müde war, konnte er nicht einschlafen. Eine innere Unruhe hielt ihn wach, zwang ihn zu erhöhter Aufmerksamkeit. Und er hatte Angst, wußte nicht einmal wovor und warum, aber diese Angst, sie war da. Sie wurzelte irgendwo im Dunklen, Abseitigen, in dem verstandesmäßig nicht Zugänglichen. Gerade das machte sie so beunruhigend, so heimtückisch, so unkontrollierbar.
Herr Staude verbrachte den halben Nachmittag in seinem Garten. Die ganze Zeit über saß er unbeweglich in seinem Liegestuhl und schaute immer wieder nach oben, wie ein Brieftaubenzüchter, der die Rückkehr seiner Tauben von einem Wettflug erwartet. Aber Herr Staude hatte keine Tauben. Er konnte sich den Zwang, ständig nach oben zu schauen, selbst nicht erklären. Um vier Uhr nachmittags rief ihn seine Frau zum Kaffeetrinken.
"Stefan, der Kaffee ist fertig. Kommst du?"
Stefan Staude war überhaupt nicht nach Kaffeetrinken zumute, trotzdem erhob er sich aus seinem Gartenmöbel und begab sich mit müden Schritten ins Haus.
"Nun, wie geht es dir, Stefan?" fragte Frau Staude.
"Es geht", brummte er.
"Du machst dir Gedanken um die Situation in unserer Stadt, habe ich recht?" fragte sie.
"Ja", sagte er.
"Möchtest du Kaffee?"
"Ja."
Schweigend tranken sie ihren Kaffee, wie fast jeden Sonntagnachmittag, seit einem Vierteljahrhundert, seit sie verheiratet waren. Was sie sich zu sagen hatten, das hatten sie längst gesagt. Jetzt tauschten sie nur noch Blicke aus, und auch das nur sporadisch. Herr Staude nahm ein Stück von dem selbstgebackenen Kuchen und mümmelte lustlos vor sich hin. Seine Frau beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Ihr fiel nichts Besonderes an ihm auf. Sie tat es auch nicht in einer bestimmten Absicht; nicht, um ihn bei etwas zu ertappen; nicht, um seine Gedanken zu erforschen, sie tat es rein mechanisch. Es war eine Gewohnheit von Frau Staude, automatisiert und unbewußt, ihren Mann aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten.
Herr Staude rieb sich mit dem Finger das linke Auge.
"Ich muß wohl zu lange in die Sonne geschaut haben", sagte er. "Mein Auge tränt."
"Aber du hast gar nicht in die Sonne geschaut, Stefan, du hast die ganze Zeit über im Schatten gesessen."
"Es ist wahr, Marianne, du hast recht", meinte Herr Staude.
Am Abend ging Herr Staude ungewohnt früh zu Bett.
Herr Staude trat vor den großen Wandspiegel des Badezimmers, zog sein weißes Oberhemd aus und bemerkte eine leichte, rote Schwellung auf seiner Brust, links neben dem Brustbein. Ein ganz gewöhnlicher Mückenstich, sagte er sich. Der Einstich war noch gut zu erkennen, und er war an den Rändern komisch ausgefranst, so wie ein Mondkrater. Stefan Staude dachte sich nichts dabei. Er stellte sich unter die Dusche und merkte, daß irgend etwas nicht paßte, putzte dann seine Zähne und betrat das Schlafzimmer.
Während der Nacht wurde er mehrmals von starken Rückenschmerzen aus dem Schlaf gerissen. Und auch am nächsten Morgen wachte er mit schmerzendem Rücken auf, dazu gesellte sich ein unangenehmes Brennen auf der Brust, da, wo die Wunde, und zu einer solchen war der Stich über Nacht ausgewachsen, in dunklem Rot prangte. Die Wunde hatte sich entzündet. Herr Staude schmierte eine antiseptische Salbe darauf. Daß das Bett seiner Frau unberührt geblieben war, wunderte ihn nicht sonderlich, wahrscheinlich war sie vor dem Fernseher eingeschlafen, und es wäre auch nicht das erste Mal gewesen ...
Bürgermeister Staude trat in seinen zerlumpt-zerrissenen Kleidern auf die Treppenstufen, um ins Eßzimmer hinunter zu gehen. Das Gehen bereitete ihm Schwierigkeiten, er wollte sich am Treppengeländer festhalten und mußte sich bücken, um das Geländer mit seinen Händen zu erreichen. Von unten hörte er das Klappern von Besteck auf Tellern und Untertassen. Seine Frau deckte gerade den Frühstückstisch.
Herr Staude krümmte sich unter Schmerzen, um durch die Tür ins Eßzimmer zu gelangen; Frau Staude saß am Tisch und kehrte ihm den Rücken zu. Ohne sich umzublicken fragte sie:
"Hast du gut geschlafen, Stefan?"
"Ach schweig!" antwortete er. "Ich habe eben mit General von Knobelsdorff telefoniert und ... tapp, tapp ... vierhundertundneun, er hat mir Dinge über dich erzählt, Weib, die mir die Stirn kraus ziehen. Strick und Galgen! Der Mann mit dem Koffer, sag, in welchem geheimen Winkel hast du ihn versteckt? Sag es mir schon, Schmeißfliege, oder muß ich erst die Klatsche holen? Ich schlag dich noch tot, Biest!"
Bei diesen, vom Wahnsinn diktierten Worten, lief Frau Staude ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie drehte den Kopf ganz langsam nach hinten, wie in Zeitlupe, so als sträube sich etwas in ihr, dem Schrecklichen in die Augen zu sehen. Sie sah ihren Ehemann vor sich stehen, ihre Lippen öffneten sich, sie versuchte, nur ein einziges kleines Wort hervorzubringen, doch dieses eine Wort verformte und dehnte sich in einem erschütternden Schreikrampf zu einem langgezogenen, nervenaufpeitschenden Vokal und verhallte dann im bodenlosen Abgrund unausgeloteten Grauens.