s. t.
Zwischen Nichts und Nichts.
Die Hineingehaltenheit meines Seins in das
Nichts sehe ich vor mir, ich sehe mich in der Schwärze der Nacht,
ich
bin weiß und leuchte in die Nacht beim Öffnen der
Raumtür, ich
weiß nicht, tu ich das selber oder geschieht es mir, Hülle,
Gefäß, durch
das Baupläne hindurchfließen, die sich in unendlichen
Variationen bilden, in unendlichen Zeiten, wo das Sein,
ich habe keine Ahnung, was das ist, unmerklich verrutscht, ich bin
vorübergehendes Resultat der Ursachen, die im Verwerfungsgeschiebe
herausspringen, so
ein Schub des Seins ist das, was mich bewirkt, Zerbröselung
größerer Einheiten, Teilung und Aberteilung, fein gemahlen
zwischen Materie und
Antimaterie, klar, das merke ich nicht gleich, aber ich fülle mein
Bewusstsein
mit Welt, ich spüre mich immer genauer, reibe mich im Wind der
Strukturen –
erlebe das Hineinhalten meines Daseins in das Nichts, ich fühle
es, es
stimmt, ich bin, und was habe ich denn sonst?, ich steh hineingehalten
ins Nichts,
fühle mich hingehalten, bis sich die Seiten verkehren, werde zum
Nichts und um mich herum der Grund meiner Angst, der immer stabiler
wird, mein Nest, meine Heimat, die ich nicht suchte, die mir geschenkt
wird ohne mein Zutun,
ganz einfach so, und wenn ich mich, so hineingehalten ins sich
umstülpende Nichts, verwandle, dann – ich frage Sie, wenn
Sie mich dann noch
hören: Ist das wirklich die Transzendenz? Meine ganz eigene, nur
mir gehörende
Transzendenz, wenn ich mich selbst bestiegen habe ein Leben lang, bis
ich oben angekommen
bin bei mir und auf meinen Schultern stehe und in die Spalten des
Nichts
greife, ohne Seil und Netz, und bald über mir stehe und auf mich
herabsehe,
ist das meine Transzendenz?
Und wie ich mich so über mir entferne,
weiß ich
schon gar nicht mehr, wo ich bin, sehe ich zu mir hinauf, oder sehe ich
von oben auf mich herab, wie
ich da unten stehe, so hell ins Schwarze hineingehalten, aber woher
kommen die Farben, das Licht. Ich stehe über mir und müsste
doch
fliegen oder wenigstens schweben, so ohne Halt im Hineingehaltensein
über dem Grund
meiner verborgenen Angst, ich kann fallen, stürzen, meine
Fallhöhe wächst, je mehr ich mich von mir entferne, egal, ob
ich mich von unten oder von oben sehe.
Denn unter mir und über mir ist ja der riesige nach allen Seiten
geöffnete Grund der Angst, der sich mir öffnet, mit dem ich
fertig werden,
über den ich gehen lernen muss, den ich mir einverleiben will, den
ich wieder aus mir heraus
werfe wie ein selbst geknüpftes Netz, in das ich aber falle, wenn
ich jetzt
einfach gehe, ich darf ja nicht gleich rennen und springen. Was sagen
Sie da? Ich soll wieder
zurück? Ich habe mich vor dem Danach verlassen, um meinen Grund zu
finden, nun
bin ich nach dem Davor angekommen. Ich habe das Seiende im Ganzen
überstiegen,
da gibt es kein Zurück mehr. Ich rede nicht vom Tod. Noch
nicht. Ich sehe mir zu bei meinen Geburten.
In die Tastatur stoße ich meine Stirn und schreibe die Lieder, in denen ich wohne, unter meinen Fingern stirbt der Tod.
Kein Tod ist stärker als meine Stadt, die ich baue. Wenn er durch die Ritzen meiner Tore dringt, werfe ich ihn raus mitsamt dem Müll meiner Angst.
Die schwarzen Kühe der Nacht. Als ich ein Kind war, da sangen
und sprangen wir in die mit Kreide auf blauen Asphalt gemalten Kästchen
zwischen Himmel und Hölle: Kaiser König Edelmann –
Bürger Bauer Bettelmann ... Hein der Schnitter – Feiner Flitter – Rein und bitter – Kleiner Splitter
– Allein ich zitter – Vor Pein und Gewitter – Hein du Schnitter... Ellerli Sellerli Sigerli Sa
– Ribedi Rabedi Knoll ... Rote Kirschen ess ich gern – Schwarze noch viel lieber
– Auf den Friedhof geh ich gern – Alle Tage wieder – Hier wird Platz
gemacht – Für die jungen Damen – Saß ein Kuckuck auf dem Dach – Hat der Regen nass
gemacht ... Wir haben einen Tod – Der singt so lieblich – Singt sogar
– Wie ein Star – Hat gesungen sieben mal sieben Jahr ...
Wir wussten nicht, was wir da sangen. Die Worte waren nur ein Spiel,
alles war Spiel, Streit und Wiedervertragen, Schmusen und Beten im Bett, auch
Traurigsein war ein Spiel, wenn wir es ausdehnten bis zum Genuss, dass wir traurig
wurden, wenn wir nicht mehr traurig sein konnten. Die Zeit stand still. Der Tag
war Ewigkeit. Ungefärbt war mein Gemüt. Als wir
älter wurden, da starben wir zum ersten Mal, und es war uns nur halb bewusst, wie sie den Himmel vor
unseren Augen wegzogen.
Ach, dein schweres Herz (so voller Angst) kann keiner wiegen. Wär’ leer dein Herz (um das du bangst), könntest du fliegen.
Ich aber sage mir: Eene meene Mu – Und raus bist du – Raus bist du noch lange nicht – Sag mir erst, wie alt du bist...
Wenn ich ihn morgen in der Stadt sehe, rufe ich ihm zu: Guten Tag, Herr Geheimrat, Sie sind dran! Und dann fallen ein paar Lichtstrahlen vom Himmel durch die Luft und malen dem Tod ein paar Knochen zum Fraß auf den großen Platz vor der Universität. Aber das ist nur so eine Idee.
Es gibt viele Tote, aber wenige Auferstehungen.
Ich beobachte meinen Schatten und stelle mir vor, wie ich zu ihm sage: Du störst mich. – Er antwortet: Du störst mich noch viel mehr. Ich bin dein Gefangener. Gib mich frei. – Wie soll das geschehen, frage ich ihn. – Er sagt, friss mich auf. – Davon werde ich nicht satt, sage ich, da kann ich dich auch leben lassen.
Der Wahnsinn schlummert in jedem von uns, er tritt hervor, wenn Geist und Gemüt ohne den sanften Einfluss der Seele sind. Dann bricht das Dunkle hervor zum schreckenden Zeichen, und der Mensch, an dem er sich Bahn bricht, ist ihm ausgeliefert. Unter der zerbrechlichen Oberfläche verständigen Denkens und Wollens ruhen dunkle Kräfte, die durch heftigen Schmerz oder ähnlich erschütternde Emotionen angestoßen werden. Lebendiger Verstand ist nichts anderes als geregelter Wahnsinn.
Mein Schatten lässt mich nicht los. Er starrt mich an, ich
fühle es. Du bist mir ein zu dunkler Spiegel, sage ich, du störst mich schon wieder.
– Ich weiß, sagt er, wenn du stirbst, bist du mich los. – Den Gefallen tu ich dir
nicht, sage ich. – Trennen wir uns, sagt mein Schatten, du wirst mir schon nicht fehlen.
– Es ist grotesk, sage ich, aber wenn ich stürbe, würdest du
mir fehlen.
Ich träume nur von Schatten. „Wer ist der dunkle
Schatten?“, frage ich mich. „Ich weiß nicht“, antworte ich mir,
„vielleicht ein Lichtgespenst.“ „Ich sah
ihm in die Augen!“, sage ich. „Das bedeutet nichts.“
„Ich spüre ihn“, sage ich, „auch
wenn ich keine Angst habe.“ „Vielleicht ist es der
Schatten selbst; wenn er sich begreift, leuchtet er“, sage ich mir. „Nein“, sage
ich. Wir sehen uns an und schweigen. Ich schließe die Augen.
„Schschsch…!“ „Du spielst mit
mir!“ „Schschsch … ich hab’s. Es ist der Schiedsrichter deiner Lebensspiele“, sage ich,
„der mehräugige Zeuge, der immer da ist.“ „Was soll das sein?“
„Du musst dich selber lesen“, sage ich mir. „Gut“, sage ich und schließe die
Augen, „ich will die Zunge entschlüsseln.“ „Die Zunge?“ „Ja“, sage ich,
„alle Bilder haben Zungen.“
Ahnung. Ich gehe durch meinen Schlaf wie durch eine Wohnung, die mir
bekannt und unbekannt zugleich vorkommt – links vor mir im Gegenlicht
Grandmère, da steht sie im Türrahmen, hinter ihr die alten Möbel,
ein Fenster. Ich sehe deutlich ihr Gesicht, die guten Augen schauen mich an, ihr kleiner
Körper beugt sich leicht vor. Wir gehen ins andere Licht. In eine andere Zeit? In einen
anderen Raum. Grandmère Louise geht zur Chaiselongue im helleren
Zimmer, legt sich hin, deckt sich zu und sagt: Ich bin müde. Ich lege mich zu
dir, sage ich, dann sterben wir zusammen.
(Ulrich Bergmann)